Sich der Wirklichkeit nähern

Von Jörg Plath |
Die Welt hat sich gewandelt, die Literatur muss sich auch wandeln, man kann nícht weiter so erzählen, wie es schon Thomas Mann tat. Das ist die Diagnose der zweitägigen Konferenz "Die Gegenwart mitschreiben?", die im Literarischen Colloquium Berlin stattfand.
"Ich hab in dem Panzer, in dem Inneren des Panzer ganz lange gesessen, hab immer Afghanistan durch so ein kleines gelblich schimmerndes Fensterchen draußen gesehen und sah irgendwelche Fahrräder vorbeihuschen, dachte immer: Ich bin jetzt also in Afghanistan, ja, aber ich kam gar nicht an."

Rainer Merkel berichtete heute Abend im Literarischen Colloquium Berlin auf einer Podiumsdiskussion über seine Recherche als embedded writer, als eingebetteter Schriftsteller bei der Bundeswehr in Afghanistan und wie schwer es sein würde, diese Gegenwart episch, nicht journalistisch zu erzählen.

Die Diskussion über "Die Gegenwart mitschreiben?" beendete eine zweitägige Tagung, in denen manche der 25 Autoren und Kritiker nur selten ihre Panzer verließen und mit harten Bandagen fochten. Denn dass Gegenwärtigkeit ein Qualitätskriterium für Literatur sein könnte, leuchtete den meisten Autoren zwischen 50 und 60 nicht ein. Wohl aber den wenigen jüngeren wie Thomas von Steinaecker, der Widerstand und Erkenntnis fordert statt:

"Wellnessliteratur - der Begriff kommt von dem Eindruck her, dass wir die Wiederkehr von einem Stil des 19. Jahrhunderts erleben, einem Realismus, der sich aber letztlich nicht den Aufgaben stellt, mit denen wir es heute zu tun haben, ..., Durchmedialisierung der Welt angesichts von den Neuen Medien, Internet, Handy, Blogs, das zweite ist: Stichwort Globalität, Komplexität der Zusammenhänge, sozialer Art, politischer Art, wie stellt man Schauplätze und Handlungen dar, die jetzt nicht mehr in einem Land spielen, sondern auf der ganzen Welt ..."

Steinaeckers Absage an Tolstoj und Thomas Mann und seine Forderung nach einer literarischen Reaktion auf eine gewandelte Welt rief Empörung hervor - nicht anders übrigens als vor genau 30 Jahren Gert Mattenklotts Aufsatz mit dem sprechenden Titel "Botschaften aus Retrograd" -, obwohl niemand der anwesenden Autoren ein Wellnessautor im Sinne Steinaeckers war.

Doch man machte es sich im Literarischen Colloquium recht leicht und tat Gegenwärtigkeit einfach als Stoff, vielleicht noch als Erzählprogramm, auf jeden Fall aber als unzulässige Einmischung in das Ureigenste ab. Daran änderte auch der Vortrag von Richard Kämmerlings, Literaturredakteur der Tageszeitung "Die Welt", nichts:

"Ich habe den Begriff Gegenwärtigkeit verwendet … und habe ihn so definiert als das Potenzial eines literarischen Textes, Erkenntnis über die Gegenwart zu vermitteln, Erkenntnis also über Tendenzen, Strömungen, über Lebensbedingungen der Gegenwart, die uns alle bestimmen und definieren."

Und zwar andere Erkenntnisse, als sie der Journalismus liefert, dessen Aufgabe ja das Mitschreiben der Gegenwart ist. Doch manchen klang das nach normativer Poetik, nach Vorschriften.

"Also ich bin der Meinung, allgemein verbindliche Kochrezepte kann es in diesem Fall nicht geben","

befand Patricia Görg. Und was sei schon Gegenwart? Die letzten 100 Jahre, sagte Thomas Lehr. Die antiken Griechen, meinte Lukas Bärfuss. Ursula Krechel wollte nicht so weit gehen:

""Ich habe vielleicht einen etwas weiteren Wirklichkeitsbezug als die jüngeren Autoren, weil ich schon länger lebe, und indem ich in eine Stufe gehe, die in meine Erinnerung reicht, bin ich durchaus in der Gegenwart. Gegenwart kann ja nicht nur heißen: ... in dauernder Echtzeit zu leben und zu schreiben, sondern einen Hallraum zu schaffen."

Insbesondere Thomas Hettche beharrte auf dem Unverfügbaren, Besonderen, Abweichenden der Literatur und unterstellte Steinaecker und anderen ein Kommerzinteresse.

"Also ein Buch überrascht mich als Leser, es soll mir etwas zeigen, was ich vorher nicht wusste. Es ist auch nicht über seine Themen oder seine Form zu qualifizieren. Es gibt einfach die Überraschung und das Ergriffenwerden von diesem Gesamtding, was eben auch besteht aus einer Sprache, einem Stil, einem Ton, einem Thema, einer Beschreibung usw.

Man konnte ja sehen, dass gerade bei jüngeren Autoren der Druck gewachsen ist, mit Recht gewachsen ist, der Druck, der sich in Fragen äußert wie: Wie muss ich mich als Autor verhalten in einem Markt ..."

Ärgerlich war diese Gesprächsverweigerung. Sie wich am Ende, als die Autoren aus der Werkstatt plauderten, wohin ihnen Kritiker und Leser nicht folgen können. Offen blieben die Fragen, wie man sich der Wirklichkeit nähert, ob mit oder ohne Panzer, und wie sie literarisch zu verarbeiten ist.

Dabei waren einige Experten anwesend: Thomas Pletzinger hat zehn Monate lang eine Basketballmannschaft begleitet, Patricia Görg führte 2011 im Auftrag ein groteskes Tagebuch, Rainer Merkel schrieb einen Roman aus dem Inneren einer Werbeagentur. Es schien, als ob eine wenig ältere Autorengeneration, die mit Kunstreligion und -autonomie nichts am Hut hat, mit dem Auserwähltheitsstatus des Buches lästige Herausforderungen abwehrte.
Mehr zum Thema