Sibylle Lewitscharoff, Heiko Michael Hartmann: "Warten auf: Gericht und Erlösung. Poetischer Streit im Jenseits"
Herder Verlag, Freiburg 2020
208 Seiten, 20 Euro
Quasselstrippe trifft Widerborst
09:59 Minuten
In "Warten auf: Gericht und Erlösung" streiten zwei Verstorbene über Glauben und Jenseits. Die protestantische Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff hat diesen munteren Diskurs gemeinsam mit dem Katholiken Heiko Michael Hartmann geschrieben.
Florian Felix Weyh: Alles ist relativ – mal sehen, ob das auch die Bilanz von Verstorbenen sein kann. Ins Studio gekommen ist die Schriftstellerin, Büchner-Preis-Trägerin und Protestantin Sibylle Lewitscharoff. Zusammen oder im Wechselspiel, das werden wir gleich erfahren.
Mit Heiko Michael Hartmann hat sie einen Dialog geschrieben: "Warten auf: Gericht und Erlösung", Untertitel "Poetischer Streit im Jenseits". Wie entstand das, dieses Wechselspiel zwischen einer toten Frau und einem toten Mann? Der eine von Ihnen hat was geschrieben, der andere drauf geantwortet, so wurde ein Buch draus?
Sibylle Lewitscharoff: Ja, wir haben einfach beschlossen, dass wir gerne mal zusammenarbeiten würden, und da wir grundsätzlich uns streiten – wir sind sehr, sehr befreundet, wir streiten aber grundsätzlich, egal um welches Thema –, dachten wir, das sei günstig, wenn wir den poetischen Streit ins Jenseits heben, da können wir richtig zugreifen.
Weyh: Ist Herr Hartmann Protestant oder Katholik?
Lewitscharoff: Er ist Katholik.
Weyh: Merkt man gar nicht.
Lewitscharoff: Er ist aber religionsabgewandt, und ich bin religionszugewandt. Das ist hauptsächlich der Kernpunkt.
"Mit meiner Biografie hat sie nichts zu tun"
Weyh: Nun sind es ein Mann und eine Frau, die beiden Verstorbenen, und die Frau führt sich auch ein, die hat eine Biografie. Sprechen Sie denn aus dieser Gertrud Severin geborene Herzsprung aus Stuttgart-Degerloch, oder ist die Fährte schon falsch gelegt, dass er die Frau geschrieben hat und Sie den Mann?
Lewitscharoff: Nein, ich habe schon die Frau geschrieben, nur hat sie mit meiner Biografie nichts zu tun. Womit sie aber zu tun hat, ist durchaus meine religiöse Haltung, aber nicht ihre Biografie.
Weyh: Das Ganze ist markiert typografisch: serifenlose Schrift gegen Serifenschrift. Am Anfang ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber man findet sich dann da rein.
Lewitscharoff: Ja, wir mussten es ein bisschen absetzen, auch vom Schriftbild her, und das Serifenlose für den Himmel-und-Hölle-Verächter ist das Richtige, bei mir die Serife, die ein kleines Häkchen setzt auf das Wunder hin. Da darf die Serife sein.
Weyh: Wo, bitte, befinden sich diese zwei Seelen – in der Hölle, im Fegefeuer, im Limbus, wo sind die?
Lewitscharoff: Die sind an einem unklaren Ort, die sind ja sozusagen noch nicht aussortiert in eine der drei klassischen Aufbewahrungsorte. Und mein Kompagnon, der glaubt ja sowieso nicht dran, das heißt, der müsste eigentlich viel stärker noch verblüfft sein, dass er überhaupt sprechen kann da oben nach dem Tode, weil für ihn das ja eigentlich alles nicht existiert, für mich schon. Wir sind sozusagen noch in der Voraufbewahrung, noch nicht sortiert.
Weyh: Das ist der Limbus oder auch nicht?
Lewitscharoff: Nein, Limbus ist eher auch für Kinder, das sind wir nicht. Nein, das ist eigentlich noch ein vager Ort im Jenseits, aber es öffnet sich ja dann am Schluss hin doch die Schneise, wo es zumindest mit mir hingeht.
"Mich interessiert das Thema gewaltig"
Weyh: Ich verrate den Schluss auch erst zum Schluss, weil ich herzlich gelacht habe – bei dem Thema ja eigentlich ein bisschen ungewöhnlich, aber ich glaube, Sie werden das verstehen. Nun ist das Setting da ein bisschen ähnlich zu einem Roman, den Sie letztes Jahr geschrieben haben, "Von oben", da blickt ein Verstorbener herunter auf die Welt. Ist das eine Fortführung für Sie, jetzt in einen anderen Raum zu gehen mit dem Verstorbenen?
