"Sie können natürlich jeden Ort missbrauchen"
Wer als Architekt ein Stadion entwirft, muss immer damit rechnen, dass autoritäre Regime dieses für ihre Inszenierung missbrauchen. "Man kann sich einer Instrumentalisierung eigentlich gar nicht entziehen", sagt der Achitekt Volkwin Marg. Man könne aber mit seiner Architektur die geplante Inszenierung unterlaufen.
Katrin Heise: In Fußballstadien kann und soll es heiß hergehen, bei internationalen Ereignissen wie Europa- oder Weltmeisterschaften können die Gefühle besonders hochschlagen, sollen aber natürlich nicht umschlagen. Für die bevorstehende EM hat das Architektenbüro Gerkan, Marg und Partner, also GMP, die Stadien in Warschau und Kiew umgebaut. Erfahrung im Stadionbau hat das Büro weltweit. Architekten des Büros haben sich auch an der Kuratierung der Ausstellung "Choreografie der Massen" beteiligt, die von heute an in der Berliner Akademie der Künste gezeigt wird.
Vom Gründungspartner von GMP, Volkwin Marg, möchte ich jetzt gerne wissen, wie man ein Stadion eigentlich als Ort der Inszenierung der Massen entwirft. Schönen guten Tag, Volkwin Marg!
Volkwin Marg: Ja, guten Tag!
Heise: Gibt es ein Rezept, Herr Marg, um ein Stadion zu bauen oder eines umzubauen, in dem die Massen dann kochen werden?
Marg: Jedes Mal ein neues Rezept. Denn was man nicht haben möchte, ist immer das gleiche Stadion – so wenig, wie man immer das gleiche Spiel will.
Heise: Also die Tribünen ganz eng an das Feld ran bauen, das ist nicht das Rezept, um eben so richtig Stimmung zu machen?
Marg: Doch, schon, es geht darum, natürlich Dichte zu erzeugen, unmittelbar am Geschehen zu sein. Es geht darum, möglichst ideale Blickbeziehung, das heißt, relativ steil um das Spiel herumzusitzen, und es geht natürlich auch darum, nicht nur optisch das Spektakel zu erfahren, sondern auch akustisch, das heißt im Grunde genommen sind ja die heutigen Tribünendächer, egal ob aus Membran oder starr oder wie auch immer, wie Schalldeckel über einer Kanzel, wie wir das aus Kirchen kennen.
Heise: Würden Sie so weit gehen zu sagen, es gibt eine Choreografie der Massen durch Architektur?
Marg: Aber natürlich gibt es die! Es geht schon los auf dem Wege zum Stadion, ins Stadion, dann im Stadion, in der Pause und raus. Und es gibt natürlich sogar Mittel für die Choreografie der Massen, die sich selbst in Szene setzen, während des Spiels.
Heise: Da meinen Sie die Fans, die dann irgendwelche Zeichnungen zum Beispiel machen als Masse?
Marg: Na, nicht nur das. Natürlich demonstrieren sie auch optisch mit allem Möglichen. Aber denken Sie nur an die Selbstinszenierung akustisch, durch diese umlaufende Laola-Welle. Beim Berliner Stadion haben wir zum Beispiel eine Ringbeleuchtung, die umläuft und an der man sich sogar orientieren kann, wenn man das will, das kann man alles steuern.
Heise: So ein Rausch, in den Massen verfallen, das kann ja ein großartiges Erlebnis sein, es ist aber auch eine Gratwanderung zwischen Menschen, emotionalisieren auf der einen Seite und andererseits ja auch eine Gefahr irgendwie so ein bisschen, dass diese in Hysterie umkippt. Was kann die Architektur da noch bewirken?
Marg: Man muss genau wie jeder Einzelne, eben vor allem auch als Architekt wissen, dass der Massenrausch etwas ist, was instinktiv erfolgt. Er spricht Instinkte an, die wir aus der Vorzeit haben, aus Horde, aus Meute, lange bevor die Geschichte begann.
