Siegen um jeden Preis
Der Ball im Tor, die Bestzeit beim Schwimmen, der weiteste Wurf - das sind die Erfolgsgeschichten unserer Zeit. Wie viel Mühsal dahinter steckt und ob es sich lohnt, ist eine ganz andere Frage. Ein Gespräch mit der Speerwerferin Steffi Nerius und dem Arbeitssoziologen Heiner Minssen.
Maike Albath: Herzlich willkommen zu Lesart Spezial, heute aus dem Grillo Theater in Essen, in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut und der Buchhandlung "Proust". Medienpartner sind die Westdeutsche Allgemeine Zeitung und das Schauspiel Essen.
Der Ball im Tor, die Bestzeit beim Schwimmen, der weiteste Wurf, eine Firmenübername oder ein Spitzengehalt, das sind die Erfolgsgeschichten unserer Zeit. Wie viel Mühsal dahinter steckt und ob es sich lohnt, ist eine ganz andere Frage. "Siegen um jeden Preis? Das Streben nach Erfolg" lautet das Thema unserer Sendung.
Was ein Sieg bedeutet beschäftigt naturgemäß immer wieder Sportler. Ein Schwimmer und eine Speerwerferin haben Bücher darüber geschrieben, über die wir uns mit unseren Gästen unterhalten wollen. Die Leichtathletin und Weltmeisterin im Speerwerfen Steffi Nerius ist die Verfasserin des Bandes "Der ganz große Wurf". Guten Tag, Frau Nerius.
Steffi Nerius: Schönen guten Tag.
Maike Albath: Eingeladen haben wir außerdem einen Experten für Arbeit, Heiner Minssen, Professor für Soziologie am Institut für Arbeitswissenschaft der Universität Bochum. Guten Tag, Herr Minssen.
Heiner Minssen: Guten Tag.
Maike Albath: Steffi Nerius, Sie waren Weltmeisterin im Speerwerfen 2009. Wie haben Sie das geschafft?
Steffi Nerius: Tja, gute Frage. Auf manche Fragen hat man tatsächlich keine Antwort. Es ist schon so gewesen, dass das ein langer Weg war. Und es war überhaupt gar nicht mein Ziel. Also, ich bin jetzt nicht bewusst da hingefahren, ich möchte jetzt hier Weltmeisterin werden, sondern ich wollte meinen letzten Wettkampf machen von einer ganz langen Karriere und wollte einfach nur dieses Gefühl genießen. Meine erste Weltmeisterschaft war 1993 in Stuttgart und meine letzte dann 2009 in Berlin. Und ich bin einfach da hingefahren, war super gut vorbereitet, hatte eine gute Form und wollte einfach mich vor heimischem Publikum anständig verabschieden in den sportlichen Ruhestand und wollte tatsächlich sechs Würfe haben. Das heißt, schon unter die ersten acht kommen. Und mein Ziel war es tatsächlich an dem Tag, den perfekten Wurf zu machen, dass ich einfach sage, ich hab alles rausgeholt, was an dem Tag möglich war. Ich hab sowieso keinen Einfluss auf die Konkurrenz. Wenn einer weiter wirft, wirft einer weiter, aber ich möchte einfach zufrieden sein und mich anständig vorm heimischen Publikum verabschieden.
Ja, ich hab dann im ersten Versuch tatsächlich einen raus gehauen und war zufrieden mit dem Wurf. Also, es war so, dass ich wirklich gedacht habe, das war genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. So sollte es sein. Ich bin dann auch zu meinem Trainer gegangen und hab gesagt, ich kann noch weiter werfen. Ich hatte ja noch theoretisch fünf Versuche. Und er so: Na klar. Was soll er sagen? Klar, kannst du noch weiter werfen. – Und ja. Dann hat irgendwie im ganzen Wettkampf kein Mensch weiter geworfen von den Speerwerferinnen, weil sie doch ein bisschen geschockt waren. Und mit einem mal war ich Weltmeisterin. Also, das war jetzt nicht geplant und das war ein super schöner Karriereabschluss.
