„Was mal an sozialen Gedanken da war, wird ausgehöhlt"
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"GRM Brainfuck" von Sibylle Berg ist eine düstere Zukunftsvision. Die Schriftstellerin will ihren neuen Roman dennoch nicht als Warnung verstanden wissen. Denn: Das Ende der Welt ist Berg zufolge noch ein gutes Stück weg.
Sibylle Bergs neuer Roman "GRM Brainfuck" ist eine düstere Dystopie, die die möglichen Folgen von Neoliberalismus und Digitalisierung aufzeigt. Doch dass unsere Welt zwangsläufig in eine Art Orwellsche Totalüberwachung hineinsteuert, glaubt Berg nicht. Im Deutschlandfunk Kultur sagte sie über ihr neues Buch und ihre Recherchen dazu, sie sei weit weg davon zu denken, das Ende der Welt sei nah: "Ich lebe in unserer Zeit, und ich finde, die hat auch sehr viel Gutes. Ich glaube einfach nur, dass sich gerade sehr viel verändert. Und dass es relativ überfordernd ist, weil es in einer unsinnigen Geschwindigkeit passiert." Das führe zu einer "Unruhe, die wir alle spüren", sagte die Autorin.
Sie prangere in "GRM" nicht den Neoliberalismus an, sondern beschreibe ihn nur, so Berg. Alles, was mal an sozialen Gedanken da gewesen sei, werde derzeit ausgehöhlt, beklagte die Schriftstellerin. Um die Gefahren der Digitalisierung zu konkretisieren, blickte Berg nach China und kritisierte biometrische Kameras und "social scores". Als Warnung will sie ihr Buch dennoch nicht verstanden wissen: "Ich wüsste gar nicht, was man großartig gegen diese Entwicklungen tun kann", sagte sie. "Ich fühlte mich da gar nicht warnend und anklagend, sondern eher aufzeichnend und schauend, was macht das mit den Menschen. Wie lebt man da, wenn das alles noch ein bisschen präziser ausformuliert wird von der Zeit?"
(ahe)
Das Gespräch im Wortlaut:
Ute Welty: Das Debüt von Sibylle Berg wollte anfangs kein Verlag haben, später wurde "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" zum Bestseller, und heute erscheint ihr neues Buch "GRM Brainfuck". Grime, das ist die härtere und schnellere Spielart des Rap, und das ist die Musik, die die Protagonisten des Romans bevorzugen, die den Soundtrack ihres Lebens ausmacht, und man ahnt es schon, es ist kein schönes Leben. Ich wollte von Sibylle Berg wissen, was sie dazu bewogen hat, auf mehr als 600 Seiten britisches Elend zu beschreiben, erst das in der Kleinstadt Rochdale und später dann in der Hauptstadt in London.
Sibylle Berg: Es ist (dort) so schön exemplarisch gerade. Ich habe nicht England gewählt, weil ich unbedingt nach England wollte, obwohl man kann da immer mal hingucken, was der Brexit macht, sondern weil es nach meinen Recherchen das Land ist, was alle Belange, die in dem Buch stattfinden, am "vorbildlichsten" ist, sprich also Überwachung, Digitalisierung, Privatisierung, sprich Neoliberalisierung. Deswegen dachte ich, das ist schon so schön vorbereitet hier alles, da können wir lernen, wie die Welt vielleicht bald aussehen wird, auch bei uns in der restlichen westlichen Welt.
Welty: Das heißt, es wird nix mit dem Trost, dass es sich um eine düstere Zukunftsvision handelt.
Überwachung und Digitalisierung sichtbar machen
Berg: Ich denke, was ich versucht habe, ist, in dem Buch viele Sachen sichtbar zu machen, die im Moment so unfassbar um uns wabern, also sprich die Überwachung, die Digitalisierung, vor der sehr viele sich fürchten, die Roboter kommen und nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Darum geht es eigentlich. Also gar nicht irgendwie, was passiert, in diesem Jules-Verne-Werk, in 100 Jahren, sondern worin befinden wir uns eigentlich, und wie wird es mit Hilfe der exponentiellen Beschleunigung sehr bald aussehen oder könnte es aussehen, weil: Ich bin nur ein bisschen Gott, und vielleicht kommt ja alles anders.
Welty: Wollen Sie das auch verstanden wissen als Warnung für Deutschland?
Berg: Es ist gar nicht eine Warnung, weil ich wüsste gar nicht, was man großartig gegen diese Entwicklung tun kann. Also ich begreife das auch gar nicht als dystopisch-düster, sondern einfach als eine Beschreibung dessen, also der Zeit, in der wir uns befinden gerade. Ich maße mir nicht an zu sagen, dass die schrecklich wird, weil vielleicht wird es gut. Vielleicht wird es besser als das drohende Faschistische, Autokratische, Nationalistische, was wir gerade vermuten.