Und wir sind ja immer zwiegespaltene Wesen: Auf der einen Seite sind wir Individuen, die auf unsere Besonderheit und Einzigartigkeit und Abgrenzung Wert legen, und auf der anderen Seite suchen wir immer dieses gemeinsame Erleben, was unser eigenes Erleben ins Riesenhafte steigert. Das bedeutet, instinktive, das heißt unbewusste und von der Vernunft nicht mehr gesteuerte Handlung, und das muss man wissen, wenn man jetzt Massen choreografiert.
Heise: Orte der Masseninszenierung beinhalten ja eben auch die Gefahr, politisch vereinnahmt zu werden im totalitären Sinne eben. Wie gehen Sie als Architekt eigentlich mit so einer Verantwortung um? Welche Botschaft ist Ihnen da wichtig?
Marg: Sie können natürlich jeden Ort missbrauchen, jede Straße, jeden Platz, jede Halle und auch jedes Stadion. Allerdings kann man in der Art, wie man architektonisch eine Szenerie liefert, ein Bühnenbild liefert, schon Unterschiede machen. Denken Sie an die Inszenierung der olympischen Spiele '36 durch die Nationalsozialisten – alles im Marsch, im gleichen Rhythmus, in abgepackten Kolonnen, monumental, wuchtig, praktisch auf den Heldentod hin programmiert.
Oder denken Sie an die olympischen Spiele in München, alles in freier Form, alles transparent, alles landschaftlich, alles offen, beschwingte Gruppen, leider dann durch einen Terrorakt gestört, aber die Botschaft ist geblieben und heute ein beliebter Park. Ganz verschiedene Inszenierungen, die eine ganz verschiedene Stimmung erzeugen.
Heise: Das sind ja auch die beiden Stadien, die in der Ausstellung ganz besonders in Szene gesetzt werden und gezeigt werden, um eben da die Unterschiede auch herauszuarbeiten. Bleiben wir noch mal ein bisschen beim Heute: Wie entgeht man als Architekt eigentlich der Gefahr, instrumentalisiert zu werden mit seinem Werk? Also jetzt für Inszenierungen von Friede, Freude, Eierkuchen in Staaten, in denen eben vieles im Argen liegt.
Marg: Man kann sich einer Instrumentalisierung, einer Missbräuchlichkeit eigentlich gar nicht entziehen. Es ist wie ein Fahrzeug, mit dem man alles fahren kann: Es geht nur darum, ob das Milieu, das ich erzeuge, ob das einer solchen Inszenierung förderlich ist oder hinderlich. Also in Pjöngjang brauche ich abgepackte Massen im Marschtritt – wenn ich etwas unmöglich mache in dieser Art, bewegt sich die Masse frei. Viel mehr kann man mit Architektur und ihrer Choreografie nicht machen.
Heise: Beginnt diese Verantwortung nicht auch schon beim Bau? Also für beispielsweise in China oder Südafrika, für die Stadienbauten, sind auch mal Menschen, meist ärmere, meist ohne Lobby, umgesiedelt, zwangsumgesiedelt worden. Wird so was eigentlich auch diskutiert in einem Architektenbüro?
Marg: Aber selbstverständlich wird das diskutiert. Nur man baut ein Stadion für eine Gesellschaft. Ein Stadion hat eine Lebenserwartung über viele Generationen. In dieser Zeit wechseln die Herrschaftsformen in einer Gesellschaft aber sehr häufig.
Und wenn ich ein Beispiel nehme: Das Stadion in Kiew für die Ukraine haben wir zu planen begonnen, noch als die Ukraine sich von der Sowjetunion gelöst hatte, sich frei bestimmen wollte, dann haben wir es gebaut in der Zeit, als die Oligarchin Julia Timoschenko regierte. Und wir konnten nicht verhindern, dass es eingeweiht wurde von Janukowitsch, aber ich bin ganz sicher, es wird benutzt werden und weiterhin der Mittelpunkt von Kiew bleiben, wenn wir längst eine andere Regierungsform haben. Gesellschaft dauert etwas länger als ihre Regime.
