Siedler Verlag beklagt Publikationsverbot

Moderation: Dieter Kassel |
Rolf Giordano, Wolf Biermann, Arno Lustiger und weitere Autoren, Juristen und Historiker protestieren gegen das Verbot des Buchs "Deutsche Gerechtigkeit". Der Band aus dem Siedler Verlag soll verboten werden, weil ein Mann gegen seine Erwähnung im Zusammenhang mit den Mauerschützen an der deutsch-deutschen Grenze geklagt und in erster Instanz auch gewonnen hat.
Kassel: Rainer Dresen, Justitiar des Siedler Verlags, wird eine gewisse Auslegung des Persönlichkeitsrechts inzwischen tatsächlich zum Problem, zumindest für Sachbuchverlage?

Dresen: Also unserer Erfahrung nach ist es so, dass die Gerichte, es sind meistens immer dieselben Gerichte, dieselben Richter, nämlich die Pressekammern in Berlin und in Hamburg, auf Buchveröffentlichungen dieselben Maßstäbe anwenden, die bislang für Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge gelten.

Kassel: Das bedeutet was genau?

Dresen: Das bedeutet, dass man im Zweifel stets für die vermeintlichen Opfer entscheidet und Veröffentlichungen relativ schnell und schmerzlos für die Gerichte verbietet.

Kassel: Wenn Sie, bevor der Rechtsstreit, bevor der erste Briefverkehr begann, im Falle dieses Buches und im Falle eines Menschen, wo wir uns übrigens entschlossen haben, wir beide vorher, wir werden ihn Sven H. nennen - Nachname wäre schon wieder gefährlich in unserem Gespräch. Bevor das alles losging, wenn Sie da den Text des Buches schon gelesen hätten, hätten Sie Bedenken gehabt?

Dresen: Ich habe den Text des Buches gelesen, denn mittlerweile lese ich eigentlich alle Bücher, die bei uns in unserer Verlagsgruppe erscheinen, die Sachbücher mit juristisch kritischem Bezug sind oder die Romane sind mit einem tatsächlichen Hintergrund. Also solche Bücher lese ich tatsächlich im Vorfeld jedes Mal, und ich habe mir hier auch bei jeder einzelnen Namensnennung, und in diesem Buch kommen Hunderte von Namen vor, Gedanken gemacht, ob das rechtlich haltbar ist oder ob ich sie lieber streiche, und ich habe auch viele Namen gestrichen, wo ich Bedenken hatte. Bei Sven H. hatte ich auf Grund der Bedeutung des Falles diese Bedenken nicht, so dass ich auch überrascht war, dass das Gericht so entschieden hat.

Kassel: War das immer schon üblich, dass, also die Verlagsgruppe, die Sie erwähnt haben, zur Erklärung, ist Random House, war das immer schon üblich, dass ein Buch, wenn es auch nur heikel sein könnte, eigentlich vom Justitiar genauso schnell gelesen wird wie vom Lektor?

Dresen: Es wird sogar noch schneller gelesen als vom Lektor. Ich lese diese Texte meistens parallel oder sogar etwas vorher. Es kommt auch vor, dass ich Bücher eigentlich gar nicht erst zur Veröffentlichungen freigeben kann, wo ich dann dem Lektor empfehle, dieses Buch nicht zu drucken, weil es zu gefährlich ist. Aber das ist, wie Sie schon andeuten, eine Entwicklung, die erst die letzten Jahre zu verfolgen ist. Ich bin jetzt sieben Jahre Verlagsjustitiar, und die ersten zwei, drei Jahre war das ein Phänomen, das kannte ich von Kollegen aus den USA, die tatsächlich Bücher juristisch prüfen mussten. Bei mir kam das ganz selten vor. Mittlerweile hat sich das eher umgekehrt, die Kollegen aus den USA, die staunen über meine Berichte, über meine Praxis der letzten drei, vier Jahre.

Kassel: Was ist denn genau passiert? Sie haben am Anfang schon angedeutet, gerade in Hamburg und Berlin gibt es Gerichte, die in eine gewisse Richtung zu tendieren scheinen bei solchen Entscheidungen, aber die müssen ja auch ihre Gründe dafür haben, dass sie das in den letzten Jahren tun. Was ist da passiert?