Maike Albath: So, wie Steffi Nerius es jetzt beschreibt, Herr Minssen, war es ja gerade diese entspanntere Haltung offenkundig, die ihr geholfen hat, über das Ziel sogar hinauszuschießen. Wie ist das mit dem Ehrgeiz und dem, was man sich vornimmt und den Möglichkeiten, das dann zu erreichen? Erkennt man das aus dem Buch von Steffi Nerius, welches da auch ihre Strategien waren?
Heiner Minssen: Also, das erkennt man schon. Das erkennt man auch ein Stückchen aus dem Buch von Michael Groß, dass der Versuch, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und nur dieses eine Ziel im Auge zu haben und ganz ehrgeizig nur dieses Ziel zu verfolgen, dass das häufig schief geht oder nach den Autorinnen, Autoren schief geht, weil da eine gewissermaßen Überspannung reinkommt. Frau Nerius schreibt ja auch häufiger auch von der Nervosität, die sie in dem Wettkampf gehabt hatte, dass, wenn man sich ein ganz hohes Ziel gesetzt hatte, dann nicht mehr so vermutlich entspannt da reingeht, wie das eigentlich notwendig ist, und dann diese wirklich sehr bewundernswerten Leistungen zustande zu kriegen.
Maike Albath: Wie kam es denn überhaupt dazu, dass Sie Sportlerin geworden sind, Frau Nerius? Gab es so ein Grundgefühl schon bei Ihnen zu Hause, auch den Wunsch, sich körperlich beweisen zu wollen? Gab's da einen Ehrgeiz?
Steffi Nerius: Also, erstmal meine Eltern, man ist ja so ein bisschen vorgeschädigt, die sind beide Sportlehrer, beide Geografielehrer. Mein Bruder ist auch sportlich und irgendwie ist man einfach so reingewachsen in die Familie. Meine Mutter war auch Speerwerferin. Also, insofern hab ich sicherlich auch ein paar Gene mitbekommen. Aber grundsätzlich hab ich tatsächlich immer gern geworfen und fand das faszinierend, egal was, ob es ein Schneeball war, ob's Steine waren, ich komme von Rügen, hab Steine ins Wasser geworfen. Also, ich fand das einfach faszinierend anzulaufen und was wegzuwerfen und es fliegen zu sehen.
Und es waren ganz viele Erlebnisse. Also, ich bin tatsächlich mit meinem Vater durch die Stadt gegangen und der sagte, guck mal, da oben ist ein offenes Fenster, schaffst du's da einen Schneeball reinzuwerfen? Ich so: Klar, und hab auch direkt beim ersten Wurf getroffen. Dann sind wir natürlich weggerannt. Und so gab's ganz viele Erlebnisse. Mein Bruder konnte nicht werfen. Meine Eltern waren natürlich dann motiviert als Sportlehrer, dass der Sohn auch werfen kann, sind mit dem runter an den Strand. Dann war ich drei Jahre, er war sechs Jahre, war zur Schule gekommen. Und dann hab ich irgendwie immer zugehört und zugeguckt und hab dann auch die Steine genommen. Und irgendwann hab ich weiter geworfen als er. Und das hat mich einfach gereizt. Das war dann irgendwann wirklich der Traum, irgendwann einen Speer in die Hand zu nehmen und einfach diesen Speer immer weiter versuchen zu werfen.
Maike Albath: Natürlich auch ein Triumph, den Sie da feiern konnten über den älteren Bruder. Auch das scheint eine Rolle zu spielen, dass man angespornt wird, angetrieben wird von der Umgebung. Ist es denn etwas spezifisch Abendländisches oder auch Westeuropäisches, siegen zu müssen, Herr Minssen, aus der Perspektive der Soziologie?
Heiner Minssen: Sagen wir mal so, die Art wie man siegt, wie es allerdings, bei Leistungssportlern glaub ich, auch besonders typisch ist, ist ja ganz häufig, dass es Einzelkämpfer sind. Wir haben auch Mannschaftssportarten, kennen wir vom Fußball. Und die Mannschaft steht ganz obenan. Aber auch bei der Mannschaft, die ganz obenan steht, ist dann der Torschütze derjenige, der am meisten gefeiert wird.
