Kein gastronomisches Konzept – nicht mal Burger-Läden – hatte in den vergangenen Jahren so großen Erfolg wie die Shishabar. 6000 Shishbars, schätzt das Statistische Bundesamt, gibt es in Deutschland. Selbst wenn man alle McDonalds- und Burger King-Filialen sowie die Kinos im Land zusammenpackt, kommt man nicht auf eine solche Zahl.
Ein Interview des Komikers Faisal Kawusi mit NRW-Innenminister Herbert Reul für den Sender WDR Cosmo. Kawusi spricht mit Reul über die regelmäßigen Razzien in Shishabars, die der Innenminister seit einigen Jahren propagiert.
Faisal Kawusi: „Willkommen zu ‚COSMO Kontrollverlust‘. Hier geht es sehr, sehr brisant weiter und nicht mit irgendwem, sondern mit dem Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zum Thema Clankriminalität. Ich freue mich sehr, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.“
Herbert Reul: „Die Idee ist eigentlich, über viele kleine Maßnahmen Beiträge zu leisten, nach dem Motto: Hier bei uns gelten die Regeln des Staates. Die Gesetze, die muss man befolgen. Wenn man sie verletzt, kriegt man ein Problem, und das können große und kleine Sachen sein. Und das sind eigentlich diese tausend Nadelstiche. Das ist aber nur ein Teil des Projekts.“
Kawusi: „Aber es sind ja wirklich Nadelstiche, weil wenn man sich die öffentlichen polizeilichen Berichte durchliest, dann sind das ja wirklich Kleinigkeiten von nicht verzolltem Tabak über Hygienemaßnahmen, die nicht eingehalten werden. Es ist ja nicht das, was den Leuten wehtut. Aber da stelle ich mir natürlich auch die Frage: Da wurden ja viele Shishabars untersucht. Wer hat sich das überlegt? Also, Herr Reul, ich sage Ihnen das als jemand, der gerne mal Shishabars besucht und auch heute genau dort hingeht. Wer hat sich überlegt: Der böse Ausländer, der ist doch bestimmt in der Shishabar.“
Reul: „Erstens stimmt das mit den bösen Ausländern nicht und zweitens stimmt auch die Analogie nicht. Da sind auch andere Leute und es gibt gute und schlechte: Das ist schon mal der erste Fakt.“
Kawusi: „Aber ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass, wenn Sie jetzt auf der Suche nach kranken Kleinkriminellen sind oder Mitglieder von diesen Clans, dann finden Sie in den Kölner Luxus-Restaurants sehr viel mehr von ihnen als jetzt die kleinen Fische in der Shishabar.“
Reul: „Ja, aber langsam. Die kleinen Regeln müssen auch eingehalten werden. Das zweite ist ja die große Struktur, das machen wir ja auch. Aber das kriegen sie nicht mit Durchsuchungen hin, sondern da müssen Sie ganz lange Untersuchungen machen.“
Kawusi: „Herr Reul, ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Aber eine letzte Frage habe ich noch: Traube-Minze oder Doppel-Apfel?“
Reul: „Keine Ahnung. Kann ich nix mit anfangen.“
Kawusi: „Herr Reul, ich glaube, wenn der Lockdown vorbei ist, gehen wir beide erst mal eine Shisha rauchen. Ich danke ihnen für ihre Zeit und wünsche Ihnen einen schönen Tag.“
Für junge Menschen mit Migrationserfahrung ist die Shishabar ein Safe Space. Für Politik und Justiz ist sie Teil krimineller Welten. Herbert Reul, der eben gehörte Innenminister in NRW, zum Beispiel nennt Shishabars "den Boden der Clan-Kriminalität". Deswegen finden ständig Razzien in den Bars statt. Doch wie gerechtfertigt und sinnvoll sind diese Razzien? Welchen Erfolg haben sie? Und welchen gesellschaftlichen Preis?
