Autorin: Anna Loll
Es sprechen: Julia Brabandt, Maria Lang, Robert Levin, Robert Frank
Regie: Stefanie Lazai
Technik: Christoph Richter
Redaktion: Carsten Burtke
Über Umwege zu mehr Überwachung
27:32 Minuten
Sicherheitsgesetze, die den Datenschutz und die Privatsphäre einschränken: Wenn europäische Regierungen diese im eigenen Land nicht durchbekommen, nutzen sie häufig den Umweg über die EU-Ebene. Kritiker nennen diese Strategie "Politikwäsche".
Alles Schlechte kommt aus der EU? In Sachen Datenschutz sieht es aktuell so aus. Verordnung folgt auf Verordnung, Richtlinie auf Richtlinie, Initiative auf Initiative – mehr Überwachung ist die Folge.
Der Grund dafür ist nicht die "böse EU". Sie hat sich allerdings zu einem Instrument entwickelt, das es den EU-Regierungen ermöglicht, Maßnahmen auf diesem Weg durchzusetzen. Denn Opposition ist auf europäischer Ebene schwer, ist der Europäische Rat sich einmal einig. Die Gesetzesvorhaben landen dann auf dem gesetzgeberischen Tisch der Mitgliedsländer.
Der Spielraum für die nationale Umsetzung ist dabei meist nur noch gering. Was passiert hier? Nutzt die Exekutive den gesetzgeberischen Weg über die EU strategisch, um "zu Hause" unliebsame Vorhaben durchzusetzen? Eins ist klar: Die deutschen Sicherheitsbehörden spielen hier eine wichtige Rolle.
Design zum Schutz der Privatsphäre
Nicole Scheller ist Designerin. Allerdings keine gewöhnliche Designerin. Sie entwirft Mode gegen Überwachung, zum Beispiel gegen Bewegungsanalyse.
"Mein Prinzip war, über die äußere Körperform zu gehen. Dafür ist ja eigentlich auch Mode da", erklärt sie.
"Ich habe sehr grobe und sehr ausfallende Schnitte entwickelt, mit denen es eben möglich ist, die Körperform zu chiffrieren, indem man nicht mehr erkennt: Ist es männlich, ist es weiblich? Die Größe und vor allem auch verschiedene Gelenkpunkte zu verschleiern. Zum Beispiel ein Bewegungsalgorithmus scannt das Skelett quasi auf verschiedene Punkte."
Gegen Gesichtserkennung setzt Nicole Scheller schwarz-weiße, scheinbar unzusammenhängende Muster ein. Sie erinnern an QR-Codes.
Prozesse hinter den Algorithmen stören
"Ich habe versucht zu schauen: Wie reagiert so ein Algorithmus auf unser Gesicht. Und habe das immer weiter vereinfacht. Und daraus entstand eigentlich dieses vierteilige Schwarz-Weiß-Muster. Und zur Erklärung, wie es funktioniert: Wenn ein Algorithmus darüber scannt, erkennt er eine Vielzahl von Gesichtern", erläutert sie.
Und eine Person mit 100 Gesichtern ergibt für den Algorithmus überhaupt keinen Sinn. "So kann man sozusagen die Identifikationsprozesse hinter dem Algorithmus ein wenig stören und verwirren." Das ist das Ziel der Designerin.
Über ihrem Schreibtisch hängt ein Foto von Edward Snowden. Neben eine Überwachungskamera aus glänzend weißer Pappe, ein Ausstellungsstück, hat sie das Grundgesetz geklebt. Gesichtserkennung, Bewegungsanalyse, Iris-Scan, Handytracking – mit ihrer Mode will Nicole Scheller praktische Lösungen dagegen anbieten.
"Es gibt immer noch die Unschuldsvermutung"
"Weil es auf politischer Ebene einfach nicht passiert", kritisiert sie. "Ich möchte den Menschen einen Leitfaden oder etwas an die Hand geben, damit sich jeder davor schützen kann. Auch die Aufklärung natürlich: Wie funktioniert das? Was kann ich dagegen tun?"