In Japan, in Asien beispielsweise ist das ganz anders. Die haben natürlich auch Hochleistungssportler, keine Frage, aber dort wird insgesamt in der Gesellschaft sehr viel mehr in Gruppen gedacht. Wenn ich das Buch von Frau Nerius gelesen habe und das Buch von Herrn Groß auch, es bedeutet, dass sie immer unterstützt werden, dass sie ihr Team haben, aber dann doch relativ genau eigenständig entscheiden, was sie eigentlich wollen. Und in diesen asiatischen Kulturen wird sehr viel stärker auf die Teambildung Wert gelegt. Oder Teambildung, das hört sich jetzt so Managementsprech. Das geht ganz automatisch, wird sehr viel stärker in den Vordergrund gestellt, was die Gruppe eigentlich will.
Maike Albath: Also, die Idee der Gruppe und gemeinsam ein Projekt zu haben und dafür einzustehen.
Nun haben Sie, Frau Nerius, sowohl Ostdeutschland, die DDR kennen gelernt, Sie kommen aus Rügen, Sie sagten es gerade, und dann aber auch Westdeutschland, weil Sie den Verein wechselten nach der Wende. Gab es da einen Unterschied in der Sporterziehung, auch in der Art und Weise, wie man lernt zu kämpfen und sich auf einen Wettkampf einzustellen?
Steffi Nerius: Ja, es gab schon einen Unterschied, aber wenn man selbst tatsächlich Leistungssport machen wollte und die Eigenmotivation hatte, gab's eigentlich keinen Unterschied, weil, letztendlich musste man sich da und da quälen. Wenn man nicht so richtig motiviert war und irgendwie immer so in den Hintern getreten werden musste, denk ich, war das Ostsystem auf jeden Fall besser, weil, da wurde man auch einfach wirklich geschliffen in der Gruppe. Da wurde man jetzt nicht gezwungen, aber man hat da nicht so den Raster gehabt. Wenn man jetzt hier – ich sage jetzt mal – im Westen, das ist ja nun auch schon lange genug her, nicht viel Eigenmotivation mitgebracht hat, dann ist es auch nix geworden. Man hatte tatsächlich viel größere Alternativen auch. Das sieht man tatsächlich jetzt auch, dass man einfach so viele Angebote hat, was man machen kann, dass man sich gar nicht mehr richtig auf eine Sache fokussieren kann.
Aber bei mir war es eigentlich wirklich tatsächlich kein Unterschied, zumindest was das Sportliche jetzt anbetrifft. Es gab sicherlich genug Unterschiede, was das ganze System anbetraf, aber, ja, ich hab mich hier weiter entwickelt, bin tatsächlich viel selbständiger geworfen. Also, dieses Mitdenken im Training und nicht einfach nur, mach das, das und das und davon dreimal 20 Wiederholungen, sondern einfach: Wie geht's meinem Körper? Wie empfinde ich das? Ist das jetzt gut für mich, ist es schlecht für mich? Also, ich denke, für meine Persönlichkeitsentwicklung, was nicht nur den Sport betrifft, sondern einfach so Selbstwertgefühl und einfach dieses Feingefühl für den Körper entwickeln, das hat mich auf jeden Fall hier viel weiter gebracht.
Maike Albath: Heiner Minssen, in diesen beiden Sportbüchern von Michael Groß und Steffi Nerius geht es ja immer darum, wie man auch lernt mit sich umzugehen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wozu nutzt den Sport überhaupt? Was lernt man da über sich selbst?
Heiner Minssen: Also, mens sana in corpore sano. Gut, das war jetzt was fürs Phrasenschwein. Also, das heißt also, wenn man einen gesunden Körper hat, wenn man was für seinen Körper tut, fühlt man sich gut. Deswegen gehen ja auch viele Leute ins Fitnessstudio.