"Boden der Clan-Kriminalität": Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen über die Shishabars.© picture alliance / dpa / Federico Gambarini
Ein Dezembertag auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Bäckereien, Imbisse, Kioske reihen sich aneinander. Dazwischen: Shishabars, in denen Männer und Frauen sitzen und an den Schläuchen ihrer Shisha ziehen, den Rauch ausblasen, auf ihr Handy schauen. Einer der Gäste ist hier auch häufiger: Mohammed Chahrour, 27 Jahre alt, Referent bei einer Menschenrechtsorganisation und Student der Sozialwissenschaften im Master.
„Das erste Mal habe ich geraucht, da war ich 13. Und dann habe ich auch heftigst Ärger bekommen von meinen Eltern, als sie das erfahren haben“, erzählt er. Als junger Erwachsener besucht Chahrour dann immer wieder Shishabars.
Alternative zu Clubs und Diskotheken
Zu der Zeit arbeitet er selbst als Türsteher, für ihn ist es kein Problem, in die Diskotheken und Clubs Berlins rein zu kommen. Für viele seiner Freunde schon.
Ich kenne das von vielen Freunden und Bekannten, die nicht biodeutsch sind, dass die da Probleme hatten. Da hat man sich dann auch irgendwann gedacht: Okay, man gibt sich die Blöße nicht, und man tut sich das nicht an und steht da in der Kälte ein, zwei Stunden, um nur wieder zu hören, dass man nicht reinkommt.
Mohammed Chahrour
Die Alternative zu Clubs und Diskotheken: die Shishabars, die sich in diesen Jahren in vielen deutschen Städten verbreiten.
„Shishabars sind ja aus meiner Sicht eher ein Phänomen der letzten zehn, 15 Jahre“, sagt Achim Schmitz. „Auch eine Jugendkultur, da hat sich ganz viel getan. Die haben sich als Treffpunkte etabliert, auch als Kommunikationsmittelpunkt. Insofern sind sie aber natürlich auch Anziehungspunkt für Kriminelle und Angehörige, die sich eben auch in den Bars treffen.“
Achim Schmitz ist leitender Kriminaldirektor beim Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen. Immer wieder, sagt er, landen Shishabars auf seinem Schreibtisch. Allein im vergangenen Jahr hat die Polizei in Nordrhein-Westfalen 202 Shishabars im Zusammenhang mit Clan-Kriminalität kontrolliert. Zum Vergleich: Spielhallen waren es nur acht.
„Haltet euch bitte auch an unsere Regeln“
„Ist es also auf der einen Seite ein polizeilicher Beobachtungsraum, in dem wir für uns relevante Tatverdächtige, polizeilich in Erscheinung getreten, und Personen beobachten und feststellen können, und damit auch ein Verdachtsgewinnungsraum? Das kann man, glaube ich, ganz klar so sagen“, meint Achim Schitz.
„Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch der Ansatzpunkt für den 360-Grad-Ansatz, um zu sagen: Leute, wenn ihr euch hier in unserer Gesellschaft, in unserer Mitte mit eurem Geschäftsbetrieb etablieren wollt, dann haltet euch bitte auch an unsere Regeln.“
Nach seinem Amtsantritt 2017 hatte NRW-Innenminister Herbert Reul den Kampf gegen oft arabischstämmige Clans zu einem zentralen Anliegen erklärt.
In der Bild-Zeitung sagte er zum Beispiel: „Bei uns in Deutschland gilt nicht das Gesetz der Familie. Wir müssen den kriminellen Clans zeigen, dass die Straßen nicht denen gehören, sondern dass wir ihnen das Leben schwer machen. Sie sollen merken: Wir lassen sie einfach nicht in Ruhe.“
Wenn Sie sich zurückerinnern, hatten wir eine Situation in Nordrhein-Westfalen, in der insbesondere eben diese Personengruppen immer häufiger im öffentlichen Raum störend, teilweise verstörend in Erscheinung traten. Wir hatten es zu tun mit großen Tumultlagen, wir hatten es zu tun mit erheblichen Widerständen gegen eingesetzte Polizeikräfte.