Heise: Stadienbauten zur Choreografie der Massen – unser Thema heute im "Radiofeuilleton" und Thema einer Ausstellung der Akademie der Künste in Berlin anlässlich der Fußball-EM natürlich. Der Architekt Volkwin Marg ist an Stadienbauten sowohl in der Ukraine als auch in Polen und an der Ausstellung beteiligt. Herr Marg, die Ausstellung "Choreografie der Massen" spannt ja den Bogen sehr weit in die Vergangenheit auch. Wir haben ja eben auch schon so einige Punkte angesprochen, dieses Massenverhalten ist auch im alten Rom natürlich gelenkt worden. Was zeigt denn die Ausstellung?
Marg: Sie zeigt, dass bereits bei den Griechen es eigentlich bei den Olympiaden um paramilitärischen Vergleichskampf ging. Alle olympischen Disziplinen sind ja paramilitärisch aus der Antike. Bei den Römern ist es dann anders geworden, da geht es um die Ruhigstellung der Massen im Imperium, um sie leichter zu beherrschen, durch Brot und Spiele, das heißt, durch Spektakel, die am Schluss sogar sehr, sehr blutrünstig waren.
Und heute, das wird sehr deutlich, geht es ja nicht nur um patriotische Körperertüchtigung oder Gentlemen Sport, wie im 19. Jahrhundert in England, sondern heute geht es natürlich auch sehr häufig um massives Geschäft und die Instrumentalisierung der Lust am Sport der Massen für kommerzielle Zwecke. Und dann ist im Grunde genommen Korruption und Deformierung des Sports nicht mehr fern.
Heise: Sie haben ja das Olympiastadion Berlin '36 und das Olympiagelände München '72 schon angesprochen, das ist ja auch so ein Mittelpunkt der Ausstellung eben, und Sie haben die Lenkung der Massen architektonisch beschrieben, also im Block oder eben freilaufend. Das heißt, die Maßstäbe von damals, die gelten tatsächlich auch heute noch bei Stadienbauten heute im 21. Jahrhundert?
Marg: Ach, wissen Sie, die Menschen ändern sich in ihrer Beschaffenheit nicht so sehr, wie sie veranlagt sind, wie ihre Instinkte programmiert sind. Das einzige, was sich wirklich ändert und was sich auch ändern muss, ist ihre Kultivierung und ihre Zivilisierung. Darauf kommt es an, darauf kommt es insbesondere an, wenn sie sich in Massen zusammenfinden und ihren Emotionen freien Lauf lassen. Denn dann wird es gefährlich, weil dann der kontrollierende Verstand weg ist.
Heise: Herr Marg, muss man eigentlich, wenn man solche Stadien entwirft, auch ein Fan sein, jemand, der sich mit Massen mittragen lässt?
Marg: Nein, das muss man nicht. Das muss man so wenig sein wie ein Kranker, um ein Krankenhaus zu bauen. Man muss verstehen, was man tut. Und ich finde dieses Phänomen absolut faszinierend. Meine Enkel sind hingerissen über das, was da vorgeht, ich sehe das natürlich mit der Distanz des Erfahrenen, der das im Dritten Reich oder in der DDR erlebt hat, wie Massen auch sind und wie sie manipuliert werden. Es ist immer wieder die Herausforderung dort, das richtige Maß und die richtige Balance zu finden.
Heise: Werden Sie eigentlich dabei sein, wenn Ihre Stadien in ein paar Tagen eingeweiht werden?