Ich hab früher auch mal Fußball gespielt und dann irgendwann aufgehört, als ich festgestellt habe, dass mir dieser Mannschaftssport nicht so viel Spaß macht. Dann war ich ein bisschen älter und dann bin ich einmal übern Platz gelaufen und da musste ich ins Tor, weil ich keine Luft mehr hatte. Ja, was man aus den Büchern hier auch entnehmen kann, es ist auch eine unglaubliche Quälerei. Ich lese in dem Buch von Michael Groß, der ist in seinem Leben da mal zusammengerechnet 38.000 Kilometer geschwommen. Das heißt, der ist einmal um die gesamte Erde geschwommen. Bei Michael Groß war das noch ein bisschen deutlicher als bei Ihnen, wenn er darüber sinniert, dass er sich im Grunde auch immer gezwungen hat, an Wochenenden wirklich zu trainieren und wirklich jede Zeit zu nutzen, um zu trainieren neben dem Studium, was er auch noch gemacht hat. Da kommen wir vielleicht noch nachher dazu.
Also, man muss bereit sein, sich wirklich gewaltig zu quälen. Möglicherweise hat das irgendwas, wie Sie gesagt haben, mit Genen zu tun. Ich denke, es hat auch sehr viel stärker mit den Umgebungseinflüssen zu tun, also, dass man elterlich geprägt ist oder, was ja beim Fußball ganz häufig der Fall ist, dass man versucht sozial aufzusteigen. Und wir haben in der Tat in Deutschland heute vielfältige andere Angebote, die es gibt.
Meine Kinder sind nun schon alle erwachsen, aber von denen hätte sich in der Jugend keiner gequält und auf Diskobesuch zugunsten von Training verzichtet. Jetzt ist es witzigerweise anders. Mein mittlerer Sohn spielt jetzt Fußball, und zwar durchaus sehr leistungsorientiert.
Maike Albath: Steffi Nerius, "mentale Strategien einer Weltmeisterin im Alltag nutzen", da ist der Untertitel Ihres Buches. Wie ist es denn mit dem Scheitern? Ist da auch etwas, was man lernt als Sportlerin?
Steffi Nerius: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, das zeichnet wirklich die Topp-Sportler aus, dass es einfach dazu gehört zu jeder Leistungssportkarriere, dass man Höhen und Tiefen hat, aber dass man lernt mit diesen Tiefen umzugehen bzw. das Positive draus zu nehmen und wirklich das dann in Eigenmotivation, neue Motivation umzusetzen und sich nie eigentlich als Verlierer sieht, sondern, es ist zwar nicht optimal gelaufen, aber man versucht da immer wieder neue Motivation zu schöpfen, um nächste Ziele dann zu erreichen, um sich neue Ziele zu setzen und dann eigentlich das auch zu verarbeiten und auch abzuhaken.
Maike Albath: Die Trainerfrage in Ihrem Buch ist etwas sehr Wichtiges. Es liegt auch nahe. Wir haben schon so ein bisschen angedeutet. Es kommt offensichtlich auf die Beziehung an, die man entwickelt zu jemandem, der mit einem arbeitet. Wie ist es Ihnen da ergangen mit den Trainern?
Steffi Nerius: Ja, wie grad schon erwähnt worden ist, das ist tatsächlich ein Team. Irgendwie kämpft jeder alleine, aber irgendwie muss trotzdem das ganze Team funktionieren. Und da gehört der Trainer dazu, der Arzt dazu, der Physiotherapeut, der Mentaltrainer. Und das muss alles stimmen. Tatsächlich hab ich da sehr viel gelernt in der ersten Zeit, wo ich hier rübergekommen bin in den Westen, dass ich mich einfach nicht nur mit mir selbst, mit meiner Technik, mit dem Speerwurf auseinandersetze, sondern tatsächlich auch mit dieser Trainer-Athletenbeziehung.
Und ich hatte dann so ein, zwei schwierige Phasen, wo mein Trainer sich dann auch ermordet hatte von mir, um dann wieder einen neuen Trainer zu finden, wo man genau weiß, ich hab die und die Erwartung an einen Trainer, das ist mir wichtig, wo man relativ schnell merkt, das hört sich jetzt ein bisschen blöde an, aber es ist wie so eine Beziehung, dass man eigentlich irgendwann so gereift ist, dass man weiß, was man für ein Anspruchsniveau hat und was passt und was passt nicht und relativ schnell merkt, das passt oder es passt nicht. Das Schwierige ist dann, sich immer mal wieder zu trennen, wie man da ja auch aus dem Alltag kennt, dass man dann sagt: Pass auf, das geht so nicht und irgendwie muss wieder jeder seine eigenen Wege finde. Das war tatsächlich schwierig. Und da bin ich sehr froh, dass ich dann die letzten zehn Jahre tatsächlich den Trainer gefunden hab, wo es einfach perfekt passte.
