Foto-Ausstellung Sibylle Bergemann
Eines der berühmtesten Bilder von Sibylle Bergemann zeigt die Entstehung des Berliner Marx-Engels-Denkmals auf Usedom. © Estate Sibylle Bergemann / OSTKREUZ / Courtesy Loock Galerie, Berlin
Blicke an die Ränder der Welt
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Sibylle Bergemann war eine der bedeutendsten Fotografinnen der DDR. Sie wurde bekannt durch ihre eindringlichen, oft melancholischen Arbeiten in den Bereichen Mode, Porträt und Alltagsleben. Die Berlinische Galerie zeigt nun eine große Retrospektive.
Bisherige Ausstellungen über die Arbeiten Sibylle Bergemanns konzentrierten sich meist auf ihre ikonenhafte Werke: auf Porträts der jungen Katharina Thalbach, verträumte Modeaufnahmen oder ihre Serie über das Marx-Engels-Denkmal. Auch die Berlinische Galerie zeigt diese Fotos. Doch Kuratorin Katia Reich konnte erstmals den gesamten Nachlass der Künstlerin sichten, der von Bergemanns Tochter verwaltet wird, und holt nun richtig aus.
Klare Kompositionen abstrahieren das Dargestellte
Chronologisch und thematisch in kleine Gruppen gegliedert, versammelt sie neben einigen späten Farbaufnahmen vor allem kleinformatige Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus über 40 Jahren: Alltagsszenen, Stadtansichten, Mode- und Reisereportagen aus aller Welt. Oft gelingen ihr klare, strenge Kompositionen, die über das Dargestellte hinausweisen, es abstrahieren. So wie in einigen bisher unbekannten Abrissbildern. Nach 1990 muss das gesellschaftlich Neue dem reaktionären Alten Platz machen: Hinter letzten Resten des Palastes der Republik lauert der kaiserzeitliche Deutsche Dom.
"Mit der Sichtung von 4000 Vergrößerungen ist es uns gelungen, dieses Werk noch einmal neu zu sehen. Wir hatten auch Zugang zu Archivalien aus dem biographischen Nachlass, die uns mehr Kontext geben für die Zuordnung und die Hintergründe über die Entwicklung ihrer eigenen Bildsprache, ihres Blicks auf die Welt", sagt Reich.
Der Selbstinszenierung der Gesellschaften etwas entgegensetzen
Ende der 1960er-Jahre hatte Bergemann bei Arno Fischer in Berlin-Weißensee Fotografieren gelernt, dem Mann, mit dem sie bis zu ihrem Tod zusammenlebte. Der Katalogtext widmet sich ausführlich den Arbeitsbedingungen in der DDR, wo Bergemann schnell Erfolg hatte: Sie arbeitete für Zeitungen und Zeitschriften, nahm an den großen DDR-Kunstausstellungen teil, reiste nach New York und Paris, unterrichtete fotografischen Nachwuchs und war Mitglied des Verbands Bildender Künstler.
Früh entwickelte sie ihre eigene Bildästhetik, mit der sie der perfekten Selbstinszenierung von Gesellschaften den Blick an die Ränder der Welt entgegensetzt, mit "unperfekten" Menschen und deren "unperfektem" Alltag im Mittelpunkt. Wie in ihrem wunderbaren Fotoessay über "Clärchens Ballhaus", wo sie heimlich schwoofende, plaudernde, flirtende Gäste festhielt.
"Wir haben durch unsere Recherchen auch eigene Texte aus den 1970er-Jahren von ihr gefunden. Da beschreibt sie ihren Zugriff auf die Welt. Sie versteht die Fotografie als sinnliche Auffassung, sich der Welt zu nähern. Sie wollte die Menschen beobachten und ihnen nahe kommen mit der Kamera", so Reich.
Gründung der Agentur OSTKREUZ
Nach 1990 arbeitet Sibylle Bergemann weiter wie bisher. Die politischen und sozialen Miseren der Menschen streift sie nicht ein Mal. Doch als 1990 Westkonzerne die Medien- und Kulturstrukturen der DDR niederwalzen, als sie Verlage und Galerien zerschlagen, um die Konkurrenz auszuschalten, gründet sie mit Kolleginnen und Kollegen die Fotoagentur "Ostkreuz". Bis heute ist sie eine der wichtigsten Agenturen und Ausbildungsstätten des Landes.
Ausstellung und Katalog führen in Berlin all dies jetzt erstmals umfassend zusammen. Denn obwohl Sibylle Bergemann seit langem als eine der wichtigsten Fotografinnen gilt, kommt sie beispielsweise in der Fotogeschichte des obersten Fotohistorikers Wolfgang Kemp nicht vor.
"Ich sehe das als Desiderat in der Fotogeschichte und mit dieser Ausstellung möchte ich einen Beitrag leisten dafür, dass diese Fotografin endlich Eingang in die Fotogeschichte findet", sagt Reich. Die Kuratorin, die erst seit eineinhalb Jahren Leiterin der fotografischen Sammlung in der Berlinischen Galerie ist, leistet also mit der Ausstellung Pionierarbeit.