Wir hatten auch eine empfindliche Störung des Sicherheitsgefühls der Bürger in diesen Regionen, in denen diese Clan-Angehörigen, diese kriminellen Angehörigen verstärkt auftraten. Dem musste einfach entgegengetreten werden.
Achim Schmitz
„Das ist ein ganz normales Café“
So beginnen die Razzien in NRW. Ähnlich ist es in Berlin-Neukölln. Auch dort wollen Politik und Polizei ein klares Zeichen gegen Clans setzen. Mohammed Chahrour erinnert sich:
„2017, 2018 ist mir das immer mehr aufgestoßen, dass das immer in den Medien kam und immer wieder von den Clans gesprochen wurde. Das war so ein Gefühl: Hier ist es gerade voll gefährlich, was da gerade passiert. Man denkt sich: Das Café kenne ich doch, das ist doch ... Also, ich weiß nicht, ob da jeder gerne abends sitzt, muss man auch nicht. Aber das ist ein ganz normales Café. Da spielen die Leute gerade die ganzen Abend Karten und rauchen sich, rauchen sich die Birne zu – auf gut Deutsch.“
Seit einigen Jahren führen Ordnungsamt, Zoll und Polizei in Shishabars in Neukölln nun regelmäßig Razzien durch. Sie kontrollieren Gäste, suchen nach Waffen, unverzolltem Tabak, Bargeld. Von Ende Juni 2020 bis Dezember 2021 gab es, das geht auf eine Anfrage der Linken hervor, in Neukölln 34 sogenannte “Schwerpunkteinsätze mit Bezug zur Bekämpfung der Clankriminalität”. In ganz Berlin waren es 250 Einsätze.
Oft sind bei den Razzien Journalisten und Pressefotografen dabei. So auch bei einer Razzia im November 2021, von der “bild.de” groß berichtete. Auf den Fotos des Artikels zu sehen: Polizisten, die Shishabar-Gäste abtasten, Polizisten, die die Hand am Griff eines Maschinengewehrs halten.
Die Politik der tausend Nadelstiche
Zwischen den Polizisten steht ein Zwei-Meter-großer Mann im blauen Mantel. Das ist Martin Hikel, der Bezirksbürgermeister von Neukölln.
„Für mich ist es immer wichtig, weil ich mir natürlich selber auch ein Bild machen möchte, was die Kolleginnen und Kollegen dort vor Ort machen und dann tatsächlich, wie die Kolleginnen und Kollegen mit den Bürgerinnen und Bürgern umgehen, wie die Bürgerinnen und Bürger reagieren“, sagt er.
„Es ist auch ein Stück weit mehr Wertschätzung dafür, dass die Sicherheits- und Ordnungsbehörden hier auch ressortübergreifend in Zuständigkeiten denken und zusammenarbeiten, wenn man vom gemeinsamen Willen getragen ist, hier eine sichere Stadt herzustellen.“
Hält die Razzien in Shishabars für gerechtfertigt: Martin Hikel Bezirksbürgermeister von Neukölln.© picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Eine sichere Stadt herstellen: Das ist eines der zentralen Ziele des SPD-Politikers Hikel. Vor allem die Clans, die sich laut Hikel besonders hier in Berlin-Neukölln finden lassen, hat er dabei ins Auge gefasst - mit der Politik der tausend Nadelstiche.
Politik der tausend Nadelstiche bedeutet in dem Fall, dass tatsächlich dort sehr niedrigschwellig auch Ordnungswidrigkeiten und kleine Straftaten geahndet und verfolgt werden, um deutlich zu machen, dass der öffentliche Raum allen gehört und dass es eben keine Räume gibt, die vermeintlich nur Kriminellen zugänglich sind oder wo der Staat nicht das Sagen hat, sondern dass der Staat und die Stärke des Rechts an allen Stellen in dieser Stadt gleichermaßen gilt.