Biometrische Gesichtskontrolle, Chatkontrolle, Vorratsdatenspeicherung. "Es gibt sie ja dennoch immer noch, die Unschuldsvermutung", sagt sie "Und viele dieser Gesetze, widersprechen dem Ganzen eigentlich. Also so auf staatlicher Ebene wird schon sehr viel, was Datenschutz angeht oder die Privatsphäre der einzelnen Bürger, strukturell immer weiter abgebaut."
Fluggastdatenspeicherung, Ende sicherer Verschlüsselung, Löschanordnungen. "Gerade die Antiterrorgesetze, die auch in der EU quasi beschlossen werden sollen, die sind natürlich fragwürdig und geben einer Regierung unglaubliche Macht. Die führen dazu, dass eine Gewaltenteilung sozusagen immer mehr abgeschafft wird. Und das geschieht nicht nur in Deutschland, sondern eben einfach auch europaweit", erklärt sie.
"Alle nachrichtendienstlichen Möglichkeiten nutzen"
Das sehen Politiker und Politikerinnen, verantwortlich für die innere Sicherheit in der EU, ganz anders - vor allem vor dem Hintergrund wiederkehrender terroristischer Anschläge. Zum Beispiel nach dem Attentat in Wien Anfang November 2020 mit vier Toten und über 20 Verletzten.
Er "persönlich" sei "dafür, dass wir alle nachrichtendienstlichen Möglichkeiten" nutzten, "die uns in der Theorie zur Verfügung stehen" um den Terror zu bekämpfen, sagt Bundesinnenminister Horst Seehofer laut der "Süddeutscher Zeitung" vor einem Treffen mit den Innenministern der EU am 13. November.
Danach, bei einer digitalen Pressekonferenz, äußert der Minister den festen Willen, den Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse an die Hand zu geben:
"Wissen Sie, nach all diesen brutalen Attacken ist ja immer sofort eine Diskussion, was ist nicht beachtet worden, was hat man nicht berücksichtigt, hat man schnell genug gehandelt, hat man gut genug gehandelt. Und ich möchte solche Diskussionen nicht mehr so ohne Weiteres hinnehmen. Immer dann, wenn ein Anschlag kommt, kommt die Kritik an die Sicherheitsbehörden und die Politik. Aber oft genug verweigert man uns, ich spreche jetzt vor allem über Deutschland, die entsprechenden Befugnisse. Und deshalb möchte ich alle Möglichkeiten, die es noch zur Verbesserung gibt, zur Vermeidung solcher barbarischen Akte noch mal tief geprüft haben."
EU-Kommissarin will Europol-Mandat erweitern
Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, pflichtet Horst Seehofer bei und erinnert an weitere Terroranschläge – fünf Jahre zuvor in Paris.
"Das sind Anschläge auf unsere gemeinsamen europäischen Werte und unsere Grundfreiheiten. Wir müssen uns aufbäumen gegen diese Anschläge, so wie wir es vor fünf Jahren gemacht haben. Wir müssen da als eine einzige Gesellschaft gegen diese Anschläge kämpfen", sagt sie. "Und gemeinsam werden wir es schaffen, den Terrorismus zu bekämpfen und zu vermeiden und ihn zu besiegen."
Ylva Johansson fordert die schnelle Umsetzung von Gesetzesvorhaben gegen den Terrorismus in der EU und ruft zur besseren Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten beim Datenaustausch auf. Das Mandat von Europol, der europäischen Polizeibehörde, solle erweitert werden. Außerdem kündigt die Kommissarin eine neue "Terrorismusbekämpfungsagenda" für Europa an.
Parlamentarische Arbeit aus dem Homeoffice
Kiel. Zwischen rotbraunen Klinkerbauten weht eine leichte Brise. Über den Dächern kreisen die Möwen. Ein Treffen mit Patrick Breyer, Abgeordneter im EU-Parlament für die Piratenpartei.
Bei EU-Verhandlungen zur inneren Sicherheit, Terrorismusbekämpfung oder Internetüberwachung ist der 44-jährige Richter oft dabei. Im Plenum und in den Ausschüssen spricht er regelmäßig zu Überwachung und Zensur. Aufgrund der Pandemie geht das allerdings momentan fast nur aus dem Homeoffice.
