Die englische Originalfassung des Gesprächs mit Shoshana Zuboff können Sie hier nachhören: Audio Player
"Überwachungskapitalismus" steuert das Verhalten
11:58 Minuten
Konzerne wie Facebook, Google oder Amazon haben persönliche Daten kommerzialisiert und zur Handelsware erklärt. Damit, meint Shoshana Zuboff, habe die wirtschaftliche Entwicklung eine neue Stufe erreicht: das Zeitalter des "Überwachungskapitalismus".
"Die Gesellschaft ist immer mehr zu einem Objekt geworden, das in Verhaltensdaten transformiert wird, um kontrollieren und verändern zu können", sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff. Ihr zufolge leben wir in einem "Zeitalter des Überwachungskapitalismus", der sich vor allem in der Datensammelwut von Digitalkonzernen wie Google, Amazon oder Facebook widerspiegelt. Und der einerseits etwas vollkommen Neues ist, andererseits der klassischen Dynamik des Kapitalismus folgt:
"Man geht schon länger davon aus, dass Kapitalismus sich entwickelt, indem Anspruch auf Dinge erhoben wird, die bisher immer außerhalb des Marktes existiert haben, und diese Dinge dann in den Markt integriert und zu Ware erklärt werden, die gekauft und verkauft werden können", sagt Zuboff unter Verweis auf Karl Polanyis wirtschaftshistorischen Klassiker "The Great Transformation" von 1944.
Die Privatsphäre als frei handelbares Rohmaterial
Demnach traf es zunächst den Menschen selbst, der sich in Form von 'Arbeitskraft' plötzlich als Handelsware auf dem Markt wiederfand. "Die zweite war die Natur, die von außerhalb des Marktes als 'Land' oder als 'Grundstücke' in den Markt integriert wurde und ebenfalls gekauft und verkauft werden konnte. Die dritte bestand darin, dass der Vorgang des Austauschs dem Markt untergeordnet und als 'Geld' wiedergeboren wurde", so Zuboff in unserem Interview.
Und mit dem Überwachungskapitalismus wird wiederum etwas Neues zum Handelsgut erklärt: "Der Überwachungskapitalismus definiert persönliche menschliche Erlebnisse, die außerhalb des Marktes, in der Privatsphäre unserer eigenen Erfahrungen stattfinden, nun als freies Rohmaterial, das in den Markt übernommen und in Produkte umgewandelt werden kann, die auf neuen Märkten gekauft und verkauft werden können."
Immer neue Datenquellen erschließen
Doch sind die Datenkraken nicht auch irgendwann satt? Das jedenfalls meint der Internetkritiker Evgeny Morozov, der im April in unserem Interview sagte: "Natürlich ist es von Vorteil, Daten zu generieren. Doch diese Daten sind nicht mehr so besonders neu oder einzigartig, dass jeden Tag die Systeme erneut damit gefüttert werden müssten. Das meiste, was wir tun, ist ziemlich vorhersehbar und stabil. Wenn wir zum Beispiel auf Daten für Werbung schauen: Google scannt oft nicht einmal mehr die Inhalte unserer Nachrichten, weil sie einfach schon genug von uns wissen. Sie können uns personifizierte Werbung anzeigen, ohne erneut Daten über uns zu sammeln."
Dem widerspricht Shoshana Zuboff: "Ich wäre nicht einverstanden mit der Annahme, dass es jemals genug ist. Wenn man einmal den ökonomischen Imperativ verstanden hat, der diese wirtschaftliche Logik antreibt, dann wird klar, dass diese sich zum Ganzen, zum Gesamten hin orientiert, zur Gesamtheit. Das einzige, was Vorhersagen dazu antreibt, besser zu werden, ist der Wille zu mehr und zu exakter vorhersagenden Informationen. Es gibt für den Ehrgeiz des Überwachungskapitalismus tatsächlich keine Grenzen – er will die Versorgungsketten kontrollieren, neue und immer mehr Quellen von Verhaltensdaten erschließen."
Der Überwachungskapitalismus habe sich bereits auf so gut wie alle Wirtschaftsbereiche ausgeweitet, sagt Zuboff und warnt zugleich: "Immer wenn man das Wort 'smart' auf einem Produkt oder einem Service-Angebot sieht, sollte man in Alarmbereitschaft gehen." Denn hierbei geht es nicht nur um enorme Gewinnmöglichkeiten, sondern letztlich um die Kontrolle und Steuerung des Verhaltens ganzer Stadtbevölkerungen - Stichwort: smart city.
"Das ist eine Stadt, die für privaten Profit funktioniert. Was wir vermeiden wollen, ist, dass der Überwachungskapitalismus Zugang zu diesen Kanälen erhält - zu diesen Versorgungskanälen, die ihm die Kontrolle zu immer größeren Teilen der Gesellschaft geben. Denn das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Dabei ist der Anreiz, den das hätte, offensichtlich, wenn man z.B. öffentliches Verhalten so lenken könnte, dass es keine Staus mehr gibt, oder so, dass der Energiekonsum sinkt. Auf der Oberfläche gibt es also eine Menge Argumente, die ganz attraktiv erscheinen, aber dahinter verbirgt sich ein zutiefst anti-demokratischer Impetus. Denn es nimmt alle Informationen und Entscheidungsgewalt weg vom demokratischen Prozess und übergibt sie einem Markt-Prozess. Und das ist für unsere Gesellschaften sehr gefährlich."
(uko)