Lewitscharoff: Nein, das nicht, aber mich interessiert das Thema gewaltig. Da ja die Literatur so etwas tun kann, in Gefilde sich zu wagen, denen man mit Realismus nicht beikommen kann, ist es eigentlich ein genuin literarisches Feld, finde ich, und das auszuschöpfen, das hat mir – jetzt mal mit einem Kollegen zusammen – doch großes Vergnügen bereitet.
Kein kleines frömmelndes Wesen
Weyh: Ich habe es mir jetzt, Sie sehen es auf meinem Blatt, so geteilt, was sie sagt und was er sagt, damit ich die Figuren so ein bisschen auseinanderhalten kann. Sie sagt zum Beispiel: Ich hatte gedacht, auf andere Seelen zu treffen, und ja, auch auf Jesus Christus. Das sind nicht Sie, die da spricht, oder doch ein bisschen?
Lewitscharoff: Doch, das bin ich schon ein bisschen. Sie ist ein kleines Stückerl naiver, gibt sich naiv, aber zeigt dann bald die Zähne, und da ist die Frau gar nicht naiv. Das heißt, zunächst einmal tut sie ein bisschen kindchenhaft fast in ihrer Religiosität, aber das stimmt ja aufs Ganze dann nicht.
Weyh: Das ist kein kleines frömmelndes Wesen.
Lewitscharoff: Auf gar keinen Fall, nein, es ist eine gebildete Frau auch.
Weyh: Das ist eine gebildete Frau, und der Diskurs, der dann losgeht, der wird dann auch ganz anspruchsvoll für den Leser.
Lewitscharoff: Ja, und es sind ja manchmal Frauen, wenn sie sympathisch sind, dass sie so ein bisschen das Lichtlein unter ihren Scheffel stellen und nicht gleich so rausplatzen mit ihren Kenntnissen – irgendwie so ist sie. Sie ist verbindlich, sozial auch eine freundliche Natur. Und er ist eigentlich der Widerborst, der will ja überhaupt nicht reden am Anfang, das ist ja witzig, der Kerl will ja mit dieser Dame nun gar nicht in Verbindung treten. Sie ist ihm auch zu alt im Übrigen.
Weyh: Was ja eigentlich in diesem Stadium keine Rolle mehr spielen kann.
Lewitscharoff: Tja, wer weiß.
Weyh: Er ist auch furchtbar angenervt. Er beschimpft Sie dann auch als schwäbische Quasseltante und so was.
Lewitscharoff: Ja, das haben wir aber schon extra so gemacht, also, ich fand das klasse, wir mussten ja irgendwie Zunder geben. Das Interessante an der Sache ist, dass er so langsam, aber doch ein bisschen einen kleinen Narren an der Dame frisst und auch sehr viel freundlicher wird.
Weyh: Was ist der inhaltlich theologische Kern Ihrer Auseinandersetzung?
Lewitscharoff: Der ist tatsächlich so, dass die alte Dame sich sicher weiß, dass es die klassischen Aufbewahrungsorte für Seelen gibt, dass man das Leben verwirken kann in der Hölle, für Tausende von Jahren zumindest, dass es im Purgatorium eine reinigende Situation geben muss – ob sie nun mit nicht brennendem Feuer oder wie auch immer, das weiß man natürlich nicht, aber eine Reinigungshaltung muss es sein, die die eigene Seele mit den Schmerzen konfrontiert, die man anderen zugefügt hat, und eventuell dann die wunderbare Erlösung in das Himmelreich.
Können Stalin und Hitler in den Himmel auffahren?
Weyh: Und er, der fast Atheist oder zumindest Agnostiker, der wundert sich eigentlich überhaupt, dass er noch reflektieren kann, in diesem Stadium, und in diese Debatte hineingezogen wird.
Lewitscharoff: Ja, das sollte ihm eigentlich ja auch zu denken geben, weil er ging ja davon aus, mit dem Tod ist alles futschikato und nichts mehr, und das ist ja nun anders, er redet ja mit mir.
Weyh: Das ist eigentlich ein bisschen, wie soll man sagen, eine Falle, in die Sie diese Figur auch hineingelockt haben oder auch Ihren Schriftstellerfreund hineingelockt haben.
Lewitscharoff: Ja, das hat mir Spaß gemacht, ihn auf unsauberes Terrain zu entführen, da will er ja eigentlich nicht so richtig hin. Aber es hat ihm Spaß gemacht dann, wir haben uns gut vertragen letztlich.
