Sieg des Altruismus
Der Autor breitet vor seinen Lesern ein faszinierendes, an Bildern und Geschichten reiches Panorama der Entwicklungsgeschichte aus. Im Mittelpunkt steht der Gewinn, der für den Einzelnen erst möglich wird, wenn er sich mit anderen zusammentut.
Jede Zeit stellt ihre eigenen Fragen, und die Wissenschaft bemüht sich, die Antworten darauf zu finden. Gar so frei ist sie also nicht: Wissenschaft reagiert auf die Probleme in der Gesellschaft. Nun ist der Egoismus vermutlich zur Genüge erforscht: Er bot die Grundlagen für die großen Theorien der Ökonomie, er ist das Prinzip, das dem Behaviorismus in der Psychologie zugrunde liegt – er ging sogar ein in die amerikanische Verfassung, die jedem Menschen das Recht gewährt, vor allem anderen sein eigenes Glück zu verfolgen. Und viele haben es seither zur Maxime ihres Handelns erhoben. Gordon Gekko zum Beispiel, das Rollenvorbild aller Börsenspekulanten und -Hasardeure, war natürlich ein Amerikaner.
Die Zeit war überreif, sich auf den Antagonisten dieses Prinzips zu besinnen – statt des Egoismus nun auf den Altruismus. Oder um es für die nüchternen Nutzen-Analytiker nicht gar zu unvermittelt und schockierend zu formulieren: auf den Gewinn, der auch für den Einzelnen erst möglich wird, wenn er sich mit anderen zusammentut.
Wenn er den eigenen Vorteil hinten anstellt – zumindest für ein Weilchen, für ein überschaubares Projekt oder im Interesse einer vorausblickenden Taktik –, wenn er sich einordnet und sich zum Diener einer größeren Sache macht. Neu ist das nicht. Schon die Steinzeitmenschen wussten es: Ein einzelner Jäger kann vielleicht ein Karnickel erlegen – für ein Mammut braucht es eine Mannschaft, ein Team, in dem jeder seine Aufgabe hat: anschleichen, ablenken, von hinten zustoßen. Damit alle am Ende die fette Beute teilen können.
Stefan Klein kann seine Tour durch die Geschichte der notwendigen, der unvermeidlichen und am Ende immer: der lebensklugen Gemeinsamkeit also auf ganz grundlegendem Niveau beginnen. Nicht in den ätherischen Gefilden der Ethik und der Moral – sondern mit der Biologie, der Biochemie, der Genetik; zur besseren Illustration auch mit der Ethnologie, der Lehre von den Völkern und ihren Traditionen.
Die Ik etwa, ein Naturvolk in den Wäldern von Uganda: Seit Jahrtausenden waren sie es gewohnt, gemeinsam zu jagen und danach zu teilen. Aber eines Tages wurde die Beute rar, der Fortschritt forderte wohl seinen Tribut. Die Schlauesten und Schlitzohrigsten unter den Jägern schlugen sich in die Büsche und sorgten zunächst einmal für sich selbst. Sie verhielten sich nach den Regeln des Wettbewerbs, der ja bekanntlich nur das Beste in uns hervorbringt – und ein ganzes Gemeinwesen geriet ins Wanken. So wird einmal der Homo oeconomicus in die Welt gekommen sein, der stets streng ökonomisch, vernünftig und rational handelnde Mensch, der immer wieder als Idealbild herhalten musste. Bisweilen aber auch als traurige Figur:
"Viel wurde über den Homo oeconomicus schon gelästert. Er ist ein gedachter Idealmensch, der für Lohn alles tut, ohne Lohn nichts, und der sich in jeder Sekunde streng logisch verhält. Man will ihm nicht einmal im Albtraum begegnen, weil Homo oeconomicus, wie es der Londoner Wirtschaftsjournalist Tim Harwood ausgedrückt hat, 'für einen Euro seine eigene Großmutter erwürgt – vorausgesetzt natürlich, dass die dafür nötige Zeit den Wert eines Euros nicht übersteigt.' Turnbulls Ik kommen diesem unsympathischen Gesellen sehr nahe. Tatsächlich schildert ein späteres Kapitel seines Buchs, wie die Ik Alte und Kranke ihrem Schicksal überlassen und wie ein alter Mann verhungert, weil seine Kinder ihm das Essen vom Teller wegschnappen."
