Zum Tod des Schriftstellers

Wie Hans Magnus Enzensberger seine Gedichte las

27:09 Minuten
Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger 1991.
Hans Magnus Enzensberger ist am 24. November 2022 in München verstorben. © picture alliance / dpa / Lehtikuva Oy
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Dichter, Denker und Diskursjongleur: Der nun gestorbene Hans Magnus Enzensberger wirbelte durch die Bundesrepublik wie kaum ein anderer Intellektueller. Seine Gedichte sind voller Neugierde und Widerspruchsgeist – vor allem wenn er sie selbst liest.
Sein Faxgerät war berühmt. Hans Magnus Enzensberger war in den letzten Jahrzehnten nur per Fax zu kontaktieren. Etwa 100 Prosawerke, Dramen, Essays und Gedichtbände hat er geschrieben, er erfand Zeitschriften („Kursbuch“, „Transatlantik“) und Buchreihen („Andere Bibliothek“) und erhielt viele Preise. Enzensberger gehörte mit Alexander Kluge und Jürgen Habermas zu den einflussreichsten Intellektuellen der alten Bundesrepublik, deren Geschichte er mit seinem Ideenreichtum und seiner geistigen Wandlungsfähigkeit prägte. Am 24. November ist er mit 93 Jahren in seinem Wohnort München gestorben.

"Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne"

Enzensberger hat sich immer entschieden der Gegenwart zugewandt – und sich mit ihr gewandelt. Den überkommenen hohen Ton aus dem Nationalsozialismus ließ er schon mit seinem Debüt, dem Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“, hinter sich, der ihm den Ruf eines „angry young man“ eintrug. In den Essaybänden „Einzelheiten“ analysierte er ab 1962 nicht etwa Oden und Verse, sondern den Neckermann-Katalog, den „Spiegel“ und andere Erscheinungen der Konsum- und Mediengesellschaft. Der Büchner-Preisträger von 1963 war eine der wichtigsten Stimmen in der einflussreichen Schriftstellervereinigung „Gruppe 47“, schrieb regelmäßig für Medien wie „FAZ“ und „Spiegel“, gab 1965-75 das „Kursbuch“ heraus und fand daneben noch Zeit, Bücher aller Art zu veröffentlichen und erst die USA, dann die kubanische Revolution zu besichtigen.
In den 1980er Jahren gab Enzensberger die Zeitschrift „Transatlantik“ heraus, dann die von ihm mit dem Buchgestalter Franz Greno erfundene Buchreihe „Andere Bibliothek“. Ihr Wahlspruch »Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten“ fing den hedonistischen Geist der Zeit ein, wie Enzensberger überhaupt oft mit dem Zeitgeist befreundet zu sein schien: Er war Medienkritiker und (Print-) Medienstar, Konsumkritiker und Produzent geistiger Waren, Stichwortgeber der Außerparlamentarischen Opposition und deren Kritiker usf.

Phänomenaler Spürsinn

„Chamäleon“, „Tausendsassa“ und „Luftikus“ wurde HME oft genannt, und in den Bezeichnungen steckte bei aller Kritik auch Bewunderung. Denn so oft Enzensbergers Beweglichkeit verblüffte und manchen Standfesten auch verärgerte – nicht allzu selten war er der Zeit und den Zeitgenossen nur voraus, erwies sich sein Gespür für Themen, Probleme und Widersprüche als phänomenal. Einen Nachfolger für ihn gibt es nicht.
1994 las der damals 64-jährige Hans Magnus Enzensberger im Berliner Wissenschaftskolleg mit kräftiger, manchmal belustigter Stimme unveröffentlichte Gedichte vor. 1995 veröffentlichte sie der Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Kiosk“.
(pla)
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