"So, ich werde mich jetzt mal in die Fraktionssitzung einklinken", erzählt er. "Die läuft im Moment noch pandemiebedingt digital ab. Es geht unter anderem um das ungarische Gesetz zu sexuellen Minderheiten und was wir dagegen tun können."
Verhandlungen über Kompromisse sind nicht öffentlich
"Das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene läuft so, dass die EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag vorstellt", erklärt er.
"Manchmal findet vorher eine öffentliche Anhörung statt, aber die Fragen sind sehr gelenkt, die da gestellt werden. Dieser Gesetzesvorschlag wird dann im Europäischen Parlament und im EU-Rat, das heißt die Vertretung der EU-Regierungen, beraten. Man positioniert sich, und danach finden meistens Kompromissverhandlungen statt, der sogenannte Trilog."
Die Verhandlungen sind nicht öffentlich – bis es schließlich eine Einigung gibt, erzählt Patrick Breyer.
"In den Verhandlungen ist die Achse typischerweise so, dass die EU-Kommission und der EU-Rat, also die nationalen Regierungen, immer für mehr Überwachung und mehr Kontrolle sind. Einfach deswegen, weil es sich sowohl bei der EU-Kommission, die die Gesetzesvorschläge macht, als auch den EU-Rat, der ihnen zustimmen muss, eben um Regierungen handelt, um Verwaltungsapparate. Da sind die Strafverfolgungsbehörden einfach stark vertreten."
Sei ein Gesetzesvorschlag einmal unterbreitet, werde er fast immer in der einen oder andern Form angenommen, meint Patrick Breyer. Etwas komplett auszubremsen oder zu stoppen, sei für das EU-Parlament kaum möglich. Die Exekutive nutze dies zu ihrem Vorteil.
"Es ist leider seit Jahren zu beobachten, dass immer wieder von EU-Regierungen Gesetze, die man wohl in den eigenen Ländern nicht durchsetzen könnte, dann über die EU durchgesetzt werden", sagt er. "Einfach deswegen, weil diese Politikwäsche durch die fehlende Gegenöffentlichkeit, durch die eingeschränkte Transparenz der Verhandlungen sehr leicht gemacht wird."
Verfassungswidriges "Gesetz gegen den Hass" in Frankreich
Ein Beispiel dafür sei das sogenannte "Loi Avia", das "Avia-Gesetz" aus Frankreich. Benannt ist das Gesetz nach der konservativen Abgeordneten Laeticia Avia. Unter ihrer Ägide hatte die französische Nationalversammlung im Mai 2019 ein Gesetz gegen Hass im Internet verabschiedet.
Nach Willen des "Avia-Gesetzes" sollten Webseitenbetreiber terroristische oder kinderpornografische Inhalte innerhalb einer Stunde entfernen. Sonst drohten ihnen hohe Bußgelder.
Im Juni 2020 entschied der französische Verfassungsrat, das höchste französische Gericht, dass das Gesetz gegen die Verfassung verstoße. Zwar sei es legitim, gesetzlich gegen Hasskriminalität und andere rechtswidrige Inhalte im Netz zu bekämpfen. Dieser Eingriff in die Meinungsfreiheit durch den Gesetzgeber sei aber "unangemessen, nicht erforderlich und unverhältnismäßig".
In der Begründung hieß es: Zum einen müsse es Gerichten vorbehalten sein, zu entscheiden, welche Posts oder Kommentare rechtswidrig seien und welche nicht. Zum anderen seien die Unternehmen durch das Gesetz unter einem enormen zeitlichen wie finanziellen Druck. Weil die Mitarbeiter der Plattformunternehmen die bisweilen Hunderte und Tausende Einträge pro Minute aber kaum analysieren können, müssen sie zumindest zum Teil auf technische Hilfe setzen – auf Algorithmen, die die Beiträge nach bestimmten Schlagwörtern oder Bildern scannen.
Diese Technik ist allerdings fehleranfällig. Sie versteht nicht immer die Zusammenhänge. Schließlich thematisieren auch journalistische Berichte und künstlerische Darstellungen Terror oder Gewalt, Kinderschutzorganisationen nutzen einschlägige Bezeichnungen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch auf ihren Webseiten oder Posts. Diese legitimen Berichte könnten mit dem Avia-Gesetz unverhältnismäßig leicht der Zensur zum Opfer fallen.