Jede Ähnlichkeit zur Realität der Altenheime und Sozialstationen außerhalb der Wälder von Uganda ist willkommen. Sie liegt in der Absicht des Autors. Klein breitet vor seinen Lesern ein faszinierendes, an Bildern und Geschichten reiches Panorama der Entwicklungsgeschichte aus.
Und merkwürdig: Irgendwie erfüllt es den Leser mit einer gewissen Genugtuung gegenüber all den Gordon Gekkos dieser Welt, all den Dränglern und Ellbogenmenschen und Egozentrikern, wenn er erfährt, dass – evolutionshistorisch betrachtet – die Gemeinsamkeit überhaupt erst Voraussetzung war für die Entwicklung eines hoch differenzierten Gehirns, eines zu Spezialisierung und Arbeitsteilung, zu Denken und Planen und auch zur Moral fähigen Zentralnervensystems. Und dass jeder Versuch, sich von alledem abzukoppeln und auf den Ego-Trip zu gehen, irgendwann dann doch in der Sackgasse gelandet ist.
Es bisschen schade ist allenfalls, dass Klein sich in seiner Argumentation gar zu sehr auf die Naturwissenschaften stützt. Er zitiert biochemische und pharmakologische Befunde seitenlang, bestaunt die bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie – den Psychologen Daniel Kahnemann aber, der für seine Entzauberung des Homo oeconomicus 2002 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet wurde, erwähnt er kein einziges Mal. Dabei sind es immer wieder gerade Psychologen, in deren Studien der Sinn des Gebens besonders klar zu erkennen ist – etwa in der Studie der kanadischen Psychologin Elizabeth Dunn:
"Eine Unbekannte klingelt an Ihrer Tür und fragt, wie es Ihnen geht. Als Dank für Ihre Auskunft reicht sie Ihnen einen Umschlag mit 50 Euro darin. Sie dürfen sich mit dem Geld kaufen, was Sie wollen. Allerdings müssen Sie es bis Sonnenuntergang ausgeben. Dann besucht die merkwürdige Fremde Ihren Nachbarn. Auch er soll sagen, wie er sich fühlt, und erhält 50 Euro – unter der Bedingung allerdings, dass er sie verschenkt.
Nach Einbruch der Dunkelheit läutet Ihr Telefon. Es ist die Unbekannte. Sie möchte wissen, was Sie sich Schönes gekauft haben – und wie es Ihnen jetzt geht. Dieselbe Frage muss Ihr Nachbar beantworten. Wer ist mit dem Geld nun glücklicher geworden? Die gute Fee hat schon viele Menschen befragt, und immer waren diejenigen, die mit dem Geld anderen eine Freude bereiten sollten, am Abend in besserer Stimmung."
Stefan Klein: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010
Die Zeit war überreif, sich auf den Antagonisten dieses Prinzips zu besinnen – statt des Egoismus nun auf den Altruismus. Oder um es für die nüchternen Nutzen-Analytiker nicht gar zu unvermittelt und schockierend zu formulieren: auf den Gewinn, der auch für den Einzelnen erst möglich wird, wenn er sich mit anderen zusammentut.
Wenn er den eigenen Vorteil hinten anstellt – zumindest für ein Weilchen, für ein überschaubares Projekt oder im Interesse einer vorausblickenden Taktik –, wenn er sich einordnet und sich zum Diener einer größeren Sache macht. Neu ist das nicht. Schon die Steinzeitmenschen wussten es: Ein einzelner Jäger kann vielleicht ein Karnickel erlegen – für ein Mammut braucht es eine Mannschaft, ein Team, in dem jeder seine Aufgabe hat: anschleichen, ablenken, von hinten zustoßen. Damit alle am Ende die fette Beute teilen können.
Stefan Klein kann seine Tour durch die Geschichte der notwendigen, der unvermeidlichen und am Ende immer: der lebensklugen Gemeinsamkeit also auf ganz grundlegendem Niveau beginnen. Nicht in den ätherischen Gefilden der Ethik und der Moral – sondern mit der Biologie, der Biochemie, der Genetik; zur besseren Illustration auch mit der Ethnologie, der Lehre von den Völkern und ihren Traditionen.