Dresen: Ich nehme an, es liegt tatsächlich an der Kommerzialisierung der Medien insgesamt, dass man einfach auch als Richter, der ja Mediennutzer ist, den Eindruck hat, dass überall, in allen Medien, Persönlichkeitsschicksale geschildert werden, die vielleicht zu stark ins Private, ins Intime gehen. Dass in vielen Fällen die vermeintlich Betroffenen das selber lanciert haben, das verliert man vielleicht manchmal aus den Augen, wobei ich nicht meine, dass es im vorliegenden Fall auch so ist. Aber der Eindruck ist vielleicht aufgekommen bei den Juristen, dass hier des Guten zu viel getan wurde und dass man jetzt Einhalt gebieten muss.

Kassel: Sie haben den Vergleich mit den USA ja selber vorhin schon gemacht, wenn Sie mit Kollegen, die in ähnlichen Funktionen in US-Verlagen tätig sind, gesprochen haben und sprechen. Nun ist es in Amerika aber ja in einigen Punkten anders, was das Rechtswesen angeht. Es gibt diesen berühmten Scherz, wenn Sie da einen Autounfall haben, kommt lange vor der Polizei ein Anwalt, der Ihnen sofort anbietet, auf Schadenersatz zu klagen in Millionenhöhe. Das heißt, in den USA geht es ja oft auch bei solchen Prozessen darum, dass jemand mit dem Buch, gegen das er klagt, einfach noch mal indirekt Geld verdienen will mit seinen Persönlichkeitsrechten. Spielt das in Deutschland auch eine Rolle?

Dresen: Es spielt vielleicht eher eine Rolle, was die Anwälte betrifft, denn derartige Prozesse sind ein wunderbares Vehikel für Anwälte, Werbung zu machen, die ansonsten ja standesrechtlich problematisch ist, aber auch nicht so als seriös angesehen wird. Wenn ein Anwalt Werbeanzeigen schalten würde, das würde ein Mandant nicht sehr beeindruckend finden. Wenn aber ein Anwalt in Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksamen Prozessen genannt wird, und zwar wiederholt mit verschiedenen Mandanten, dann beeindruckt das die Mandanten tatsächlich, und für Anwälte ist es eine Versuchung, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zu prozessieren, und einmal zu lautstark als einmal zu leise zu agieren.

Kassel: Sie haben gesagt, dass Sie als Justitiar sich oft genug gezwungen sehen, dem Verlag Änderungen in Büchern vorzuschlagen, manchmal sogar, wenn diese Änderungen sehr umfangreich sein müssten, zu sagen, das Buch können wir so gar nicht machen. Wie gehen Sie da genau vor, sagen Sie dann wirklich, das ist das, wo ich es einsehe, das ist eine Verletzung des Persönlichkeitsrechtes, oder sagen Sie, ich selber würde es vielleicht anders sehen, aber ich glaube, damit kommen wir vor Gericht nicht durch?

Dresen: In manchen Fällen ist es tatsächlich so, dass vielleicht die Autoren die Rechtssprechung nicht kennen und zu sehr auf ihren Text achten und meinen, das ist doch aber interessant und vielleicht auch lustig, unterhaltsam, das muss doch berichtet werden, und da muss man dann die Autoren ein bisschen vor sich selber schützen und sagen, das ist zwar vielleicht lesenswert für alle außer den Betroffenen, aber die Betroffenen müssen das tatsächlich nicht hinnehmen, Schilderungen aus der persönlichen Lebenssphäre, irgendwelche Liebesgeschichten. Solche Dinge muss man tatsächlich heute nicht mehr drucken, ohne dass man auf die Betroffenen achtet.

Kassel: Das ist jetzt aber ja bei dem Buch, das wir zum Anlass nehmen für dieses Gespräch, eindeutig anders. Sven H., der Mann, der geklagt hat gegen den Verlag und der in erster Instanz auch erstmal gewonnen hat im Februar, der ist ja selber oft an die Öffentlichkeit gegangen, er hat für ein anders Buch ein Interview über seine Vergangenheit gegeben, er hat für den Westdeutschen Rundfunk vor der Kamera gestanden und geplaudert. Wie kann der denn jetzt plötzlich vor Gericht damit durchkommen, dass er sagt, ich möchte nicht ohne meine Erlaubnis in dem Buch erwähnt werden?

