The last Hurrah
Eine legendäre Tanzrevue ist die Hauptattraktion in der Wüstenstadt Palm Springs. Sie bringt die Musik der 50er-, 60er- und 70er-Jahre auf die Bühne – mit Protagonisten, die alt genug sind, jene Jahre miterlebt zu haben. Doch jetzt steht die Show vor dem Aus.
Der Tag hat früh begonnen für Suzanne Vitale. Um sieben ist sie aufgestanden, hat sich erst die Müdigkeit aus den Beinen gelaufen und in aller Ruhe gefrühstückt. Leicht wie immer, nur Obst, Joghurt und Müsli, auf dem Balkon ihrer Wohnung, mit herrlichem Blick auf die bläulich schimmernden San Jacinto Mountains. Nun geht sie zur Arbeit. Durch ein Städtchen, das aussieht wie aus einem Architekturbuch über klassische Moderne. Vorbei an streng geometrischen Bauten, sand- oder ockerfarben, dominiert von großen Fensterflächen frei stehenden Träger, wodurch Innen- und Außenbereiche ineinander übergehen. Der Himmel ist wolkenlos, die Luft mit 20 Grad angenehm warm. In Suzannes Heimatstadt St. Louis, Missouri, herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt und es schneit und regnet.
"Ist Palm Springs nicht schön? Ich liebe die Berge, und hier siehst du Berge und Palmen. Irgendwie passt das nicht richtig zusammen, vor allem, wenn oben auch noch Schnee liegt. Palm Springs ist klein, jeder kennt jeden. Vor allem jetzt im Winter ist es toll. Die Sonne scheint jeden Tag. Obwohl, manchmal vermisse ich den Regen. Hier regnet es vielleicht einmal im Jahr und dann fallen nur ein paar Tropfen, nicht einmal genug, um die Scheibenwischer am Auto anzumachen."
Suzanne Vitale ist eine schlanke Frau mit schwarzem Bubikopf. Sie trägt Leggins und Bluse, beide in dunkelblau, darüber eine Weste, einen oder zwei Töne heller. Ihr Ziel ist das La Plaza Theatre im Zentrum von Palm Springs, ein zweigeschossiger Adobebau, der mit den geschwungenen Portalen, der schattigen Loggia und dem weit überstehendem Ziegeldach aussieht wie ein mexikanisches Landgut.
"Unsere Show beginnt um halb zwei. Wir müssen um halb eins hier sein, für die Maske. Meist komme ich eine Stunde früher und mache Gymnastik. Als Tänzerin muss das sein, ich möchte mich ja nicht verletzen."
Sagt's und schlüpft durch eine Tür mit der Aufschrift "Bühneneingang". Beim Dehnen und Stretchen möchte sie ungestört sein.
Vor dem Plaza Theater ist es voll. An den Kassenhäuschen haben sich lange Schlangen gebildet, Busse und Mini-Vans fahren vor und spucken Reisegruppen aus. Es sind ausschließlich Senioren, die sich hier versammeln, die einen besser auf den Beinen, die anderen weniger. Eine Dame mit violett gefärbten Haaren, eine riesige Sonnenbrille auf der Nase, schiebt ein Beatmungsgerät vor sich her, ihr Mann folgt im Rollstuhl.
Eine Stunden später Suzanne sitzt in der Garderobe des La Plaza Theatre, auf dem Kopf eine schwarze Perücke mit rotem Schleifchen, die Lippen kirschrot geschminkt. Sie trägt Minirock und Weste, ebenfalls in rot. Rechts und links von ihr sitzen neun Frauen, alle identisch zurecht gemacht. Eine Rigipswand trennt die Damengarberobe vom Umkleideraum der sieben Männer.
Die jüngste Tänzerin ist 57, die älteste 77
Gemeinsam bilden sie das Ensemble der Palm Springs Follies. Die Tanzrevue bringt die Musik der 50er-, 60er- und 70er-Jahre auf die Bühne – mit Protagonisten, die alt genug sind, jene Jahre miterlebt zu haben. Die jüngste Tänzerin ist 57, die älteste 77. Suzanne Vitale gehört mir 75 zu den Betagteren. In der Garderobe wird getratscht und gelästert. Über die gestrige Ausgabe der Castingshow "Dancing with the stars" und darüber, ob diese Folge gut war oder nicht..