Marg: Nein, das werde ich nicht. Ich mache das genau so wie mein Schwager, der hier in Berlin das Theater "Die Schaubühne" vor 50 Jahren gegründet hat, der ist auch nie bei einer Premiere dabei. Das überlasse ich anderen.
Heise: Sagt Volkwin Marg, Akademiemitglied und Gründungspartner des Architektenbüros gmp, das weltweit Stadien baut und umbaut, wie auch solche zu dieser EM. Vielen Dank, Herr Marg, für dieses Gespräch!
Marg: Ja, bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Service:
Die Ausstellung Choreographie der Massen ist noch bis zum 12. August 2012 in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz zu sehen.
Vom Gründungspartner von GMP, Volkwin Marg, möchte ich jetzt gerne wissen, wie man ein Stadion eigentlich als Ort der Inszenierung der Massen entwirft. Schönen guten Tag, Volkwin Marg!
Volkwin Marg: Ja, guten Tag!
Heise: Gibt es ein Rezept, Herr Marg, um ein Stadion zu bauen oder eines umzubauen, in dem die Massen dann kochen werden?
Marg: Jedes Mal ein neues Rezept. Denn was man nicht haben möchte, ist immer das gleiche Stadion – so wenig, wie man immer das gleiche Spiel will.
Heise: Also die Tribünen ganz eng an das Feld ran bauen, das ist nicht das Rezept, um eben so richtig Stimmung zu machen?
Marg: Doch, schon, es geht darum, natürlich Dichte zu erzeugen, unmittelbar am Geschehen zu sein. Es geht darum, möglichst ideale Blickbeziehung, das heißt, relativ steil um das Spiel herumzusitzen, und es geht natürlich auch darum, nicht nur optisch das Spektakel zu erfahren, sondern auch akustisch, das heißt im Grunde genommen sind ja die heutigen Tribünendächer, egal ob aus Membran oder starr oder wie auch immer, wie Schalldeckel über einer Kanzel, wie wir das aus Kirchen kennen.
Heise: Würden Sie so weit gehen zu sagen, es gibt eine Choreografie der Massen durch Architektur?
Marg: Aber natürlich gibt es die! Es geht schon los auf dem Wege zum Stadion, ins Stadion, dann im Stadion, in der Pause und raus. Und es gibt natürlich sogar Mittel für die Choreografie der Massen, die sich selbst in Szene setzen, während des Spiels.
Heise: Da meinen Sie die Fans, die dann irgendwelche Zeichnungen zum Beispiel machen als Masse?
Marg: Na, nicht nur das. Natürlich demonstrieren sie auch optisch mit allem Möglichen. Aber denken Sie nur an die Selbstinszenierung akustisch, durch diese umlaufende Laola-Welle. Beim Berliner Stadion haben wir zum Beispiel eine Ringbeleuchtung, die umläuft und an der man sich sogar orientieren kann, wenn man das will, das kann man alles steuern.
Heise: So ein Rausch, in den Massen verfallen, das kann ja ein großartiges Erlebnis sein, es ist aber auch eine Gratwanderung zwischen Menschen, emotionalisieren auf der einen Seite und andererseits ja auch eine Gefahr irgendwie so ein bisschen, dass diese in Hysterie umkippt. Was kann die Architektur da noch bewirken?
Marg: Man muss genau wie jeder Einzelne, eben vor allem auch als Architekt wissen, dass der Massenrausch etwas ist, was instinktiv erfolgt. Er spricht Instinkte an, die wir aus der Vorzeit haben, aus Horde, aus Meute, lange bevor die Geschichte begann.
Und wir sind ja immer zwiegespaltene Wesen: Auf der einen Seite sind wir Individuen, die auf unsere Besonderheit und Einzigartigkeit und Abgrenzung Wert legen, und auf der anderen Seite suchen wir immer dieses gemeinsame Erleben, was unser eigenes Erleben ins Riesenhafte steigert. Das bedeutet, instinktive, das heißt unbewusste und von der Vernunft nicht mehr gesteuerte Handlung, und das muss man wissen, wenn man jetzt Massen choreografiert.