Martin Hikel
Die Clan-Mitglieder, meint Hikel, würden ihre Missachtung des Staates zum Beispiel dadurch zeigen, dass sie ihre teuren Autos in zweiter Reihe parken. Oder damit, dass sie sich in Shishabars breitmachen.
„In dem Rahmen haben tatsächlich in den letzten zehn bis fünf Jahren Shishabars eine Rolle gespielt, einfach als Treffpunkte von Menschen aus dem Milieu, um sich zu verabreden oder um sich auszutauschen als Homebase“, sagt er. „Dementsprechend gab es eine gewisse Assoziierung mit diesem Gewerbe in den letzten fünf Jahren.“
Deswegen, meint Hikel, seien die Razzien in Shishabars gerechtfertigt.
Razzien nicht nur in Berlin-Neukölln
Inzwischen werden nicht mehr nur in Neukölln Shishabars häufig mit Razzien durchsucht. Die Politik der tausend Nadelstiche findet sich in vielen anderen Großstädten, im Ruhrgebiet – oder auch in Goch, einer Stadt mit 35.000 Einwohnern am Niederrhein, ganz im Westen des Landes.
Hier hat Emin seine Bar. „Dann haben wir hier unser VIP-Bereich und Servicebereich direkt zu den Toiletten. Hier ist unser Garten“, erklärt er. Emin trägt einen sommerhimmelblauen Versace-Pullover, Glatze und Vollbart. Auf einem seiner Finger hat er die Zahl “7” tätowiert. Das sei seine Glückszahl, sagt er, er sei am siebten Februar als siebtes von zehn Kindern geboren. Auch seine Bar heißt „Se7en“.
Während er durch die Shishabar führt, läuft sein Hund, ein weißer Boxer, neben ihm her. „Das ist ein Spieltisch. Und Fun44 ist auch eine sehr berühmte Firma, die in allen Bars jetzt vertreten ist. Da sind über 200, 300 Spiele drauf, da können die Kunden sich auch hinsetzen und sich dann unterhalten. Das ist kein Spielautomat wie da vorne.“
„Die Kunden sollen diesen Wow-Effekt haben“
Um den digitalen Spieltisch herum stehen schwere, schwarze Ledersofas. Der Boden ist ebenfalls schwarz, die Wände auch, mit goldenen Applikationen. Von den Decken hängen große Bildschirme, neben der Bar stehen zwei Spielautomaten. „Die Kunden sollen immer diesen Wow-Effekt haben: Wow, schöne Bar, hier kann man sich wohlfühlen, das ist wirklich das A und O. Design macht auch sehr, sehr viel aus“, erklärt er.
2014 hat Emin die erste Shishabar in Goch und Umgebung eröffnet. Sie wurde zum Erfolg, einige Jahre später zog er in eine größere Bar um. Er machte im März 2020 auf, das erste Jahr war wegen der Pandemie eine Katastrophe. Erst jetzt geht es langsam aufwärts.
Sonst ist in Goch, das umgeben von Feldern direkt an der niederländischen Grenze liegt, nicht viel los. „Das ist ein Zombie-Land. Ehrlich es ist tot“, sagt er. Emins Bar liegt im Zentrum der Stadt, gleich gegenüber der Kirche. Sie ist ein wichtiger Treffpunkt geworden. „Ich habe schon so meine realistisch 20, 25 Stammgäste, die auch fast tagtäglich hier sind. Es ist jetzt wie eine Familie. Wir sitzen alle an einem Tisch“, erzählt er.
Emin lässt sich in eines der schwarzen Ledersofas fallen, entdeckt ein Loch, hineingebrannt von einem der Kohlestücke, die es braucht, um eine Shisha anzuzünden. Er schüttelt unzufrieden den Kopf, Emin ist wichtig, dass alles top ist – auch in der Zusammenarbeit mit dem Chef des örtlichen Ordnungsamts.