Welty: Vordergründig prangern Sie ja den Neoliberalismus an, dessen Privatisierungswahn in Ihrer Version und Ihrer Vision auch vor Polizei und Militär nicht Halt macht. Sorge macht Ihnen aber auch das digitale Verhalten Ihrer Figuren, die ständig online sind, ihr Leben aus der Hand geben quasi. Ist das eine unausweichliche Entwicklung, oder lassen sich Digitalisierung und Künstliche Intelligenz noch vom Menschen beherrschen?
Berg: Ich prangere gar nicht den Neoliberalismus an, ich beschreibe ihn. Ich glaube, es war Warren Buffett, der sagte, wir befinden uns in einem Krieg der Reichen gegen die Armen, und das klingt erst mal sehr dramatisch. Wenn wir genauer hinschauen, was uns umgibt gerade, dann könnte man aber die Vermutung haben, dass es stimmt, weil eigentlich alles, was mal an sozialen Gedanken da war, die Gedanken eines Sozialstaates, das wird mehr und mehr ausgehöhlt in den meisten Ländern.
Bei mir in der Schweiz ist es so, dass Sozialhilfen gekürzt werden, Sozialhilfeempfänger drangsaliert werden, die Krankenkassenprämien steigen. Es wird diskutiert, ob man den Strom privatisiert, das Wasser privatisiert. Also Sie kennen die Diskussionen. In allen Ländern sind das die gleichen Themen. Klar, ich fühlte mich da gar nicht warnend und dräuend und anklagend, sondern eher aufzeichnend und schauend, was macht das mit den Menschen, wie lebt man da, wenn das alles mal ein bisschen präziser ausformuliert von der Zeit.
"Das ist ein bisschen schiefgelaufen"
Welty: Und die Sache mit der Digitalisierung?
Berg: Ja, das ist ein bisschen schiefgelaufen. Das, was als als freiheitliches Experiment Internet startete, wird unterdessen aufgeteilt zwischen einigen Big Playern oder großen Firmen, die wir nicht nennen, die kennen wir auch, die sind an Daten interessiert. Das hört man ja immer, die wollen unsere Daten, wozu wollen die eigentlich unsere Daten? Das was den Menschen einfällt, ist ja eigentlich nur, damit sie uns mit Werbung zuballern können. Das ist ja eigentlich nicht so schlimm, Werbung, haben wir ja eh überall.
Dass es um weit mehr geht als irgendwie Werbung uns anzudrehen, das sehen wir eigentlich sehr schön in China gerade. Wohin hat sich die Abgabe oder die Preisgabe aller persönlichen Daten dort entwickelt – zu einer totalen Überwachung mit biometrischen Kameras, mit Social Score, also ein Punktesystem, was das Verhalten seiner Bürger bewertet, und wenn du nicht genug Punkte hast und dich nicht gut benimmst, dann darfst du halt nicht Urlaub machen oder kriegst keinen Kredit, oder deine Karte wird die gesperrt.
Das ist so ein bisschen das Szenario, was ich mir in dem Buch sehr schön vorstellen könnte, weil es bedeutet das, woran die meisten Staaten oder Staatsformen irgendwie interessiert sind, die totale Kontrolle des Bürgers. Die Bürger befleißigen sich selber eines guten Verhaltens – was will man eigentlich mehr.
"Das eine ist Literatur, das andere bin ich"
Welty: Wie gehen Sie denn selbst mit diesem Zwiespalt um? Wer Ihnen auf Twitter folgt, der weiß oder die weiß ja, wie aktiv Sie den Kurznachrichtendienst nutzen.
Berg: Ich weiß seit dem Buch, seit ich ein Jahr lang mit Wissenschaftlern, Hackern, mit dem CCC, mit Computerfachleuten geredet habe, mehr, würde ich vermuten, als der durchschnittliche User. Ich versuche, Minimalstandards einzuhalten, sprich Mailverschlüsselung zu nutzen, kein WhatsApp zu nutzen, in sozialen Medien keine Orte, keine Familienangehörige, meine Telefonnummer nicht abzugeben. Also es ist so ein bisschen Schutz für Arme, was ich betreibe.
Welty: Wer in Ihr Buch guckt, dem kann angst und bange werden, wer Ihnen jetzt zuhört, der erlebt eine relativ entspannte Sibylle Berg. Ist das schon Resignation oder Gelassenheit?
Berg: Nein, warum sollte es. Das eine ist ja Literatur, das andere bin ich. Also ich tobe hier nicht in meiner Wohnung rum. Ich lebe in unserer Zeit, ich finde die hat auch sehr viel Gutes, und ich bin fernab davon zu denken, das Ende der Welt ist nah.
Das dachten manche Menschen immer zu jeder Zeit. Ich glaube einfach nur, das sich gerade sehr viel verändert und dass es relativ überfordernd ist, weil es in einer unsinnigen Geschwindigkeit passiert. Also es ist anders als die letzte, die maschinelle Revolution Anfang des Jahrhunderts, die sich ja relativ Zeit gelassen hat. Das führt, glaube ich, zu dieser Unruhe, die wir alle spüren oder führt mit dazu neben anderen Sachen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.