Weitreichende EU-Verordnung gegen "terroristische Inhalte"
Auf europäischer Ebene traf das "Avia-Gesetz" auf ein Gesetzesvorhaben mit einer ähnlichen Stoßrichtung: die 2018 von der Kommission vorgeschlagene "Verordnung zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Inhalte im Internet", kurz: TCO-Verordnung. TCO steht für "Terrorist Content Online".
Der Inhalt der TCO-Verordnung liest sich fast wortgleich zum Avia-Gesetz: Behörden dürfen EU-weit die Löschung "terroristischer Inhalte" von beliebigen Website-Betreibern anordnen. Innerhalb einer Stunde.
Trotz des Urteils des französischen Verfassungsrates nahm das EU-Parlament im April 2021 die TCO-Verordnung an. Der Rat hatte sie bereits im März verabschiedet. Politisch ausverhandelt hatten sie es im Dezember im Trilog.
Das Ergebnis sei ein Verhandlungskompromiss, erklärt Patrick Breyer – ein sehr bedenklicher.
"Ein klassisches Beispiel von Politikwäsche"
"Im Endeffekt lief gegen uns, dass die Mehrheit im Europäischen Parlament irgendein Ergebnis sehen wollte und dann Zugeständnisse gemacht hat. Problematisch ist, dass jetzt zum Beispiel die ungarische Regierung, also Viktor Orbán, auch Inhalte in Deutschland löschen lassen kann", kritisiert er.
"Innerhalb einer Stunde, wenn er sagt: Das ist ein terroristischer Inhalt. Das ist hochproblematisch, weil Antiterrorgesetze immer wieder auch für politische Zwecke missbraucht worden sind in der Vergangenheit."
Zum Beispiel gegen spanische Separatisten oder Künstler, gegen Proteste in Frankreich, gegen soziale Proteste, gegen Einwanderer in Ungarn, sagt Patrick Breyer. Als Schattenberichterstatter für seine Fraktion war er bei den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat dabei.
"Ich habe in den Verhandlungen immer gesagt: Ihr könnt doch nicht einfach dasselbe noch mal beschließen. Die Grundrechte gelten doch auch in der EU. Das ist aber übergangen worden. Also das war ein klassisches Beispiel von Politikwäsche", erzählt er.
"Venue Shopping" – für gezielte Machtinteressen
Das, was der Piraten-Politiker "Politikwäsche" nennt, nennen Politikwissenschaftler "Venue Shopping".
Raphael Bossong ist Experte für EU-Sicherheitspolitik bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin und erklärt im Café im Tiergarten das Konzept.
"Venue Shopping ist ein politikwissenschaftlicher Begriff. Da geht es darum, zu sagen, dass Entscheidungsträger sich diejenigen Foren – also Venues auf Englisch – raussuchen, in denen sie meinen, dass die Vorstellungen, die sie eben haben, am besten durchzusetzen sind", so Bossong.
"Also dass man sagt: Wenn ich mir jetzt aussuchen kann, gehe ich zur UN, gehe ich zum G7, gehe ich zur EU oder in andere informelle Formate, dann suche ich eben das Venue, wo ich die besten Chancen habe, eben meine Machtinteressen oder politischen Interessen zu realisieren."
"Eine illegitime Verschiebung findet statt"
Das sei grundsätzlich völlig legitim. Jeder politische Akteur mache das, von der NGO bis zur Regierung. Nur: "Der Begriff hat aber natürlich einen kritischen Unterton, so wird er zumindest meistens benutzt. Nämlich in dem Sinne, dass quasi eine illegitime Verschiebung stattfindet."
"Venue Shopping", um unbequeme Stimmen oder die Opposition auszubooten. Für Regierungen sei die EU dafür lange eine geeignete Bühne gewesen, sagt Raphael Bossong. Bis 2009, bis zum Vertrag von Lissabon, habe der Rat der Regierungen Entscheidungen hier nämlich weitgehend alleine gefällt. Das wirke nach. Außerdem sei Sicherheitspolitik immer sehr "exekutivlastig".