Die Ik etwa, ein Naturvolk in den Wäldern von Uganda: Seit Jahrtausenden waren sie es gewohnt, gemeinsam zu jagen und danach zu teilen. Aber eines Tages wurde die Beute rar, der Fortschritt forderte wohl seinen Tribut. Die Schlauesten und Schlitzohrigsten unter den Jägern schlugen sich in die Büsche und sorgten zunächst einmal für sich selbst. Sie verhielten sich nach den Regeln des Wettbewerbs, der ja bekanntlich nur das Beste in uns hervorbringt – und ein ganzes Gemeinwesen geriet ins Wanken. So wird einmal der Homo oeconomicus in die Welt gekommen sein, der stets streng ökonomisch, vernünftig und rational handelnde Mensch, der immer wieder als Idealbild herhalten musste. Bisweilen aber auch als traurige Figur:
"Viel wurde über den Homo oeconomicus schon gelästert. Er ist ein gedachter Idealmensch, der für Lohn alles tut, ohne Lohn nichts, und der sich in jeder Sekunde streng logisch verhält. Man will ihm nicht einmal im Albtraum begegnen, weil Homo oeconomicus, wie es der Londoner Wirtschaftsjournalist Tim Harwood ausgedrückt hat, 'für einen Euro seine eigene Großmutter erwürgt – vorausgesetzt natürlich, dass die dafür nötige Zeit den Wert eines Euros nicht übersteigt.' Turnbulls Ik kommen diesem unsympathischen Gesellen sehr nahe. Tatsächlich schildert ein späteres Kapitel seines Buchs, wie die Ik Alte und Kranke ihrem Schicksal überlassen und wie ein alter Mann verhungert, weil seine Kinder ihm das Essen vom Teller wegschnappen."
Jede Ähnlichkeit zur Realität der Altenheime und Sozialstationen außerhalb der Wälder von Uganda ist willkommen. Sie liegt in der Absicht des Autors. Klein breitet vor seinen Lesern ein faszinierendes, an Bildern und Geschichten reiches Panorama der Entwicklungsgeschichte aus.
Und merkwürdig: Irgendwie erfüllt es den Leser mit einer gewissen Genugtuung gegenüber all den Gordon Gekkos dieser Welt, all den Dränglern und Ellbogenmenschen und Egozentrikern, wenn er erfährt, dass – evolutionshistorisch betrachtet – die Gemeinsamkeit überhaupt erst Voraussetzung war für die Entwicklung eines hoch differenzierten Gehirns, eines zu Spezialisierung und Arbeitsteilung, zu Denken und Planen und auch zur Moral fähigen Zentralnervensystems. Und dass jeder Versuch, sich von alledem abzukoppeln und auf den Ego-Trip zu gehen, irgendwann dann doch in der Sackgasse gelandet ist.
Es bisschen schade ist allenfalls, dass Klein sich in seiner Argumentation gar zu sehr auf die Naturwissenschaften stützt. Er zitiert biochemische und pharmakologische Befunde seitenlang, bestaunt die bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie – den Psychologen Daniel Kahnemann aber, der für seine Entzauberung des Homo oeconomicus 2002 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet wurde, erwähnt er kein einziges Mal. Dabei sind es immer wieder gerade Psychologen, in deren Studien der Sinn des Gebens besonders klar zu erkennen ist – etwa in der Studie der kanadischen Psychologin Elizabeth Dunn:
"Eine Unbekannte klingelt an Ihrer Tür und fragt, wie es Ihnen geht. Als Dank für Ihre Auskunft reicht sie Ihnen einen Umschlag mit 50 Euro darin. Sie dürfen sich mit dem Geld kaufen, was Sie wollen. Allerdings müssen Sie es bis Sonnenuntergang ausgeben. Dann besucht die merkwürdige Fremde Ihren Nachbarn. Auch er soll sagen, wie er sich fühlt, und erhält 50 Euro – unter der Bedingung allerdings, dass er sie verschenkt.
Nach Einbruch der Dunkelheit läutet Ihr Telefon. Es ist die Unbekannte. Sie möchte wissen, was Sie sich Schönes gekauft haben – und wie es Ihnen jetzt geht. Dieselbe Frage muss Ihr Nachbar beantworten. Wer ist mit dem Geld nun glücklicher geworden? Die gute Fee hat schon viele Menschen befragt, und immer waren diejenigen, die mit dem Geld anderen eine Freude bereiten sollten, am Abend in besserer Stimmung."
Stefan Klein: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010