Maike Albath: Steffi Nerius hat es jetzt fast so ein bisschen nebenbei erwähnt. Es mag ja auch ganz persönliche Gründe gehabt haben für ihren Trainer, dieser Suizid. Aber es war ein großes Thema im Spitzensport mit Robert Enke, dem Torwart von Hannover 96. Und auch das hängt möglicherweise ja zusammen mit einem extremen Druck, der erzeugt wird, der auch vielleicht etwas mit unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun hat. Wie ist das mit dem Sport? Bildet der auch etwas ganz Typisches ab, Heiner Minssen?
Heiner Minssen: Natürlich bildet der die Leistungsorientierung ab, und zwar in sehr extremer Form. Ich bin ja sehr beeindruckt, als ich das gelesen habe, aber das ist im Grunde kein Modell, was Frau Nerius hier schildert oder Herr Groß schildert, für die Arbeitswelt. Wir kennen ja auch alle, das ist der naheliegende Bezug, diese Burnout-Problematik. Robert Enke liegt, glaube ich, insofern noch ein bisschen anders, weil er auch jemand war, der stark zu Depressionen geneigt hat, also, anders als Ralf Rangnick. Wo man aber auch dazu sagen muss: Ralf Rangnick, dem ich alles Gute wünsche, der hat aber eine relativ komfortable Situation. Der kann einfach aufhören. Ich weiß nicht, ob er ausgesorgt hat, aber zumindest fällt er nicht irgendwie ins finanzielle Nichts. Das gilt für viele andere, die unter diesem Syndrom leiden, auch.
Das Problem ist nur, dass das, was den Ehrgeiz der Sportler angeht und was die Erfolge angeht, dass das auch ein bisschen versucht wird zu übertragen, was die Erfolgsorientierung anbelangt, in die Arbeitswelt. Auf Dauer kann das durchaus problematisch werden.
Maike Albath: Wie geht man denn mit so einer Erfahrung um, Steffi Nerius, dass jemand sich dann auf diese Art und Weise, die ja sehr brutal ist, verabschiedet? Stellt das nicht auch das ganze Modell so ein bisschen infrage, also dieses Drucks, der aufgebaut wird in der Sportwelt? Was hat das mit Ihnen damals gemacht?
Steffi Nerius: Ja, letztendlich ist es natürlich die schwierige Zeit gewesen, keine Frage. Aber letztendlich, das war drei Monate vor den Olympischen Spielen. Und man trainiert da lange drauf hin und versucht sich vorzubereiten. Ich war eigentlich auch super fit. Und dann muss man es auch dann in dem Moment schaffen, relativ schnell – okay, es ist nun mal so – irgendwo zu akzeptieren und dann einfach auch sich das neue Ziel zu setzen: Okay, du hast in drei Monaten die Olympischen Spiele, wo du immer hin wolltest, und dann einfach so ein bisschen, wie soll ich sagen, produktiv zu sein und nicht jetzt emotional zu reagieren, sondern einfach rational zu denken und zu sagen: Okay, ich brauche jetzt einen neuen Trainer, ich muss das und das und das machen.
Und dann kam sicherlich nach den Olympischen Spielen, wo man einfach noch mal so rückblickend über alles nachgedacht hat, aber in dem Moment ist man da sehr rational dann auch und sieht sich dann selbst und sagt, okay, es ist seine Entscheidung, es ist so gewesen und er wollte das so und Punkt, und versucht das dann tatsächlich so ein bisschen auch zu verdrängen erstmal in dem Moment, um dann sich wirklich da wieder seinen eigenen Zielen zu widmen.
Maike Albath: Also, man spaltet es ab und die Trauer kommt dann erst sehr viel später, was das bedeutet hat.