Dresen: Also das Gericht hat sich das auch nicht allzu leicht gemach, die haben schon unsere Argumente gewichtet, aber sie sagten, im Buch steht drin, Sven H. "(Politoffizier des Grenzregiments 33)", und da sagte das Gericht, es könnte sein, dass unbedarfte Leser den Eindruck gewinnen, dass Sven H. der wichtigste Politoffizier war, nicht nur einer von vielen, und dass er mindestens genauso viel Schuld auf sich geladen hat wie die Mauerschützen selber und die unmittelbaren Befehlsgeber. Wir haben nie behauptet, dass er den direkten Schießbefehl gegeben hat, wir haben auch nie behauptet, er sei der wichtigste Politoffizier gewesen, aber wir hatten Informationen, dass er Jugendoffizier war, und zwar in dem Zeitraum drei, vier Monate vor den tödlichen Schüssen auf das letzte Maueropfer, also er war tatsächlich Jugendoffizier im Stab des Grenzregiments 33, und dort, so sagt das "Handbuch für politische Arbeit in den Truppenteilen und Einheiten der Nationalen Volksarmee", dort hatte er die Aufgabe, die führende Rolle der SED mittels des Jugendverbandes FDJ durchzusetzen und – das Wichtigste jetzt – die jungen Armeeangehörigen und Grenzsoldaten zielgerichtet so zu erziehen, dass sie bereit und fähig sind, ihre militärischen Pflichten gemäß dem Fahneneid zu erfüllen. Das ist unseres Erachtens ein Umstand gewesen, der es rechtfertigt, ihn hier auf die Stufe der juristisch Verantwortlichen zu stellen und eine zumindest moralische Mitschuld der Öffentlichkeit darzulegen.

Kassel: Die moralische Schuld in dem Fall allerdings wirklich auch von Sven H. ist ja auch eine Frage, mit der sich diese Prominenten beschäftigt haben, die nun in ihrem Aufruf sagen, das kann nicht sein, dass so ein Buch einfach verboten wird. Sie sind Jurist, und Sie müssen sich auch darauf vorbereiten, dass im März 2007 vor der nächsten Instanz vor Gericht noch mal endgültig entschieden wird, was nun wird in dieser Sache, aber können Sie so einen Unterschied sehen zwischen einer wirklich rechtlichen Schuld und einer moralischen Schuld?

Dresen: Ja, den Unterschied sehe ich schon, wobei ich denke, in diesem Fall verwischen die Unterschiede, denn die rechtliche Schuld liegt ganz klar bei einem der vier Mauerschützen. Vier haben wohl geschossen, aber es ist nachweisbar, dass nur einer getroffen hat. Einer hat wohl absichtlich daneben gezielt, zwei haben irgendwie versehentlich daneben gezielt. Die juristische Schuld dieser vier jungen Männer steht fest oder zumindest des Haupttäters, aber ich bin der Ansicht, dass die moralische Schuld mindestens genauso hoch zu bewerten ist von jemand, der wusste, was er hier mit diesen jungen Leuten anzustellen hat, um aus normalen – in Anführungsstrichen – DDR-Bürgern Menschen zu machen, die auf Mitbürger schießen. Vor allem der Hauptschütze hat in seinem Strafprozess mitgeteilt, dass er bis zum Zeitpunkt seines Eintretens in die Grenztruppen davon überzeugt war, dass man nicht auf Menschen schießen darf. Erst durch die psychologische Behandlung, die er dort erfahren hat, wurde er sozusagen so umgewandelt, dass er bereit war, auf Mitbürger zu schießen. Ich denke, da verwischt wirklich die Grenze zwischen moralischer und juristischer Schuld, und das ist ein Umstand, der in so einem Buch durchaus mal angeführt werden sollte.

Kassel: Herzlichen Dank für das Gespräch! Rainer Dresen war das. Er ist Justitiar der Verlagsgruppe Random House und damit auch zuständig für den Siedler Verlag, dessen Buch "Deutsche Gerechtigkeit" erscheinen darf – oder nicht. Die endgültige Entscheidung wird im März gefällt.
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