Bereits zwei Mal vom Ordnungsamt kontrolliert
„Er sagt mir zum Beispiel: ‚Ihr müsst jetzt hier den Melder anbringen!‘ Mache ich. Wenn er sagt: ‚Eure Lüftungsanlage muss vom TÜV überprüft werden, wir brauchen eine Bescheinigung dafür.‘ Dann rufe ich den Typen vom TÜV an.“ Trotzdem ist Emin seit der Eröffnung seines neuen Ladens im März 2020 schon zwei Mal von Polizei, Ordnungsamt und Zoll kontrolliert worden.
Man wird einfach über einen Kamm geschert. Also wenn die sagen, da ist jetzt ein Schwarzkopf, der andere Schwarzkopf ist genauso. Man sollte nicht alle über einen Kamm scheren. Ich sage jetzt auch nicht: Du bist jetzt ein Deutscher, du bist jetzt Nazi, verstehst, was ich meine?
Emin
Mohammed Chahrour aus Neukölln sieht das ähnlich. „Es gibt keine Kollektivschuld in unserem Staat und unserem System. Aber das passiert dann da relativ schnell. In einem Wisch wird dann von Clans gesprochen, von den Shishabars als kriminellen Orten“, kritisiert er. „Auf einmal sind all jene, die dort sitzen, unter diesem Generalverdacht, dass sie mindestens Beihilfe zu Verbrechen leisten, ohne dass das irgendwie bewiesen oder ermittelt wurde.“
Er hält die Razzien in Shishabars für diskriminierend. „Ich glaube, das hat viel auch damit zu tun, wer da ein und aus geht und was das für eine Gruppe von Menschen ist. In Berlin kann man sich ja in einem Club relativ sicher eigentlich einen Joint rauchen. Also dieser Joint in einem Shishacafé irgendwo in der Sonnenallee, das wäre dann schon wieder ein Großeinsatz“, meint er.
Wenn man diesen Joint dann ausfindig machen würde, würde das dann auch irgendwo vermerkt werden. Dann würde man so ein kleines Tütchen fotografieren und der Presse präsentieren als den großen Schlag gegen die Organisierte Kriminalität. Ich glaube, es geht gar nicht darum, was getan wird, sondern wer tut es, und das ist so ein bisschen die Problematik. Dort ist das Klientel halt nahöstlicher. Das sind oft auch junge, arabischstämmige, türkischstämmige, kurdischstämmige Männer.
Mohammed Chahrour
Sind die Razzien verhältnismäßig?
Mittlerweile finden sich Razzien in Shishabars in den City-Safe-Konzepten vieler deutscher Städte – vor allem, um das angebliche fragile subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu stärken. Doch ist es überhaupt verhältnismäßig, ständig Dutzende Shishabars zu kontrollieren?
Polizisten sichern in Bochum während einer Razzia von Zoll und Polizei eine Shishabar: Die Ergebnisse seien "sehr bescheiden", meint Thomas Feltes.© picture alliance / dpa / Bernd Thissen
„Das kann man immer am besten danach beurteilen, was am Ende rauskommt. Hier gibt es für verschiedene Städte, für Berlin, aber auch für Nordrhein-Westfalen inzwischen aufgrund von verschiedenen parlamentarischen Anfragen eben auch Aussagen der Polizei, was dann tatsächlich die Ergebnisse waren“, sagt der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes. „Die sehen doch sehr bescheiden aus – für den Aufwand, der dort getrieben wird.
Da werden tatsächlich dann mal ein paar Kilogramm nicht verzollter Tabak festgestellt. Da gibt es andere Verstöße, möglicherweise gegen gewerberechtliche Vorschriften. Hier und da wird tatsächlich auch mal jemand gefunden, der mit Haftbefehl gesucht wird. Aber den finden Sie bei üblichen Verkehrskontrollen auch.
Das heißt, das Ganze ist inszeniert, ist symbolische Politik, die dafür sorgen soll, dass die jeweiligen Innenminister ihre harte, ihre konsequente Seite zeigen können.