Wir sprachen über Steffi Nerius, "Der ganz große Wurf. Mentale Strategien einer Weltmeisterin im Alltag nutzen". Erschienen ist das Buch im Patmos Verlag. Der Name Michael Groß ist jetzt schon ein paar Mal gefallen. Es ist einer der erfolgreichsten deutschen Schwimmsportler. Und sein Buch heißt: "Siegen kann jeder. Jeden Tag die richtigen Fragen stellen".
Heiner Minssen, wie siegt man denn laut Michael Groß?
Heiner Minssen: Laut Michael Groß? Da sieht man, dass man sich jeden Tag die richtigen Fragen stellen – er hat da auch 14 drin, die muss man stellen. Und daraus muss man seine Ziele entwickeln. Und wenn man dann ein Ziel hat, dann muss man alles, nicht zu angespannt, was wir am Anfang hatten, dafür tun, dass dieses Ziel erreicht wird. Und in dem Buch kommt immer wieder die Metapher des Kapitäns vor, des Kapitäns des eigenen Lebens. Das heißt, man muss das in die Hand nehmen. Man muss sein eigenes Schiff steuern. Man ist dafür verantwortlich, was man eigentlich erreicht.
Und dann auch das, wie Frau Nerius das eben sagte: Wenn man Misserfolge hat, das kommt beim ihm durchaus vor, muss man das als Motiv nehmen, sich die Ziele neu zu justieren. Mir erscheint das, wenn ich das gleich anbringen darf, so ein bisschen aus dem Wörterbuch der modernen Motivationspsychologie. Das ist ja auch okay. Also, wenn ich einen Misserfolg hab, dann hab ich erstmal die Schnauze voll. Das ist bei mir relativ wichtig. Wenn ich ein Forschungsprojekt nicht bewilligt bekommen habe, dann denk ich mir doch, ihr könnt mich alle mal und ich geh jetzt erstmal nach Hause. Und dann irgendwie ein bisschen später dann überlege ich mir auch wieder, ob ich da was Neues mache. Aber so aus Misserfolgen dann gleich wieder Motivation zu schöpfen, das ist etwas, was er sehr betont.
Ich bewundere ihn, wenn er das hinkriegt. Also, meiner Erfahrung entspricht es nicht ganz so.
Maike Albath: Steffi Nerius, haben Sie diese Strategien, die Ihr Kollege Michael Groß vorschlägt, überzeugt?
Steffi Nerius: Also, tatsächlich geht's mir auch so, dass ich erstmal, wenn ich mich richtig abgeschossen hab, wenn was gar nicht ging, also, da musste ich auch erstmal das irgendwie verarbeiten und verkraften. Und es war mir auch dann wirklich total an dem Abend. Und da bin ich nicht direkt nach dem Wettkampf, wenn es überhaupt nicht so lief, wie ich mir das vorgestellt hab, in mein Zimmer und hab gedacht, okay, morgen fange ich jetzt von vorne wieder an und alles wird toll und alles wird gut. Also, da hab ich tatsächlich – keine Ahnung, ich will das jetzt nicht mehr ausführen, aber da brauchte ich wirklich einen Abend, wo ich einfach mal mich gehen lassen hab.
Das, denke ich, muss man eigentlich auch haben, um das zu verarbeiten. Und dann brauchte ich auch schon mal, wenn es wirklich große Misserfolge waren, ein, zwei, drei Wochen, bis ich das erstmal irgendwie verarbeitet hatte, um dann wirklich so ein bisschen freier im Kopf zu sein und zu sagen: Pass auf, irgendwie werde ich mit der Situation jetzt klar und versuche da wieder neue Motivation, neue Ziele zu finden.
Maike Albath: Aber das schon zuzulassen, dass man enttäuscht ist, und dem auch Raum zu geben, so beschreiben Sie das jetzt beide, das hat ja offensichtlich auch eine wichtige Bedeutung und eine wichtige Funktion. Denn erst dann kann man sich erholen und auch vielleicht neue Kräfte schöpfen.
