Sie sind Europäer: Sinti und Roma
Europa wächst zusammen, die Grenzen öffnen sich - aber die Sinti und Roma werden europaweit nach wie vor gerne ausgeschlossen, die Integration scheitert öfter als sie gelingt. Dabei hätten sie eigentlich ein Recht auf Teilhabe, meinte die Lyrikerin Esther Dischereit.
Die Roma und Sinti, die mit 12 Millionen heute Europas größte ethnische Minderheit darstellen, sind keineswegs Ortlose, aber Besitzlose. Ihre Teilhabe an Gesellschaft unterscheidet sie von den Mehrheitsbürgern erheblich. Während an den Hochschulen Erasmus-Programme die europäischen Zukunftsträger einander näher bringen sollen, mangelt es gegenüber Sinti und Roma bereits an der Bereitschaft, die Tür zu öffnen, wenn geklopft wird und "Guten Tag” zu sagen.
Es mehren sich die Stimmen, denen es leid tut um die schöne Freizügigkeit, wenn sie für alle in Europa lebenden Menschen gelten soll. Gegenüber Bulgaren und Rumänen – und unter ihnen den Roma - heißt EU-Erweiterung ohnehin weitere zwei Jahre Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Auch die deutschen Roma und Sinti, die seit mehr als 600 Jahren hier leben, sind vom Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft betroffen. Die Studie von RomnoKher in Mannheim über den Bildungsstand förderte zutage, dass 44 Prozent aller Befragten in drei Generationen über keinen Schulabschluss verfügten. Was ist da los? Sind die Roma und Sinti die Indigenen Deutschlands? Bildungsferne erblich? Anhaltende Diskriminierung und Rassismus sind weder gesund noch lernmotivierend.
Offenbar muss hier sowohl in der Gruppe selbst ein Prozess angestoßen werden, als auch bei den bildungsverantwortlichen Institutionen. Um Roma und Sinti in Deutschland angemessenen Wohnraum zu ermöglichen, bedarf es der Mitwirkung von Mediatoren. Der Eigentumswert sinkt, sobald eine als der Gruppe zugehörig erkannte Familie einzieht. Das widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz der Charta der EU und des Grundgesetzes.
Immerhin gibt es seit dem Jahr 2011 ein europäisches Rahmenprogramm, das für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 Maßnahmen vorsieht. Ausdrücklich weist die EU auf einen Fonds für regionale Entwicklung hin, um Zugang zu Wohnraum, Sozialwohnungen etc. zu realisieren. Es kommt darauf an, dass diese Fonds auch abgerufen werden. Migration innerhalb der EU ist rechtens. Die Verfolgung oder Vertreibung von Roma durch einen Nationalstaat verletzt EU-Recht.
Außerdem müssen die Kommunen zur Kenntnis nehmen, dass Menschen, die sich nicht selbst ernähren können, und bei ihnen wohnen, soziale Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Auch deshalb empfiehlt es sich, zusammen mit den Roma-Vertretern nach Strategien gegen die Armut und für Teilhabe zu suchen. Die Bedeutung der Roma-Zivilgesellschaften sollte gestärkt werden; wer sonst sollte den Betroffenen – insbesondere von Menschenhandel – das Recht auf Rechte nahebringen?
Philipp Schefflers Berlinale-Film "Revision” spricht von dieser Leerstelle, wenn er zeigt, wie es den Angehörigen von ermordeten Roma nicht gelingt, Recht zu bekommen. Deutsche Jäger auf der Pirsch hatten in die rumänische Gruppe geschossen und blieben bis heute straffrei.
Ein wenig Licht in einem dunklen Leben symbolisieren hingegen für einen Augenblick die Roma in dem preisgekrönten ungarischen Film "Das Turiner Pferd”. Als sie mit dem Gewehr verjagt werden, versiegt das Wasser im Brunnen, das Pferd legt sich hin zum Sterben und das Feuer im Herd verlöscht. Hier sind es diese "Anderen”, die aufbrechen, und das Glück ist mit ihnen. Eine Vorstellung aus der Romantik. Dass es allerdings besser ist, Béla Tarrs und Ágnes Hranitzkys trostloses Puszta-Gehöft zu verlassen, kann jeder verstehen.
Das "Raus hier” gegen die Roma hatte keine Perspektive. Brüssel unterstützt den Aufbau eines Roma-Netzwerks, gegen die extreme Armut, Förderung der Einbeziehung der Roma – oder anders ausgedrückt: Rom – Mensch – komm mit nach Europa.
Esther Dischereit, Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin, Theater- und Hörstückautorin, 1952 in Heppenheim/a.d.B. geboren; Studium in Frankfurt am Main; Gewerkschaftsreferentin; Kuratorin bis 2006, Berlin: contemporary art/new media; 1995 Fellow am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ab 1996 Gastlesungen an der University of Massachusetts, Amherst, Washington University of St. Louis, Cornell-University, Ithaca, MIT, Boston, University of California, Berkeley, Princeton University u.a. in USA und Kanada. 2004 Deutsches Haus New York, 2010 writer-in-residence Oberlin-College, USA.