Thomas Feltes
Nach vielen der Razzien gibt die Polizei Pressemitteilungen heraus, in der sie die Ergebnisse vermeldet. Was sie bei den Razzien häufig findet: Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, das Infektionsschutzgesetz, den Jugend- oder Gesundheitsschutz. Hin und wieder auch Drogen, große Funde sind jedoch selten.
Manchmal werden Waffen konfisziert, Messer zum Beispiel, häufiger gibt es manipulierte Spielautomaten oder Funde von unverzolltem Shishatabak. Ziemlich wenig für den großen Personaleinsatz, meint Feltes, den es für die Einsätze braucht.
Achim Schmitz, leitender Direktor beim LKA in NRW, entgegnet: „Da steckt ein massiver Ressourceneinsatz dahinter, das stimmt. Aber das ist ja auch ein wirklicher kriminalpolitischer und polizeilicher Schwerpunkt.“
Die Chance zur Prävention ist ein Argument
Bei der Clankriminalität, sagt Schmitz, sei es so, dass ein Großteil der Straftaten durch einige wenige, junge Männer begangen wird. Die Razzien seien da eine Chance zur Prävention.
Je früher staatliche Intervention einsetzt, desto eher besteht die Möglichkeit, bei einer noch nicht verfestigten kriminellen Karriere deutlich zu machen, dass das nicht der richtige Weg ist. Dass wir hier Regeln haben, an die man sich zu halten hat, dass wir auch keine Paralleljustiz dulden. Natürlich bietet das die Möglichkeit zu einer Verhaltensänderung. Jeder, der durch eine frühe Intervention dazu gebracht wird, eine solche Konfrontation künftig zu vermeiden, ist sicherlich ein Gewinn, keine Frage.
Achim Schmitz
Zudem würden die Erkenntnisse aus den Razzien in Ermittlungsverfahren fließen. Das bestätigt auch Sebastian Fiedler, ehemaliger Vorsitzender des Bunds Deutscher Kriminalbeamter.
„Ziel einer Razzia ist es natürlich auch, Erkenntnisse zu gewinnen. Die stehen zunächst einmal überhaupt gar nicht in der Zeitung“, erklärt er. „Das heißt, Bewertungsmaßstab kann da an der Stelle die Presse schlicht und ergreifend nicht sein, sondern es kann durchaus sein, dass aus Razzien Erkenntnisse gewonnen werden. Zum Beispiel: Wer hält sich mit wem da jetzt auf? Ich rede jetzt natürlich über Kriminelle.“
Dass Clans in Shishabars kriminelle Absprachen treffen, lässt sich jedoch kaum belegen – wie auch aus einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken in Berlin hervorgeht.
„Gab es konkrete Hinweise darauf, dass in den kontrollierten Örtlichkeiten Aktivitäten stattfinden oder Beweismaterial anzufinden sein könnte, welche in direkter Verbindung zu Organisierter Kriminalität stehen? Bitte einzeln aufführen.
Die Polizei Berlin wurde in Amtshilfe für die weiteren beteiligten Behörden sowie in eigener Zuständigkeit gemäß ASOG Berlin tätig. Ein konkreter Hinweis zu Aktivitäten oder Beweismaterial mit direkter Verbindung zur Organisierten Kriminalität lag nicht vor. Es handelte sich nicht um strafprozessuale Maßnahmen, insoweit sollten diese nicht dem Auffinden von Beweismitteln dienen.“
Also: Bei den ungefähr 30 Razzien, auf die sich diese Anfrage bezieht, gab es keine, bei dem die Ermittler vorher Hinweise auf Verbindungen zur Organisierten Kriminalität, zu Clans hatten.
Ein anderes Argument, das Schmitz, Hikel und auch Fiedler nennen: Es gehe bei den Razzien um das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger.
„Dort fühlt sich niemand unsicher“
Thomas Feltes, Kriminologe an der Ruhr-Universität Bochum, ist da skeptisch. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger, wenn man sie fragt, was denn ihre Probleme in der Stadt sind, nicht die Shishabar nennen würden. Ich kann das sogar empirisch belegen, weil wir tatsächlich in Bochum vor einiger Zeit die Bürgerinnen und Bürger dort gefragt haben nach ihrem Sicherheitsgefühl“, sagt er.