"Jaaaaa, sie war gut. Aber nicht so gut wie wir. Die sollten uns dort haben, dann würden sie sehen, was wir drauf haben. Stattdessen wollen sie uns in Rente schicken. Macht das nicht mir uns!"
Sie alle sind Stars gewesen. Nicht die ganz großen, für Hollywood mit seinen Millionengagen hat es für keine gereicht. Judy Bell, die älteste der Follies, hatte jahrzehntelang eine Show in Las Vegas, Teri Olsen, das Küken, hat in zahlreichen Fernsehserien mitgespielt. Suzanne Vitale hat am Broadway in New York getanzt, in mehr als 20 Produktionen. Mit dem Musical "My Fair Lady" hat sie 1961 ein vierwöchiges Gastspiel in Moskau gegeben, als erste amerikanische Theatergruppe überhaupt im damals noch ausgesprochen frostigen Kalten Krieg. Mit Ende 20 ist Schluss gewesen mit der Bühnenkarriere. Suzanne hat zwei Töchter bekommen und aufgezogen und nur nebenbei in kleinen Ensembles im Mittleren Westen getanzt. Bis ihr eine Freundin von den Follies erzählte. Mit ein paar hundert anderen hat sie vorgetanzt, ohne große Illusionen.
"Mein Mann hatte mich lange davor verlassen. Ich wurde älter, er stand auf jüngere Frauen, also hat es mit uns nicht besonders funktioniert. Gucken Sie mich jetzt an, sehen Sie, was Riff Markowitz aus uns gemacht hat. Er steckt uns in diese prächtigen Kostüme, er macht uns schöner und besser auf der Bühne. Er ist ein Magier, und es ist toll hier zu sein."
Riff Markowitz ist der Impressario der Follies, auch er ein Senior, 70-plus. Vor 23 Jahren hat er das Revueensemble gegründet.
"Riff ist einzigartig. Vor ihm hat es keine Show wie diese gegeben. Er kommt in diese kleine Stadt, sieht dieses alte Theater. Und plötzlich hat er eine Idee: In New York hat es so viele Broadway-Shows gegeben, vielleicht gibt es noch Tänzerinnen über 50, die es immer noch drauf haben. Er beschließt, diese Tänzerinnen zu suchen, und sollte er sie finden, mit ihnen eine Show aufzuziehen. Und genau das hat er gemacht."
Suzanne Vitale ist seit sechs Jahren dabei, Judy Bell, die Veteranin, sogar schon seit 20. Die Show läuft jedes Jahr von Ende Oktober bis Mitte Mai. Suzanne zählt auf: fünf Nachmittagsvorstellungen die Woche, mittwochs und samstags zusätzlich eine Show am frühen Abend, an Feiertagen und Sonntagen in den Ferien auch. Macht bis zu neun Shows pro Woche. Jedes Jahr im Sommer müssen die Tänzerinnen sich neu bewerben – könnte ja sein, dass sie dem Alter Tribut zollen müssen. Doch dieses Jahr ist alles anders: Die 23. Saison der Follies ist gleichzeitig ihre letzte. Am 18. Mai fällte der Vorhang – für immer.
"Jetzt machen Sie mich traurig. Wenn ich daran denke, wird mein Herz schwer, eine Show wie diese gibt es nicht noch einmal. Aber vielleicht... Möchten Sie unsere Show nicht kaufen? Bitte, kaufen Sie unsere Show, damit wir weiter machen können!"
Kurz vor Beginn der Show. Das Ensemble versammelt sich hinter der Bühne. Eine Garderobiere nestelt hektisch an Suzannes Perücke. Vor einem Spiegel lockert ein stattlicher Mann mit grauem, welligen Haar und markanter Kinnpartie, seine Gesichtsmuskeln. Riff Markowitz trägt einen Smoking mit weißer Jacke. Der Gründer der Follies ist gleichzeitig künstlerischer Leiter und Conferencier.
Die rote Lampe leuchtet auf – noch eine Minute, dann ist Showtime.
Im Saal wird das Publikum derweil auf die Show eingestimmt. Auf einer Videoleinwand läuft ein kurzer Abriss über die Geschichte von Palm Springs. Und nun, raunt die Stimme vom Band, freuen Sie sich auf die nostalgische Reise in eine Zeit, in der die Dinge einfacher waren.
