Sibylle Berg: "GRM - Brainfuck"
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019
640 Seiten, 25 Euro
Eine Generalabrechnung mit der Gegenwart
06:10 Minuten
Sibylle Berg hat mit "GRM – Brainfuck" einen Roman geschrieben, den Leser und Leserinnen nicht ohne Erschütterung aus der Hand legen werden. Straßenkinder, Hochhausbrand in London, Überwachungsstaat - vieles, was Berg thematisiert, ist keine Erfindung.
Sibylle Berg ist Schriftstellerin und Kunstfigur in einem. Sie schreibt Romane, hält aber keine der üblichen Lesungen ab, sondern verwandelt ihre Romanstoffe in Bühnenshows. Sie ist in den sozialen Medien präsent, als Persönlichkeit jedoch schwer zu fassen. Für ihre Fangemeinde ist Sibylle Berg ganz einfach Kult. Eine Autorin mit Popstarqualität und der Aura eines düsteren Orakels. Ihre Romane bilden die Welt in einem kaum zu vertiefenden Schwarz ab, sie bohren mit unerbittlicher Radikalität in den Wunden des Spätkapitalismus.
Mehr als 600 Seiten umfasst ihr neuer Roman mit dem Titel "GRM - Brainfuck", abgeleitet von Grime, dem rohen Musikstil in der Nachfolge des Punk. Es sind 600 Seiten einer Litanei, die einer Generalabrechnung mit der Gegenwart gleichkommt. Der Roman spielt in England, zunächst im wirtschaftlich abgedrifteten Rochdale, dann in London. Er umfasst rund zwei Jahrzehnte und führt über das Jahr 2019 hinaus, in eine Zeit, als "der Brexit nur noch Erinnerung war".
Berg widmet sich der untersten Unterschicht
Visionen aus der unmittelbaren Zukunft finden sich in der aktuellen Romanliteratur in auffälliger Häufigkeit, das Milieu indes, das Sibylle Berg ins Auge fasst, wird nur selten in den Blick genommen. Es ist das Milieu der untersten Unterschicht, der Depravierten, Verarmten, kulturell Verkommenen und der Straßenkinder, die vom Radar der Sozialbürokratie verschwinden. Vier dieser Kinder - Don, Karen, Hannah und Peter - sind die Protagonisten des Romans.
Man ist bei der mitunter quälenden Lektüre verführt, das Ausmaß der Not, der Gewalt und der Perversionen, denen die Heranwachsenden ausgesetzt sind, für die Übertreibungen literarischer Phantasie zu halten. Aber Sibylle Berg erfindet weder den Londoner Hochhausbrand, bei dem Karens Familie im Roman zu Tode kommt, noch die jahrelange sexuelle Versklavung junger Mädchen durch eine Bande pakistanischstämmiger Engländer in Rochdale. Beides hat es in der Realität gegeben und liegt noch kein Jahrzehnt zurück. Bergs Poetik ist nichts anderes als eine schonungslose Verengung dieser Realität auf ihre Schrecken.
Mindesteinkommen im Tausch gegen Überwachung
Was als Dystopie erscheinen könnte, ist in Wahrheit zum Greifen nah: Eine rechtspopulistische Regierung führt für alle Bürger ein garantiertes Mindesteinkommen ein - unter der Voraussetzung, dass sie sich einen Chip mit sämtlichen ihrer persönlichen und gesundheitlichen Daten einpflanzen lassen. Der Überwachungstotalitarismus nach chinesischem Vorbild verkleidet sich als Sozialstaat mitteleuropäischen Zuschnitts. So kulturpessimistisch oder polemisch diese Idee wirken mag: Dass sie der Logik des technologischen Fortschritts entspricht, lässt sich nicht von der Hand weisen.
Die vier Kinder aber, die es von Rochdale nach London verschlägt, widersetzen sich dem Programm. Sie werden zu Partisanen der Humanität. Die apokalyptische Wucht, die dem Roman innewohnt, hält sich die Waage mit seiner emphatischen Barmherzigkeit. "GRM" ist Attacke und Fürbitte in einem, so monströs wie zärtlich. Ein verschreckender Findling der Gegenwartsliteratur, an dem man nicht vorbeikommt. Und ein Roman, den man nicht ohne Erschütterung aus der Hand legt.