Heise: Orte der Masseninszenierung beinhalten ja eben auch die Gefahr, politisch vereinnahmt zu werden im totalitären Sinne eben. Wie gehen Sie als Architekt eigentlich mit so einer Verantwortung um? Welche Botschaft ist Ihnen da wichtig?
Marg: Sie können natürlich jeden Ort missbrauchen, jede Straße, jeden Platz, jede Halle und auch jedes Stadion. Allerdings kann man in der Art, wie man architektonisch eine Szenerie liefert, ein Bühnenbild liefert, schon Unterschiede machen. Denken Sie an die Inszenierung der olympischen Spiele '36 durch die Nationalsozialisten – alles im Marsch, im gleichen Rhythmus, in abgepackten Kolonnen, monumental, wuchtig, praktisch auf den Heldentod hin programmiert.
Oder denken Sie an die olympischen Spiele in München, alles in freier Form, alles transparent, alles landschaftlich, alles offen, beschwingte Gruppen, leider dann durch einen Terrorakt gestört, aber die Botschaft ist geblieben und heute ein beliebter Park. Ganz verschiedene Inszenierungen, die eine ganz verschiedene Stimmung erzeugen.
Heise: Das sind ja auch die beiden Stadien, die in der Ausstellung ganz besonders in Szene gesetzt werden und gezeigt werden, um eben da die Unterschiede auch herauszuarbeiten. Bleiben wir noch mal ein bisschen beim Heute: Wie entgeht man als Architekt eigentlich der Gefahr, instrumentalisiert zu werden mit seinem Werk? Also jetzt für Inszenierungen von Friede, Freude, Eierkuchen in Staaten, in denen eben vieles im Argen liegt.
Marg: Man kann sich einer Instrumentalisierung, einer Missbräuchlichkeit eigentlich gar nicht entziehen. Es ist wie ein Fahrzeug, mit dem man alles fahren kann: Es geht nur darum, ob das Milieu, das ich erzeuge, ob das einer solchen Inszenierung förderlich ist oder hinderlich. Also in Pjöngjang brauche ich abgepackte Massen im Marschtritt – wenn ich etwas unmöglich mache in dieser Art, bewegt sich die Masse frei. Viel mehr kann man mit Architektur und ihrer Choreografie nicht machen.
Heise: Beginnt diese Verantwortung nicht auch schon beim Bau? Also für beispielsweise in China oder Südafrika, für die Stadienbauten, sind auch mal Menschen, meist ärmere, meist ohne Lobby, umgesiedelt, zwangsumgesiedelt worden. Wird so was eigentlich auch diskutiert in einem Architektenbüro?
Marg: Aber selbstverständlich wird das diskutiert. Nur man baut ein Stadion für eine Gesellschaft. Ein Stadion hat eine Lebenserwartung über viele Generationen. In dieser Zeit wechseln die Herrschaftsformen in einer Gesellschaft aber sehr häufig.
Und wenn ich ein Beispiel nehme: Das Stadion in Kiew für die Ukraine haben wir zu planen begonnen, noch als die Ukraine sich von der Sowjetunion gelöst hatte, sich frei bestimmen wollte, dann haben wir es gebaut in der Zeit, als die Oligarchin Julia Timoschenko regierte. Und wir konnten nicht verhindern, dass es eingeweiht wurde von Janukowitsch, aber ich bin ganz sicher, es wird benutzt werden und weiterhin der Mittelpunkt von Kiew bleiben, wenn wir längst eine andere Regierungsform haben. Gesellschaft dauert etwas länger als ihre Regime.