"The last hurrah", der letze Abgesang, heißt die 23. Show der Follies, nach einem Film von John Ford. Die männlichen Tänzer, in bunten Schlaghosen und gebatikten Hemden gleiten über die Bühne, die Revuegirls, in Minikleidern, wirbeln um sie herum – Love and peace als Musical.
Eine Hommage an die gute, alte Zeit
Die Show ist eine Hommage an die 50er- und 60er-Jahre, an die "gute alte Zeit", als die Welt für Amerika noch in Ordnung war. Vor Vietnam, den Rassenunruhen und den Attentaten auf Nobelpreisträger Martin Luther King und Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy. Vor Präsident Bill Clintons amourösen Verstrickungen und natürlich vor 9/11, den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon.
Dann werden die Mitglieder des Ensembles vorgestellt, einzeln und mit dem jeweiligen Alter. Sie kommen in Showgirl-Kostümen auf die Bühne, in strassbesetzten Höschen und Bustiers und federbesetzten Schleppen. Von weitem fällt gar nicht auf, dass es sich um ältere Damen und Herren handelt.
Schließlich ergreift Riff Markowitz das Wort, der Conferencier. Seine Spezialität sind Witze über das Alter. Hu hu, aufwachen, zwinkert er einem Mann in der ersten Reihe zu: "Können Sie sich noch erinnern, wer die Dame neben ihnen ist?" Auch der Gag über die drei höchsten Festtage in Kalifornien kommt gut an. Nummer drei ist Halloween, Nummer eins der mexikanische Nationalfeiertag Cinco de Mayo. Dazwischen auf Platz zwei der Gay Pride Day. Wobei, Riff Markowitz legt ein Kunstpause ein: Halloween und das Schwulenfest sind ja eigentlich dasselbe.
Nach einer Stunde ist Pause. Das Ensemble verschwindet in der Garderobe, die Zuschauer machen sich über die Getränke- und Popcorn-Stände im Foyer her. In einem Schaukasten Bilder von Hollywoodgrößen von einst: Errol Flynn, Lana Turner, Tony Curtis - bei Dreharbeiten, auf Partys, am Pool. Als die Stars noch bei Studios unter Vertrag standen statt wie heute ihre Filmverträge einzeln auszuhandeln, war es ihnen verboten, sich in der Freizeit mehr als 200 Kilometer von Hollywood zu entfernen - für den Fall, dass kurzfristig Dreharbeiten anberaumt wurden. Palm Springs war ideal: einerseits nach genug, um der Vertragsklausel zu genügen, andererseits weit genug entfernt, um der Kontrolle durch die Studios zu entgehen. Der Komiker Bob Hope hat hier mehr als ein halbes Jahrhundert gelebt, Frank Sinatra immerhin gut zwanzig Jahre, Elvis die ersten elf Monate seiner Ehe.
Vor dem Schaukasten Deborah und Paul Keller. Sie resolut, mit blondierter Dauerwelle, er schütter, mit Hornbrille, nicht mehr so gut auf den Beinen. Die Kellers sind snowbirds: Sie kommen aus Chicago, ziehen im Winter aber mit ihrem Wohnmobil durch den Süden. In Palm Springs sind sie zum ersten Mal, ins Plaza Theater eher zufällig gestolpert.
"Eine tolle Show", lobt Deborah, "wirklich einzigartig."
"Am liebsten hätte ich mit den Mädels auf der Bühne gestanden", berauscht sich Paul, "sie haben so viel Spaß da oben."
Hinter der Bühne ruht sich Riff Markowitz derweil in einem speckigen Ledersessel aus. Seit 23 Jahren hat er nicht eine Show versäumt, insgesamt stand er mehr als 4500 mal in Folge auf der Bühne. Das ist eine Leistung, zumal auch Riff Markowitz nicht mehr ganz taufrisch ist.
Nach Palm Springs ist er gekommen, um den Ruhestand zu genießen. Ein bisschen golfen, ab und an eine Partie Bridge, gelegentlich eine Reise.
"Aber dann bin ich über dieses Theater gestolpert und mir kam die Idee, hier eine Show aufzuziehen. Vaudeville habe ich immer geliebt, vor allem die Ziegfeld Follies. Das Ende ihrer großen Zeit habe ich noch miterlebt. Dieses Theater schien mir perfekt für eine solche Show, vor allem weil Palms Springs einmal sehr wichtig war für Hollywood-Stars, das Filmgeschäft und das Showgeschäft im Allgemeinen."
