Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.
Digitale Selbstverluste
05:24 Minuten
Facebook, Instagram und WhatsApp waren Anfang der Woche stundenlang nicht verfügbar - und damit auch das dort gepflegte digitale Selbst. Was der Vorfall mit einer Vermisstensuche im türkischen Wald zu tun hat, kommentiert Arnd Pollmann.
Neulich in einem dunklen Wald nahe der türkischen Stadt Inegöl: Ein 50-jähriger Mann hatte sich der Suche nach einer vermissten Person angeschlossen, die nach einer durchzechten Nacht verschwunden war. Nach stundenlanger Fahndung rief plötzlich jemand den Namen des 50-Jährigen. Der Mann war völlig perplex – bis er gewahr wurde, dass er selbst es war, den alle suchten. Er hatte sich nach nächtlichem Blackout an einer Suchexpedition in eigener Sache beteiligt. Und er musste sich erst selbst verlieren, um sich mit Hilfe anderer wiederzufinden.
Heitere Miene zu untergründiger Panik
In dieser Woche ist millionenfach etwas ganz Ähnliches passiert. In der Nacht zu Dienstag trafen sich unzählige Menschen auf Twitter und Telegram, die im Zuge eines Blackouts auf Facebook, Instagram und WhatsApp zunächst verloren gegangen waren. Man tat belustigt so, als wäre ein Leben ohne Social Media vielleicht doch das bessere. Aber abgesehen davon, dass diese Gruppentherapie online stattfand: Unterhalb der heiteren Oberfläche war eine ungeheure Panik zu verspüren. Wie leicht kann doch das digitale Selbst verloren gehen, wenn niemand mehr hinklickt. Wie riskant ist ein Umzug analoger Identitätssuche auf digitale Server, denen man den Strom abstellen kann?
Zu dieser Verunsicherung passt eine weitere Nachricht dieser Woche. Laut Unicef leidet ein Fünftel aller Jugendlichen weltweit an depressiven Verstimmungen. Der Suizid ist die vierthäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen, Tuberkulose und Gewalt. Könnte es sein, dass nicht nur kapitalistischer Leistungsdruck und Corona zu dieser Niedergeschlagenheit beitragen, sondern auch die sozialen Medien?
Blick in den Spiegel
Dazu ein Mythos: Dem schönen Jüngling Narziss war seitens eines kryptisch orakelnden Sehers vorausgesagt worden, er werde nur dann ein langes Leben genießen, "wenn er sich nicht erkenne". Eines Tages hatte Narziss dann in einem Tümpel sein eigenes Spiegelbild erblickt. Dabei soll er sich so sehr in sich selbst verliebt haben, dass er versehentlich ins Wasser fiel und ertrank.
Was aber, wenn er sich in diesem eitlen Spiegelbild, wie in einem Handy-Selfie, wiedererkannt hat und dabei schlicht in leere Abgründe blickte? Vielleicht war er daraufhin derart deprimiert, dass er sich absichtlich ins Wasser stürzte.
Die Whistleblowerin, Frances Haugen, hat dieser Tage eindringlich davor gewarnt, wie zerstörerisch sich etwa das Geschäftsmodell von Instagram auf unsichere Teenager-Seelen auswirkt. Auch unzählige Erwachsene stürzen sich tollkühn in den Strudel einer aufmerksamkeitserheischenden Selbstbespiegelung, die neben bestätigenden Klicks vor allem deprimierende Tiefschläge und auch sehr viel Selbstentlarvung mit sich bringt.
Jagd auf das eigene Selbst
Mit Blick auf diese Risiken waghalsiger Selbstentäußerung sei ein Kinderbuch-Klassiker aus den 1970er-Jahren empfohlen: "Der Bär auf dem Försterball". Darin gibt sich ein dicker brauner Brummbär als Förster aus, um sich in ein lustiges Saufgelage der Förster-Innung einzuschleichen. Alle sind von seiner Statur, seinem Timbre beeindruckt, sie feiern ihn ab als ihren neuen Oberförster. In trunkenem Übermut bläst der Bär daraufhin sogar zur Jagd auf den Bären – und damit auf sich selbst. Der Bär weist den Jägern sogar den Weg zu seiner Höhle. Er sagt, es rieche dort noch nach dem Bären, er müsse kurz zuvor noch hier gewesen sein. Vielleicht sei er ja gar einer von Ihnen!
Diese Geschichte erinnert an jene trunkene Selbstsuche in einem Wald nahe Inegöl. Aber zugleich auch an den digitalen Selbstverlust von Montag-Nacht. Es erscheint halsbrecherisch, zum Halali auf das eigene Selbst zu blasen, indem man sich abhängig macht von Selbstspiegelungen in den Klicks von anderen, die meist ebenso verunsichert sind wie man selbst. In allerletzter Sekunde übrigens rettet die Bärin ihren übermütigen Gatten vor dem betrunkenen Mob. Durch einen sehr ernüchternden, sehr analogen Biss in den Nacken.