Heiner Minssen, ein bisschen geht es, wie Michael Groß das beschreibt, auch gerade mit diesem Bild des Kapitäns, doch in die Richtung, die wir heute sehr häufig feststellen, dass erwartet wird, dass jeder sein Leben in die Hand nimmt, dass er sich körperlich möglichst fit macht, dass er allen Anforderungen immer entspricht. Ist das so eine ganz zeittypische Erscheinung, also, dass man sich selbst ausbeuten muss und immer stärker einem bestimmten Ideal folgen muss? Das wäre ja eigentlich furchtbar.
Heiner Minssen: Wenn man sportlich sein muss, muss man sich nicht ausbeuten. Das eine hat ja mit dem anderen nichts zu tun. Sicherlich ist das Ideal des Sportlers mit seiner Erfolgsorientierung schon so ein bisschen Leitbild. Das ist zweifellos so. Unsere Eltern haben das früher etwas anders ausgedrückt: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Das wird sehr deutlich auch in dem Buch von Michael Groß "Siegen kann jeder". Also, man muss natürlich schon fragen: Will eigentlich jeder siegen? Und zum zweiten ist der Satz ja auch nicht richtig. Wenn einer siegt, hat ein anderer verloren.
Das Zweite ist: Jeder ist seines Glückes Schmied. Das unterstellt eigentlich ein Individuum, was relativ autonom ist und - auf die Arbeitswelt bezogen - hochqualifiziert, was sich das gewissermaßen aussuchen kann, den hochqualifizierten Selbständigen gewissermaßen. Nun sind wir aber alle in der Arbeitswelt eingebunden in Hierarchien. Und es ist ja nicht so, dass wir uns unsere Ziele immer setzen, unsere Ziele werden uns ja auch gegeben. Und unser Chef sagt uns, was wir zu tun haben. Wir sind eingebunden in gesellschaftliche Bedingungen. Also, keiner von uns wollte die Finanzkrise, aber wir haben sie nun. Und möglicherweise hat die jetzt üble Folgen für uns alle. Das heißt, dass der Erfolg auch nicht immer nur etwas ist, was die Einzelnen (...) können.
Und wenn es schon um Erfolg geht, das ist auch ein Gedanke, der mir bei Michael Groß noch mehr als bei Frau Nerius zu kurz kommt, ist wirklich dieses Team. Team und Trainer kommen bei ihm nur ganz am Rande vor. Und er macht das eigentlich alles relativ selbst. Also, Teams sind bei Ihnen wirklich intensiver beschrieben.
Aber dieses Bild des autonomen Individuums, was sein Leben eigentlich selbst regeln kann, das ist einigermaßen problematisch angesichts der komplexen Verhältnisse, in denen wir leben.
Maike Albath: Weil viele Menschen überhaupt nicht die Chance haben, es so in die Hand zu nehmen und der eigene Kapitän, so wie er das verlangt, zu sein. Steffi Nerius, wie war das denn für Sie? In welchem Verhältnis stand diese Mühe des Trainings, auch das ganz Alltägliche, und der Sieg? Es gehört ja beides irgendwie zusammen.
Steffi Nerius: Ja, ich hab's tatsächlich so verstanden, "Siegen kann jeder", dass es gar nicht darauf bezogen ist, dass jeder gewinnen soll, sondern dass er für sich siegt, also, dass es für jeden selber ein Gewinn ist. Man muss nicht Erster sein, um zu siegen – unabhängig vom Sport. Das war das erste Kapitel in meinem Leben, aber jetzt hab ich einen Job, jetzt habe ich Athleten, die ich trainiere. Da setze ich mir auch jeden Tag Ziele. Die setzen sich Ziele. Und man versucht die zu erfüllen. Und wenn ich die erreiche, hab ich auch gewonnen.
Und so hab ich das Buch jetzt verstanden von Michael Groß, dass man einfach in die Arbeitswelt geht, egal, ob das jetzt der Chef ist vom Unternehmer oder einer, der am Fließband arbeitet, jeder hat seine eigenen persönlichen Ziele im Leben und versucht die zu erreichen. Und wenn er das am Ende des Tages sagt, heute war ein super Tag, weil, ich hab das und das und das geschafft, dann ist es sein persönlicher Sieg. So habe ich das jetzt daraus gelesen.
Maike Albath: Ist es denn so, dass auch Mühsal ein Wert ist oder der Weg, den man braucht, um dahin zu kommen, was Michael Groß nun jedem vorschlägt, nämlich dieses Siegen?