Riff Markowitz atmet tief aus: Der Rest ist Geschichte. Was haben ihn die Leute damals belächelt, als er anfing, Tänzer jenseits der 50 zu verpflichten. Der Sänger Sonny Bono, damals Bürgermeister von Palm Springs, hielt das Vorhaben für provinziell, die ersten Aufführungen wurden von den Kritikern verrissen.
"Ältere Leute anzuheuern ist nicht gerade angesagt, vor allem im Showgeschäft nicht, wo für die meisten Künstler in ihren Vierzigern Schluss ist, außer für die ganz großen Stars. Aber mir schwebte eine Show vor, die den Geist des amerikanischen Varietétheaters beschwört. Dafür brauchte ich Leute, die dachten und fühlten wie ich, die authentisch sind. Eine solche Show mit jungen Leuten aufzuziehen, die so tun, als seien sie aus jener Epoche, schien mir unpassend."
Amerikas Bühnen leiden noch immer unter der Krise
Dass die Follies bald Gesichte sein werden, darüber möchte auch Riff Markowitz nicht reden. Die Entscheidung ist ihm schwer genug gefallen, schreibt er im Programmheft. Nach dem Platzen der Immobilienblase im Herbst 2007 haben die Amerikaner den Gürtel enger geschnallt und ihn bis heute nicht wieder gelockert. Das bekommen vor allem die Bühnen zu spüren. Die Theater am Broadway haben erst mit einem Staraufgebot gegen sinkende Zuschauerzahlen angekämpft, und als das nichts nütze die Eintrittspreise erhöhlt. Für eine Show wie die Follies, die nie großen Profit abgeworfen hat, geht weder das eine, noch das andere. Ein paar Jahre hat Riff Markowitz die Show mit Erspartem über Wasser gehalten. Aber nun ist das Geld aufgebraucht.
Der zweite Teil der Show ist eine Hymne auf die USA, ihre Musik und ihre Werte. Die Bühne ist in den Nationalfarben rot, blau und weiß dekoriert, darüber weht das Sternenbanner.
"Das Land durchlebt harte Zeiten", räsoniert er, "das ist besonders schlimm für die junge Leute, die so etwas nicht kennen, und die", er hebt die Stimme, "nicht wissen, was Amerika wirklich ausmacht." Riff Markowitz richtet seinen Blick in die Ferne. "Wir Alten können Vorbilder sein", fährt er fort, "denn wir wissen, dass Amerika aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen ist. Und unsere Musik und unsere Tänze sind die Symbole für diesen Behauptungswillen."
Es folgt ein Parforce-Ritt durch ein halbes Jahrhundert amerikanische Tanzmusik, von Swing über Rock'n'Roll, Twist und Boogie bis zu Wilson Picketts Soul-Ballade "Midnight Hour". Abbas "Dancing Queen" ist dabei, auch Stones und Beatles werden eingemeindet. Dann endet die Show mit dem großen patriotischen Finale, ohne das heutzutage keine amerikanische Bühnenaufführung mehr auskommt.
Komplett mit Flaggenparade, Nationalhymne und der Bitte an die Kriegsveteranen im Publikum, zur Fahne ihrer ehemaligen Waffengattung zu salutieren. Und zum Abschluss "God bless America", intoniert von Judy Bell, der Veteranin der Follies. Nun trägt sie ein Abendkleid, während die restlichen Tänzerinnen in blau-weiß-roten Uniformen paradieren.
Nach der Show im Foyer. Mitglieder des Ensembles verabschieden die Zuschauer. Suzanne Vitale herzt eine Frau im Rollstuhl, Riff Markowitz drückt dem Mann aus der ersten Reihe eine DVD der Follies in die Hand – ein kleines Dankeschön dafür, dass der Zuschauer seinen Spott so tapfer ertragen hat. Dann posiert er mit zwei Kriegsveteranen, die in Uniform erschienen sind.
"Schon Ende des 19.Jahrhunderts haben amerikanische Bühnenproduktion, vor allem Revue-Shows, patriotische Gefühle hervorgehoben. Wir haben das übernommen. Vor allem Leute in unserer Altersgruppe, also von 50 bis über 80, sind sehr patriotisch eingestellt, das drückt sich natürlich auch in der Kunst aus. Und was mich angeht: Ich spüre den Geist dieses Landes in mir, also ist es natürlich, dass dies auch in meine Arbeit einfließt."