"Es ist meistens, sagen wir mal, eine Abwehrschlacht. Also die Sicherheitsinitiativen kommen, und dann werden ein bisschen eingefangen", vom Parlament, erklärt Raphael Bossong.
"Auf der anderen Seite: Eine Beförderung von Freiheitsrechten oder Vorschlägen, die, sagen wir mal, im einem liberalen Spektrum sind, die gibt es. Sie sind aber sehr viel seltener, wenn man das so vergleicht, dann kann man ganz klar sehen: Auf der Sicherheitszusammenarbeit ist eben sehr, sehr viel mehr passiert."
Intransparenz und Klauseln – die Prozesse auf EU-Ebene
Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin für die Linke im Bundestag. Ihre Erfahrung mit dem EU-Gesetzgebungsprozess ist vor allem eins: Er ist intransparent.
"Natürlich ist der Europäische Rat ein Gremium, wo Staaten, EU-Staaten ihre Interessen, die sie national nicht durchsetzen können über die nationalen Parlamente, sehr gerne dafür nutzen, um bestimmte Debatten aufzuweichen", sagt sie.
Als ein konkretes Beispiel nennt sie unter anderem die Gesetzgebung zur Fluggastdatenspeicherung. "Also die Fluggastdatenspeicherung wäre hier (im Bundestag) niemals so durchgegangen, also weil es auch hier schon Versuche gegeben hat, auf nationaler Ebene im Parlament, solche Datensammlungen anzulegen. Und es ist abgelehnt worden", erzählt sie.
Die Vorschläge seien in der Regel aus den Koalitionen im Parlament gar nicht rausgekommen, sagt Ulla Jelpke. Die EU-Regierungen wollten jedoch die Fluggastdatenspeicherung haben, für den Kampf gegen den Terrorismus. 2011 legte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie vor. "Und dann hat das Europäische Parlament protestiert, gesagt: Nein, wir wollen es nicht. Aber dann hat der Europäische Rat einen Kompromiss angeboten."
Doch der Kompromiss beinhaltete eine Öffnungsklausel. Nach dieser Klausel sollten alle EU-Staaten auch die Flugdaten innerhalb von Europa speichern können. Das haben sie ohne Wissen des Parlaments verabredet. Die Absprache dazu fand die Linke in einem Ratsprotokoll.
"Ich halte das für eine Farce, also von der Demokratie her, wie Prozesse in der EU ablaufen, wenn man hinterher feststellen muss, dass das Europäische Parlament, aber auch der Deutsche Bundestag oder die zuständigen Ausschüsse über etwas beraten, was eigentlich längst dann Einzelstaaten für sich entschieden haben", sagt Ula Jelpke.
Schwierige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit
Anfang Juni. Ein Besuch beim Europäischen Rat in Brüssel, der Vertretung der EU-Regierungen. Das weitgehend verglaste Gebäude dient als Presse- und Konferenzzentrum. Benannt ist es nach dem flämischen Philologen und Philosophen Justus Lipsius. Sein Werk schätzen seine Anhänger als "wohltemperierten Machiavellismus".
Eine Dame von der Pressestelle des Rates führt durch die hohe Empfangshalle. Unter dem Glasdach hat die gerade noch amtierende portugiesische Präsidentschaft Kunst von portugiesischen Künstlern zum Thema Umwelt, Gleichheit und Nachhaltigkeit ausgestellt.
Nach zwei Sicherheitsüberprüfungen geht es mit dem Fahrstuhl in eines der oberen Stockwerke, in einen hellen Besprechungsraum mit Videoleinwand und Topfpflanze - für ein Interview mit Gilles de Kerchove. Er ist einer der höchsten EU-Beamten im Bereich der Terrorismusabwehr und überzeugt: Wir brauchen in der EU mehr Sicherheit. Nicht weniger.
"Ich denke, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist eine schwierige. Die Privatsphäre ist der Wert Nummer eins in Brüssel. Und zwar in einem solchen Ausmaß, dass ich glaube, wir stoßen jetzt an die Grenzen." Der Belgier ist der Anti-Terrorbeauftragte der EU.