Und weiter: „Das Sicherheitsgefühl wird da immer noch ganz wesentlich von den Problemen, die sich um den Straßenverkehr bewegen, geprägt. Auch in der eigenen Nachbarschaft und gerade dort, wo diese Durchsuchungen und Razzien gemacht werden, nämlich in den Vergnügungsvierteln, gibt es im Grunde genommen überhaupt keinen Grund, das entsprechend zu legitimieren. Dort fühlt sich niemand unsicher, weil dann würde er auch dort nicht hingehen. Die jungen Menschen, die sich dort bewegen, die können das sehr wohl einschätzen.“
Für Thomas Feltes sind die Razzien der falsche Weg des Staates, Regeln darzustellen. Vielmehr seien es Ablenkungsmaßnahmen, die schwere Risiken und Nebenwirkungen beinhalteten. Diese Nebenwirkungen kennt auch Mohammed Chahrour.
„Ich kenne Berichte von Leuten, die wurden fast ausgezogen auf der Toilette und die haben sich gar nichts zuschulden kommen lassen. Sind ganz normale Typen. Ich kenne gute Freunde, das sind gebildete Leute, die einfach irgendwie aus dem Iran geflüchtet sind oder so und dann dort ein und ausgehen, weil sie das so kennen“, erzählt er.
„Damit sind sie groß geworden, auch in ihren Ländern und wollen das dann hier weiter betreiben und machen das dann halt abends und gehen in die Shishabar zum Feierabend und werden dann ja auch erniedrigt. Dann geht es halt: ‚Wir sind alle auf den Boden, schwer bewaffnete Polizisten kommen rein und und und‘. Das ist nicht ohne und das hinterlässt auch Spuren in der Community.“
Initiative gegen einen Generalverdacht
Chahrour hat mit Freunden deswegen
eine Initiative mit dem Namen “Kein Generalverdacht” gegründet. Die Initiative, so die Selbstbeschreibung, stellt sich gegen die pauschale Verdächtigung, Kriminalisierung und Verdrängung von Neuköllnerinnen und Neuköllnern durch repressive Maßnahmen, rassistische Diskurse und angebliche Kriminalitätsbekämpfung.
Es führt vor allem zu Stigmatisierung und schafft ein Klima des Misstrauens. Dann gibt es auch viele Leute mit einer relativ frischen Fluchtgeschichte. Die Leute haben ohnehin ein sehr schwieriges Verhältnis zum Staat, also zu Staatlichkeit. Wenn ich gerade aus Syrien geflüchtet bin und weiß, wie die Sicherheitskräfte in Syrien auf Demonstrationen und Kundgebungen für Frieden und Demokratie dann auf Demonstrierende losgegangen sind, und ich dann auf einmal abends in der Shishabar sitze und da kommen dann deutsche Beamte auf mich zu – mit Waffen. Was man da macht, ist nicht hilfreich. Das ist eine ganz große Show, und die richtet unglaublich viel Schaden an.
Mohammed Chahrour
Die Razzien, meint auch Thomas Feltes, tragen dazu bei, dass sich junge Menschen, die sowieso schon am Rand der Gesellschaft stehen, ein weiteres Mal diskriminiert fühlen - und so das Vertrauen in den Staat verlieren, in die Hände kriminelle Personen getrieben werden.
Anzeichen für das Ende der Shishabar-Razzien gibt es jedoch keine. Vielmehr finden ständig neue Razzien statt und das mit enormen Personaleinsatz.
