Shumona Sinha: Kalkutta
Aus dem Französischen von Lena Müller
Edition Nautilus, Hamburg 2016
192 Seiten, 19,90 Euro
Wut, Scham und Schweigen
Mit analytischer Kühle und zärtlichen Alltagsbildern erzählt die indisch-französische Autorin Shumona Sinha die Geschichte einer Kindheit in Indien. Gekonnt verquickt sie Gegenwart und Vergangenheit, Familiengeschichte und Politik.
Eine junge Frau, Trisha ist ihr Name, kehrt Ende 2010 nach vielen Jahren im Pariser Exil nach Kalkutta zurück. Lange hat sie ihre Geburtsstadt gemieden. Zwei Tage zuvor aber ist ihr Vater gestorben, nun fliegt Trisha zu seiner Einäscherung. "Kalkutta", der zweite Roman der aus Kalkutta stammenden, aber in Paris beheimateten Autorin Shumona Sinha, beginnt mit einem Ende. Doch das Ende ist zugleich ein Anfang. Denn Trisha, die einige Tage im leerstehenden Haus ihrer Eltern verbringt, beginnt sich zu erinnern: an das Leben ihres Vaters, an das Leid ihrer Mutter, an ihre eigene Suche nach einem Platz in der Welt – und an ein Leben, das geprägt war von persönlichen Ängsten und politischen Abgründen zugleich.
Der Roman führt die Leser zurück in die "blutigen Jahre" der Stadt, als Kalkutta Ende der 1960er-Jahre eine Hochburg der indischen Kommunisten war, die aufgrund der Umtriebe der sogenannten Naxaliten, dem radikalen Flügel der Kommunisten, ab 1970 von der Kongresspartei mit Vehemenz bekämpft und ausgelöscht werden. Auch Trishas Vater – tagsüber ein Lehrer in Anzug und Krawatte – ist Mitglied der Kommunisten und so sickert die in der Stadt gärende Wut bis in das Haus der Familie, wo Trisha eines Nachts den Revolver ihres Vaters findet. Doch nicht nur ihr Vater lebt in einer Parallelwelt, sondern auch ihre unheilbar an Depression erkrankte und von Tabletten abhängige Mutter, die nie verwunden hat, dass der Mann, den sie wirklich liebte, als Kommunist getötet worden ist.
Eine unselige Melange aus Wut, Scham und Schweigen
Trisha wird zur Hüterin der Mutter – und versucht zugleich, sich ein eigenes Leben zu erschließen, indem sie bereits als Jugendliche auf Streifzüge geht. "Kalkutta" ist also weit mehr als die Rekonstruktion einer Familiengeschichte: Nicht nur Trishas Familie zerfällt, auch ein Land zerfällt. Shumona Sinha verquickt dafür geschickt Privates und Politisches, Vergangenheit und Gegenwart. Denn die Versehrungen, die sie schildert, betreffen die bengalische Gesellschaft in Gänze – und erheben wie die Gorgonen ihr Haupt just zu jener Zeit wieder, als Trisha zurückkehrt nach Kalkutta: Erneut werden in Bengalen Kommunisten brutal verfolgt; erneut sind im ganzen Land die tödlichen Spannungen zwischen Muslimen und Hindus, die den Subkontinent bereits Anfang des 20. Jahrhunderts heimsuchten, an der Tagesordnung, ermutigt durch den Aufstieg der rechtsgerichteten Hindunationalisten.
Die Geschichte, so die Autorin, wiederholt sich also – und damit auch die unselige Melange aus Wut, Scham und Schweigen, die nicht allein Trishas Familie prägt. Die Farbe Rot zieht sich ebenso durch den Roman wie das Motiv der Schlangen. Wie diese in einer zentralen Szene im Roman in der kalten Glut ausharren, um dann urplötzlich ihr todbringendes Gift zu verbreiten, so hat – das ist Shumona Sinhas Fazit – auch der kommunistische Traum von einer gerechten Gesellschaft die Bengalen nicht vor religiösem Fanatismus und Fundamentalismus schützen können. Shumona Sinha erzählt davon in einer erstaunlichen Mischung: Zärtliche Alltagsbilder wechseln mit Passagen von analytischer Kühle, beides wohltemperiert durch eine so präzise wie sinnliche Sprache.