Heise: Stadienbauten zur Choreografie der Massen – unser Thema heute im "Radiofeuilleton" und Thema einer Ausstellung der Akademie der Künste in Berlin anlässlich der Fußball-EM natürlich. Der Architekt Volkwin Marg ist an Stadienbauten sowohl in der Ukraine als auch in Polen und an der Ausstellung beteiligt. Herr Marg, die Ausstellung "Choreografie der Massen" spannt ja den Bogen sehr weit in die Vergangenheit auch. Wir haben ja eben auch schon so einige Punkte angesprochen, dieses Massenverhalten ist auch im alten Rom natürlich gelenkt worden. Was zeigt denn die Ausstellung?
Marg: Sie zeigt, dass bereits bei den Griechen es eigentlich bei den Olympiaden um paramilitärischen Vergleichskampf ging. Alle olympischen Disziplinen sind ja paramilitärisch aus der Antike. Bei den Römern ist es dann anders geworden, da geht es um die Ruhigstellung der Massen im Imperium, um sie leichter zu beherrschen, durch Brot und Spiele, das heißt, durch Spektakel, die am Schluss sogar sehr, sehr blutrünstig waren.
Und heute, das wird sehr deutlich, geht es ja nicht nur um patriotische Körperertüchtigung oder Gentlemen Sport, wie im 19. Jahrhundert in England, sondern heute geht es natürlich auch sehr häufig um massives Geschäft und die Instrumentalisierung der Lust am Sport der Massen für kommerzielle Zwecke. Und dann ist im Grunde genommen Korruption und Deformierung des Sports nicht mehr fern.
Heise: Sie haben ja das Olympiastadion Berlin '36 und das Olympiagelände München '72 schon angesprochen, das ist ja auch so ein Mittelpunkt der Ausstellung eben, und Sie haben die Lenkung der Massen architektonisch beschrieben, also im Block oder eben freilaufend. Das heißt, die Maßstäbe von damals, die gelten tatsächlich auch heute noch bei Stadienbauten heute im 21. Jahrhundert?
Marg: Ach, wissen Sie, die Menschen ändern sich in ihrer Beschaffenheit nicht so sehr, wie sie veranlagt sind, wie ihre Instinkte programmiert sind. Das einzige, was sich wirklich ändert und was sich auch ändern muss, ist ihre Kultivierung und ihre Zivilisierung. Darauf kommt es an, darauf kommt es insbesondere an, wenn sie sich in Massen zusammenfinden und ihren Emotionen freien Lauf lassen. Denn dann wird es gefährlich, weil dann der kontrollierende Verstand weg ist.
Heise: Herr Marg, muss man eigentlich, wenn man solche Stadien entwirft, auch ein Fan sein, jemand, der sich mit Massen mittragen lässt?
Marg: Nein, das muss man nicht. Das muss man so wenig sein wie ein Kranker, um ein Krankenhaus zu bauen. Man muss verstehen, was man tut. Und ich finde dieses Phänomen absolut faszinierend. Meine Enkel sind hingerissen über das, was da vorgeht, ich sehe das natürlich mit der Distanz des Erfahrenen, der das im Dritten Reich oder in der DDR erlebt hat, wie Massen auch sind und wie sie manipuliert werden. Es ist immer wieder die Herausforderung dort, das richtige Maß und die richtige Balance zu finden.
Heise: Werden Sie eigentlich dabei sein, wenn Ihre Stadien in ein paar Tagen eingeweiht werden?
Marg: Nein, das werde ich nicht. Ich mache das genau so wie mein Schwager, der hier in Berlin das Theater "Die Schaubühne" vor 50 Jahren gegründet hat, der ist auch nie bei einer Premiere dabei. Das überlasse ich anderen.
Heise: Sagt Volkwin Marg, Akademiemitglied und Gründungspartner des Architektenbüros gmp, das weltweit Stadien baut und umbaut, wie auch solche zu dieser EM. Vielen Dank, Herr Marg, für dieses Gespräch!
Marg: Ja, bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Die Ausstellung Choreographie der Massen ist noch bis zum 12. August 2012 in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz zu sehen.