Zugriff auf verschlüsselte private Daten
Er sieht das Problem bei der Sicherheitsgesetzgebung nicht bei den Regierungen, sondern bei der Opposition im Parlament. Sie blockiere wichtige Sicherheitsvorhaben. Die Behörden bräuchten mehr Befugnisse.
"Wenn man also keinen Zugriff mehr auf den Inhalt hat, weil er verschlüsselt ist und man keinen Zugriff mehr auf die Metadaten hat, wird man, wie die Amerikaner sagen, blind", kritisiert er.
"Ist es das, was wir wollen? Wollen wir, dass die Polizei völlig blind ist gegen das organisierte Verbrechen? Gegen pädopornografische Kriminalität und Terrorismus? Nur um die Privatsphäre zu schützen? Natürlich müssen wir die Privatsphäre schützen, den Datenschutz und so weiter. Aber ich denke, in unserer Gesellschaft gibt es auch ein Bedürfnis nach Sicherheit."
Vor allem gegen Kinderpornografie müsse in jedem Fall mehr getan werden, wie EU-Innenkommissarin Ylva Johansson es mit dem Vorschlag zur ePrivacy Verordnung getan hat. Als erster Schritt müsse Verschlüsselung überwunden werden, zumindest um die Entwicklung von künstlicher Intelligenz zu ermöglichen, um diese pädopornografischen Inhalte zu blockieren.
"Ist es akzeptabel, dass wir diese Art von Werkzeug nicht nutzen wollen, um die Verbreitung von Pädopornografie im Internet zu stoppen? Das ist völlig verrückt. Die Leute, die die Privatsphäre über den Schutz der Kinder stellen, die machen mir Angst. Die jagen mir Angst ein."
Kritiker sind in "heikler Position"
30 Minuten Fußweg entfernt vom Ratsgebäude, im Hinterhof eines kleinen Cafés. Chloé Berthélémy ist politische Beraterin bei der EU-Bürgerrechtsinitiative European Digital Rights in Brüssel, kurz "EdRi". Mit ihrer Organisation ist sie genau eine der Fürsprecherinnen und Fürsprecher für die Wahrung der Privatsphäre, die Gilles de Kerchove kritisiert.
"Es ist wirklich schwer, sich gegen ein solches Sicherheitsgesetz zu stellen", sagt sie. "Wenn man dagegen ist, ist man in einer wirklich heiklen Position, weil man oft als Freund von Terroristen oder Beschützer von Pädophilen, oder wie auch immer man die schlimmsten Verbrecher auf der Welt nennt, dargestellt werden kann."
Chloé Berthélémy nimmt die TCO-Verordnung als Beispiel.
"Es besteht wirklich die Notwendigkeit, Sicherheitsbedrohungen anzugehen. Das finden wir auch. Das Problem aber ist, wenn man Regierungen riesige Zensurbefugnisse ohne richterliche Aufsicht in die Hand gibt, da sollte man sich fragen, wie diese genutzt werden", sagt sie.
Zweifel an der Wirksamkeit gegen Terrorismus
"Vor allem, wenn man Regierungen in Polen und Ungarn hat, die in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz nicht gerade eine gute Figur machen." Bei der TCO-Verordnung seien so viele Dinge einfach unnötig und unangemessen.
"Da sind so viele Dinge falsch mit dieser Verordnung. Erstens gibt es keine Beweise dafür, dass die Verordnung notwendig ist. Ich glaube, aus der eigenen Folgenabschätzung der Kommission ging hervor, dass in einer Umfrage nur sechs Prozent der Befragten erklärten, dass sie je terroristische Inhalte im Internet gesehen haben. Das ist so wenig. Es ist nicht wirklich signifikant", sagt Chloé Berthélémy.
Zweitens: Die Verordnung geht nicht wirklich an die Ursachen des Terrorismus. Es ist nicht so, dass die Terroristen plötzlich sagen werden: "Oh, sie löschen meinen Twitter-Account. Ich werde ab jetzt damit aufhören, andere zu terrorisieren." Das wird nicht passieren!"