Ein paar Schritte weiter bedankt sich Deborah Keller, die Dame aus Chicago, bei Suzanne Vitale. An manchen Tagen, erzählt Deborah, spürt sie die Last des Alters besonders stark. Gut, dass es so etwas Inspirierendes wie die Follies gibt.
Suzanne lächelt ihr aufmunternd zu. Dann nimmt sie Deborah und Paul Keller in den Arm.
"Ältere Menschen lassen sich oft hängen. Warum machen sie das? Warum fügen sie sich ins Altern? Man muss nicht alt werden. Allein herzukommen hält sie jung, weil sie rausgehen, etwas sehen und erleben. Wissen Sie, wenn ich warten würde, bis nichts weh tut, käme ich nie aus dem Bett. Ich würde da liegen und mich von meinen Schmerzen beherrschen lassen. Wir alle haben unsere Wehwehchen, aber die verschwinden, wenn ich auf der Bühne stehe, sogar schon früher, wenn ich mich dehne und strecke."
Deborah nickt. Müsste sie auch mal machen, sich mehr bewegen. Ein Vorsatz fürs nächste Lebensjahr, den sie von diesem Nachmittag bei der Follies mitnimmt.
Tränen vor dem letzten Auftritt
Eine halbe Stunde später hinter der Bühne. Zwei Musicallegenden machen den Follies ihre Aufwartung, Carol Channing, eine Dame in den 90ern in knallrotem Lackanzug und lilafarbenen Uggs, ist mit sechs Tonys, dem Oscar für Bühnenproduktionen, der meist ausgezeichnete Revuestar. Und Tommy Tune, im maßgeschneiderten braunen Anzug, das grau melierte Haar zurückgekämmt und das Gesicht erstaunlich faltenfrei für einen 75-Jährigen, hat den Broadway auf und hinter der Bühne geprägt. "Eine wundervolle Show", säuselt Carol Channing und herzt Riff Markowitz. "Gaaaaanz fantastisch", flötet Tommy Tune. Ein Fotos mit dem Ensemble? Aber gern!
Suzanne Vitale verdrückt eine Träne. Vor den ersten Proben für diese Saison haben sie sich alle zusammengesetzt und ausgeheult. Und sich dann gesagt, was man sich im Unterhaltungsgeschäft halt sagt: the show must go on. Aber je näher der letzte Tag rückt, umso mehr Gedanken macht sie sich um die Zukunft. Natürlich, sie wird zurückgehen nach St. Louis zur Familie. Schon einmal hat sie Abschied von der Bühne genommen, vor 39 Jahren.
"Vielleicht ist dies die letzte professionelle Show in meinem Leben. Das macht mich traurig. Als ich damals aus New York weg bin, war's nicht so schlimm, keine Ahnung wieso. Ich wollte heiraten und Kinder haben. Jetzt ist es anders, weil.... Ich wünschte, die Leute könnten einen Wert im Altern sehen. Man wird so schnell weggeschoben: du bist 60, 70, du bist alt. Sind wir nicht! Ich habe viel zu geben, wir alle haben viel zu geben. Meine Lebensgeschichte geht weiter und ich weiß nicht, wann sie enden wird."
Kurz vor sieben Uhr abends. In wenigen Minuten beginnt die zweite Show am heutigen Tag. Wieder hat sich das Ensemble hinter der Bühne versammelt, wieder steht Riff Markowitz, der künstlerische Leiter der Follies, vor dem Spiegel und lockert seine Gesichtsmuskeln. Suzanne Vitale schiebt den Vorhang zur Seite und späht ins Publikum. Ausverkauft, wie meistens.
"Ein wunderbares Gefühl. Riff Markowitz hat 17 Leute mit einer Leidenschaft fürs Tanzen gefunden. Und ihr da draußen solltet euch diese Show angucken, denn sie ist einzigartig. Und erinnert euch an uns, wenn wir nicht mehr sind."
Die rote Lampe leuchtet auf – gleich ist Showtime. Suzanne Vitale nimmt ihren Platz für die erste Szene ein. Noch einmal Dehnen und Strecken. Dann öffnet sich der Vorhang.