Esther Dischereit erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Jüngste Arbeiten: "Nothing to know but Coffee to go", Hörstück DLR, 2007; ständige Klanginstallationen in Zus. mit Dieter Kaufmann, Eichengrün-Platz, Dülmen, 2008; Ausstellung Goethe-Institut, Jerusalem, 2009; "Der Morgen an dem der Zeitungsträger", Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007, "Im Toaster steckt eine Scheibe Brot", Vorwerk 8, Berlin, 2007; "Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus", Berlin, 2009; Tanzperformance zus. mit Holly Handman-Lopez "Yours Faithfully, 1933", 2010; "Anna Kaufmann" Wurfsendung DLR, 2012 - Erich-Fried-Preis
Es mehren sich die Stimmen, denen es leid tut um die schöne Freizügigkeit, wenn sie für alle in Europa lebenden Menschen gelten soll. Gegenüber Bulgaren und Rumänen – und unter ihnen den Roma - heißt EU-Erweiterung ohnehin weitere zwei Jahre Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Auch die deutschen Roma und Sinti, die seit mehr als 600 Jahren hier leben, sind vom Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft betroffen. Die Studie von RomnoKher in Mannheim über den Bildungsstand förderte zutage, dass 44 Prozent aller Befragten in drei Generationen über keinen Schulabschluss verfügten. Was ist da los? Sind die Roma und Sinti die Indigenen Deutschlands? Bildungsferne erblich? Anhaltende Diskriminierung und Rassismus sind weder gesund noch lernmotivierend.
Offenbar muss hier sowohl in der Gruppe selbst ein Prozess angestoßen werden, als auch bei den bildungsverantwortlichen Institutionen. Um Roma und Sinti in Deutschland angemessenen Wohnraum zu ermöglichen, bedarf es der Mitwirkung von Mediatoren. Der Eigentumswert sinkt, sobald eine als der Gruppe zugehörig erkannte Familie einzieht. Das widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz der Charta der EU und des Grundgesetzes.
Immerhin gibt es seit dem Jahr 2011 ein europäisches Rahmenprogramm, das für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 Maßnahmen vorsieht. Ausdrücklich weist die EU auf einen Fonds für regionale Entwicklung hin, um Zugang zu Wohnraum, Sozialwohnungen etc. zu realisieren. Es kommt darauf an, dass diese Fonds auch abgerufen werden. Migration innerhalb der EU ist rechtens. Die Verfolgung oder Vertreibung von Roma durch einen Nationalstaat verletzt EU-Recht.
Außerdem müssen die Kommunen zur Kenntnis nehmen, dass Menschen, die sich nicht selbst ernähren können, und bei ihnen wohnen, soziale Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Auch deshalb empfiehlt es sich, zusammen mit den Roma-Vertretern nach Strategien gegen die Armut und für Teilhabe zu suchen. Die Bedeutung der Roma-Zivilgesellschaften sollte gestärkt werden; wer sonst sollte den Betroffenen – insbesondere von Menschenhandel – das Recht auf Rechte nahebringen?
Philipp Schefflers Berlinale-Film "Revision” spricht von dieser Leerstelle, wenn er zeigt, wie es den Angehörigen von ermordeten Roma nicht gelingt, Recht zu bekommen. Deutsche Jäger auf der Pirsch hatten in die rumänische Gruppe geschossen und blieben bis heute straffrei.
Ein wenig Licht in einem dunklen Leben symbolisieren hingegen für einen Augenblick die Roma in dem preisgekrönten ungarischen Film "Das Turiner Pferd”. Als sie mit dem Gewehr verjagt werden, versiegt das Wasser im Brunnen, das Pferd legt sich hin zum Sterben und das Feuer im Herd verlöscht. Hier sind es diese "Anderen”, die aufbrechen, und das Glück ist mit ihnen. Eine Vorstellung aus der Romantik. Dass es allerdings besser ist, Béla Tarrs und Ágnes Hranitzkys trostloses Puszta-Gehöft zu verlassen, kann jeder verstehen.
Das "Raus hier” gegen die Roma hatte keine Perspektive. Brüssel unterstützt den Aufbau eines Roma-Netzwerks, gegen die extreme Armut, Förderung der Einbeziehung der Roma – oder anders ausgedrückt: Rom – Mensch – komm mit nach Europa.
Esther Dischereit, Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin, Theater- und Hörstückautorin, 1952 in Heppenheim/a.d.B. geboren; Studium in Frankfurt am Main; Gewerkschaftsreferentin; Kuratorin bis 2006, Berlin: contemporary art/new media; 1995 Fellow am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ab 1996 Gastlesungen an der University of Massachusetts, Amherst, Washington University of St. Louis, Cornell-University, Ithaca, MIT, Boston, University of California, Berkeley, Princeton University u.a. in USA und Kanada. 2004 Deutsches Haus New York, 2010 writer-in-residence Oberlin-College, USA.
Esther Dischereit erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Jüngste Arbeiten: "Nothing to know but Coffee to go", Hörstück DLR, 2007; ständige Klanginstallationen in Zus. mit Dieter Kaufmann, Eichengrün-Platz, Dülmen, 2008; Ausstellung Goethe-Institut, Jerusalem, 2009; "Der Morgen an dem der Zeitungsträger", Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007, "Im Toaster steckt eine Scheibe Brot", Vorwerk 8, Berlin, 2007; "Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus", Berlin, 2009; Tanzperformance zus. mit Holly Handman-Lopez "Yours Faithfully, 1933", 2010; "Anna Kaufmann" Wurfsendung DLR, 2012 - Erich-Fried-Preis