Sibylle Berg: "RCE. #RemoteCodeExecution"
© Kiepenheuer & Witsch
Immer noch Weltuntergang
05:56 Minuten
Sibylle Berg
RCE. #RemoteCodeExecutionKiepenheuer & Witsch , Köln 2022704 Seiten
26,00 Euro
Das Ende ist nah, auch in Sibylle Bergs neuem Roman. Nur eine Gruppe von Teenagern hat noch Hoffnung. Sie rekrutieren Hacker in ganz Europa, um die Weltherrscher mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Als Sibylle Berg vor einem Vierteljahrhundert ihren ersten Roman – „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ – veröffentlichte, eroberte sie die Literaturszene (und das Publikum) auf einen Schlag. Mit ätzendem Blick und viel Sinn für die Komik des Scheiterns erzählte sie von konsumfixierten Menschen, die sich auf der Suche nach Liebe oder Sex zumeist lächerlich machen. Hinter dem flapsig-originellen Sound verbarg sich jedoch eine Haltung, die die Untergangsszenarien für die westliche Welt nicht nur beschreiben, sondern ihnen etwas entgegenhalten wollte.
Kein Ende der Elendsfahnenstange
Bergs Romane wurden in der Folge immer umfangreicher, als ließe sich die durchdigitalisierte, kapitalistisch-degenerierte Welt nur en gros angemessen darstellen. 2019 erschien „GRM. Brainfuck“, ein überbordendes, im England der nahen Zukunft spielendes Buch, das vier aus hoch prekären Verhältnissen stammende Jugendliche ins Zentrum rückte. Düster und deprimierend nahm sich die „GRM“-Welt aus, doch wer dachte, damit sei das Ende der Elendsfahnenstange erreicht, sieht sich nun getäuscht.
„RCE“ ist in gewisser Hinsicht eine Fortschreibung. Ein paar Jahre sind seit „GRM“ ins Land gegangen. Dessen Akteure gehören zum Teil erneut zum reichhaltigen Arsenal von fiktiven oder realen Figuren, deren Namensvielfalt das Lektorat offensichtlich überfordert hat. Der Zustand der Welt ist kein besserer geworden. Der Kapitalismus hat sich zu Tode gesiegt. Die Städte sind verödet, die Böden vergiftet.
Überwachungsmechanismen und das Internet of Bodies walten überall. Das „alte Kapital“ spielt keine Rolle mehr. Undurchschaubare Konzerne und Oligarchen regulieren die Geldflüsse, ohne dass politische Instanzen eine nennenswerte Kontrolle ausübten.
Weltuntergang – nicht unausweichlich
Dystopien dieser Art gab es zuletzt in der Literatur zuhauf, bei Raphaela Edelbauer („Dave“), Dave Eggers („Every“) oder Hanya Yanagihara („Zum Paradies“) etwa. Sibylle Berg hat sich in den letzten Jahren intensiv mit den Entwicklungen innerhalb der Wissenschaften befasst und mit Menschen gesprochen, die dem Weltuntergang noch nicht für eine beschlossene Sache halten. Ihr Gesprächsband „Nerds retten die Welt“ (2020) spiegelte das wider.
„RCE“ profitiert zum einen davon, indem die einfließende Gesellschaftsanalyse nicht zur wohlfeilen Diagnose aus dem bequemen Ohrensessel gerät. Zum anderen werden Bergs von Angst, Wut und Einsamkeit beherrschte Figuren – darunter Sprengmeister, Direktorinnen, Radfahren-rettet-die-Welt-Ökos, Erzbischöfe und Banker – jedoch oft zum bloßen Sprachrohr des Wissens und der Meinungen der Autorin.
Komisch, nervend, Fortsetzung folgt
Mit dem feinen Besteck der Psychologie wird in diesem Roman nicht gearbeitet. Immerhin verfügt er über eine gewisse Handlung und läuft über gut zwei Jahre auf ein „Ereignis“ hinaus, das eine im Tessin agierende Gruppe inszeniert. Diese rekrutiert Brigaden in ganz Europa und will mit ferngesteuerten Angriffen auf die Systeme der Weltherrscher – mit Remote Code Executions (RCE) – den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen. Um die „Weltrettung“ geht es, um ein „letztes Aufstehen der Menschheit“.
Sibylle Bergs „RCE“ ist ein anstrengendes, komisches, nervendes, redundantes, humanes, kein Klischee auslassendes Buch, das verblüffend gut unserer apokalyptisch anmutenden Gegenwart entspricht. Eine Fortsetzung ist angekündigt.