Feingliedrige Ermittlungen statt aufwendige Razzien
Aus einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken für eine der Razzien in Neukölln:
„Die Polizei Berlin (Direktion Einsatz, Polizeipräsidium Stab, Landeskriminalamt, örtliche Direktionen) war mit 357 Dienstkräften beteiligt, das Bezirksamt Neukölln mit elf Dienstkräften, das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen mit 15 Dienstkräften und SenWiEnBe mit sechs Dienstkräften. Die Anzahl der Einsatzkräftestunden betrug bei der Polizei Berlin 2.033 Stunden, beim Bezirksamt Neukölln 88 Stunden, bei SenWiEnBe zwölf Stunden. Das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen hat im Zusammenhang mit dem Einsatz (einschließlich Vor- und Nachbereitung) insgesamt ca. 208 Einsatzkräftestunden geleistet.“
Wäre es nicht sinnvoller, die vorhandenen Polizistinnen und Polizisten anderweitig einzusetzen?
Sebastian Fiedler, der ehemalige Vorsitzender des Bunds Deutscher Kriminalbeamter, erklärt: „Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel daran, dass die erfolgversprechenden Maßnahmen gegen Kriminalitätsphänomene der Organisierten Kriminalität immer diese sind, die zunächst einmal aus Sicht der Strafverfolger im Verborgenen betrieben werden, verdeckt geführt werden und über einen langen Zeitraum.“
Und weiter „Weil die Zielsetzung Nummer eins zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eigentlich immer ist, ihnen die Vermögenswerte abzunehmen, die sie durch Kriminalität erwirtschaftet haben. Das gelingt nicht so sehr durch Razzien als durch intensive, feingliedrige Ermittlungen über einen langen Zeitraum.“
Angriffsziel rassistischer Verbrechen
In den vergangenen Jahren sind die Shishabars aber noch aus einem anderen Grund in die Schlagzeilen gekommen: als ein Angriffsziel rassistischer Verbrechen. Das schlimmste dieser Verbrechen war
der Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem ein rechtsextremer Terrorist in Shishabars und einer Bar mit angrenzendem Kiosk neun Menschen mit Migrationserfahrung tötete.
„Für uns ist es ganz klar als Initiative, dass der Attentäter Tobias R. da am 19. Februar 2020 nicht aus Jux und Dollerei in zwei Shishabars gegangen ist, um dort seine vermeintlichen Feinde umzubringen und diesen schrecklichen Anschlag zu begehen. Ich würde auch nicht von einem monokausalen Zusammenhang sprechen“, sagt Mohammed Chahrour.
„Aber natürlich gibt es auch eine Mitverantwortung einer politischen Kommunikation, die nicht mehr differenziert hat und die erklärt hat, dass in der Shishabar Kriminelle sind und dort Kriminelle verkehren – und dann hat das ja auch dazu geführt, dass diese jungen Menschen, diese neun jungen Menschen sterben mussten.“
Trauer vor einem der Tatorte in Hanau: Eine vernünftige Aufarbeitung der tödlichen Ereignisse sei nicht erfolgt, kritisiert Thomas Feltes.© picture alliance/dpa | Frank Rumpenhorst
„Also ich denke, es gab eine gewisse Zurückhaltung unmittelbar danach“, ergänzt der Kriminologe Thomas Feltes. „Die wurde dann aber eben auch durch die Corona-Pandemie in Teilen abgelöst. Gerade das Beispiel Hanau zeigt, dass eine vernünftige Aufarbeitung dieser Ereignisse, gerade eben auch was die Ereignisse in der Shishabar oder auch in dem Imbiss betrifft, nicht erfolgt ist.“
Er erklärt. „In dem Imbiss, wo eine Fluchttür auf Anweisung der Polizei geschlossen war, die maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die Menschen nicht flüchten konnten und dann auch dort jemand erschossen wurde: Das alles ist nicht aufgearbeitet worden, da verweigert sich die Politik und die Polizei.“
Im September 2021 wurde in Gelnhausen bei Hanau dann wieder eine Razzia in Shishabars durchgeführt. Die Polizei, berichtete eine Lokalzeitung, sei mit einem Großaufgebot ausgerückt.
Sprecher: Camill Jammal
Regie: Clarisse Cossais
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Carsten Burtke