Weyh: Das Setting ist, die beiden sind zusammen abgestürzt im Flugzeug.
Lewitscharoff: Ja, wir mussten ja irgendeinen Grund finden oder einen sehr plausiblen, naheliegenden Grund, warum wir da beide zusammen sind und sonst niemand erst einmal.
Weyh: Nun gibt es einen Strang, der sich so ein bisschen durchzieht, immer mal wieder auftaucht bei Ihrer Figur: "Das abgrundtiefe Böse ist mehr als nur ein bisschen Verkehrtsein." Ein wunderschöner Satz. Da geht es darum: Können Massenmörder wie Hitler, Stalin, Mao in irgendeiner Form purgiert werden und gereinigt in den Himmel aufsteigen, oder habe ich das falsch verstanden?
Lewitscharoff: Das haben Sie schon richtig verstanden. Ich bin ja eine ausgefuchste Danteanerin, von der göttlichen Commedia inspiriert, und da ist die Hölle definitiv, und das sagt mir eigentlich auch mehr zu, muss ich sagen. Dante lässt es natürlich offen, ob im Zeitstrom von Tausenden von Jahren irgendetwas anderes sich begibt, aber die Hölle ist erst mal massiv und die bleibt bei ihm auch die Hölle. Und so hätte ich es auch gerne für manche Figuren – für wenige, aber für manche schon.
Alle Sünden werden abgewaschen? – Kinderkram!
Weyh: Nun sind Sie Protestantin. Ich habe aus dem Buch von Klaus-Rüdiger Mai, über das ich mit ihm vorhin gesprochen habe, gelernt, dass die Hölle eine mittelalterliche Vorstellung ist, die eigentlich erst nachträglich ins Christentum hineingebaut wurde.
Lewitscharoff: Ja, das ist ja richtig alles, nur ist sie ja äußerst wirkungsvoll. Die Vorstellung übrigens, dass man durch schwerste Verbrechen das Himmelreich verwirken kann, das finde ich schon … sozusagen als eine höhere Form der Strafmaßnahme leuchtet mir das ein. Sagen wir einfach mal, diese etwas simple Vorstellung, alle Sünden werden von uns abgewaschen, wir werden fröhlich angenommen, das ist für mich Kinderkram.
Weyh: In diesem Raum, Nicht-Raum, diesem Nicht-Ort oder Ort, nicht nur Sie beide sind da versammelt, die miteinander reden können auf irgendeine Art und Weise, sondern es schwirren, schweben, dunsten wie auch immer andere Seelen, auch zum Beispiel die von Samuel Beckett mal kurz vorbei und nehmen Kontakt auf – hat mir sehr gut gefallen, spielerisch gemeint.
Lewitscharoff: Ja, mit dem Unterschied, ich kann diese Seelen sehen, weil ich ja schon näher dran bin am Purgatorium, während mein Kompagnon sie gar nicht sieht. Er kann nur die Dialoge hören, und er ist ganz fuchtig, er wird ja richtig sauer, dass ich hier mit anderen spreche, und er glaubt da auch gar nicht dran. Er denkt eher, das ist eine Einbildung von mir, was es aber nicht ist.
Der Mann bleibt alleine zurück
Weyh: Und dann kommen wir zum Ende, ich muss jetzt den Spoiler, wie man Neudeutsch sagt, einfach hier bringen, weil es so lustig ist – also ich empfand das lustig: Dann kommt das Tödlein. Es ist wirklich so, das Tödlein, also Sie sind schon tot, aber Ihr persönliches Tödlein kommt, nimmt sie bei der Hand und führt sie dann in ein weiteres Gefilde, von dem wir nicht wissen, was es ist. Eigentlich fast eine schöne Vorstellung.
Lewitscharoff: Ja, ich werde ja auch ganz sanft geführt, und mein Kompagnon hat ja das Pech, dass er alleine zurückbleibt und auch traurig ein wenig tobt.
Weyh: Was wird mit ihm passieren?
Lewitscharoff: Das lässt das Gespräch offen, ist kein Roman.
Weyh: Gibt es einen Nachhall zwischen Ihnen beiden jetzt als Autoren, dass ich von dem einen oder anderen die Haltung zu diesem Feld geändert hat?
Lewitscharoff: Nicht wirklich, nein, das glaube ich jetzt nicht. Bei mir wäre eher Änderungsverhalten möglich, bei Herrn Hartmann, der hat nicht umsonst den Namen Hartmann und war auch ein wirklich klasse Jurist in der Bankenaufklärung. Den zu überzeugen von etwas ganz Anderem, das dürfte schwierig sein.
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