Dass die Zensurmaßnahmen auch gegen Journalisten eingesetzt werden können oder die Opposition, wenn sie von Regierungen als Terroristen definiert werden, habe die meisten Mitgliedstaaten offenbar nicht sonderlich beunruhigt, meint Chloé Berthélémy.
Wie willfährig ist die EU-Kommission?
Besonders Frankreich und auch zum Teil Deutschland drängten auf die Umsetzung von Sicherheitsgesetzen, vorneweg deren Innenministerien. Die Kommission setze deren Wünsche meist bereitwillig um.
Ein Besuch bei der Europäischen Kommission bei Paul Nemitz, Chefberater bei der Generaldirektion der Justiz. Wir nehmen einen Seiteneingang. Nemitz begrüßt den Wachmann.
Das Erdgeschoss des Kommissionsgebäudes ist schmucklos, die Bürotüren dicht an dicht in einem langen Gang mit grauem Teppichfußboden, kahlen Kunststoffwänden und wenig Tageslicht. Nur vor Paul Nemitz‘ Büro sieht es etwas lebendiger aus.
Bevor Paul Nemitz Chefberater der Justiz wurde, war er der Direktor für Grundrechte und Bürgerrechte in der Kommission und leitete unter anderem die Reform der Datenschutzgesetzgebung in der EU. Außerdem vertritt er immer wieder die Kommission vor dem EuGH. Neben seinem Schreibtisch hängt ein Foto mit dessen Präsidenten. Und, schief, auf blauem Papier, ein Gebet für Europa.
Anders als Chloé Berthélémy von EdRi sieht Paul Nemitz die Kommission nicht als willfährigen Helfer der Regierungen. Sondern als Vermittler zwischen Rat und Parlament.
Regierungen gegen EU-Parlament
"Die Dynamik ist immer die gleiche: Die Mitgliedstaaten sind ja Exekutiven, und im Rat senken sie das Schutzniveau, was Grundrechte angeht. Ich meine, die Grundrechte richten sich ja gegen die Exekutive. Sie sind Schutzrechte der Bürger gegen ein zu weites Eingreifen in die Rechte der Einzelnen", erklärt er.
"Und da sind sich die Regierungen, vor allem die Innenminister, da immer recht schnell einig, dass man da sehr weit gehen muss. Wohingegen im Parlament als Vertreterorgan der Bürger in der Regel der Grundrechtsschutz dann erhöht wird. Und dann müssen sich ja beide Kammern einigen. Und in der Regel kommt man dann ungefähr da raus, wo man schon am Anfang stand, nämlich so ungefähr beim Schutzniveau des Vorschlags der Kommission."
Denn die Kommission antizipiere ja diesen Diskurs und dabei gelte das Gebot der Neutralität. Allerdings, das räumt Paul Nemitz auch ein, sei die personelle Zusammensetzung der Kommission jeweils entscheidend.
So lande die eine oder andere Verordnung und Richtlinie nach der Abstimmung in der EU beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, manchmal auch mehrmals.
EuGH als Hüter der Grundrechte
"Ja, es ist bei einigen Grundrechtsthemen leider so, dass auch wiederholte Urteile des EuGHs weder in den Mitgliedsstaaten noch in den EU-Institutionen zu einem ausreichenden Lernprozess führen", kritisiert er.
"Manchmal kann man da den Eindruck gewinnen, dass die Richter, die unabhängigen Richter in unserem System der Rechtsstaatlichkeit, die letzten sind, die noch mit Rigorosität auf der Durchsetzung der Grundrechte bestehen. Und das ist nichts Gutes."
Das Recht sei kein Hindernis, eine Grundrechtecharta nichts, was immer nur ärgerlich sei, sondern eine der großen Errungenschaften unserer Zivilisation.
"Und da müssen wir auch Versuchungen widerstehen, und diese Versuchung gibt es in der Politik immer wieder. Es gibt immer wieder die Versuchung der Macht, mal Fünf gerade sein zu lassen. Damit fängt es an und irgendwo wird es dann eben schlimmer, als nur mal Fünf gerade sein zu lassen. Und aus diesem Grund gibt es eben Systeme von checks and balances, also Machtteilung und gegenseitige Kontrolle und Kontrollmechanismen, um das zu verhindern."