Heiner Minssen: Da sag ich gleich noch was dazu, vergesse ich auch nicht, die Frage. Aber – also, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, also, ich stehe nicht morgens auf und setz mir ein Ziel, jeden Morgen wieder, sondern ich hab auch irgendwelche Ziele gehabt, wenn ich auf mein Leben zurückgucke. Ich bin nun Professor, da bin ich auch froh und glücklich drüber, weil, ich konnte aus meinem Job ein Hobby machen, nee, vom Hobby einen Job machen, für den ich sogar noch bezahlt werde. Also, ich mach wirklich genau das, was mir Spaß macht – richtig Schwein gehabt. Aber großartig geplant war das nicht. Es war eine Reihe von Zufällen.
Deswegen liest sich das für mich hier alles ein bisschen zu eng. Also, ich will mir auch nicht jeden Morgen ein Ziel setzen. Ich möchte auch mal, was wir viel zu wenig machen, einfach in der Badewanne liegen und an gar nichts denken. Muße ist etwas, was wir viel verlernt haben. Gut.
Mühsal? Ohne Mühsal geht das nicht. Das ist mir wirklich sehr deutlich geworden. Natürlich, in der Arbeitswelt geht's auch nicht ohne Mühsal. Aber hier, ich glaube, um solche wirklich sehr bewundernswerten Leistungen zustande zu kriegen, wie Frau Nerius und Herr Groß, das geht nur, indem man sich wirklich richtig quält und wirklich auch bereit ist, nach meinem Eindruck, auf vieles zu verzichten. Also, das kennt man ja auch von den jungen Sportlern. Ich kenne mich mehr im Fußball, klar, Dortmund, mehr im Fußball aus als woanders. Diese jungen Sportler, die schon mit 15, 16 in Internaten sind und nichts anderes machen als Fußballspielen, das ist schon eine unglaubliche Quälerei jeden Tag wieder.
Maike Albath: Eine Kapitelüberschrift bei Michael Groß lautet: "Wie halte ich Druck aus?" Wie haben Sie Druck ausgehalten, Steffi Nerius? Waren das ähnliche Strategien, wie sie auch Michael Groß versucht anzuwenden?
Steffi Nerius: Also, bei mir war es so, dass ich tatsächlich da gewachsen bin mit dem Druck. Also, ich bin damit überhaupt gar nicht klar gekommen zum Anfang. Ich bin irgendwie als Weltjahresbeste, hab am weitesten geworfen, in dem Jahr bin ich zur Weltmeisterschaft gefahren. Jeder hat gedacht, alles klar, sie wird, sie holt zumindest ne Medaille, wenn nicht sogar Weltmeisterin. Ich hab dann ungefähr elf Meter weniger geworfen als in dem ganzen Jahr und bin irgendwie 11. geworden und fand das total schlimm danach, weil irgendwie überhaupt niemand mit einem gesprochen hat. Ich kam mir wirklich wie so ein Außenseiter vor, wie, ich hab alles versaut und alles schlecht. Und dieses Gefühl dann irgendwann umzuwandeln und zu denken, es ist mir ganz egal, was irgendwo steht, was irgendwo geschrieben wird, was irgendwo gezeigt wird. Ich möchte meine Leistung bringen, wofür ich das ganze Jahr trainiert habe. Und entweder bin ich damit zufrieden nach Ende des Wettkampfes oder nicht. Und dann hat es die Gründe, wenn ich zufrieden bin oder auch nicht. Und es ist mir total Wurscht, wie die Reaktion drumherum ist. – Das ist tatsächlich ein langer Prozess, wo man reifen muss und wo ich auch lange für gebraucht hab, um das zu lernen.
Maike Albath: Heiner Minssen, Sie haben jetzt gerade sehr schön beschrieben, dass es auch eine Erfüllung sein kann, kein Ziel zu haben und so ein bisschen ins Blaue hineinzuleben. Da hat man oft ja auch sehr gute Ideen und Gedanken. Nun ist Burnout der am zweithäufigsten gegoogelte medizinische Begriff überhaupt. Hängt das vielleicht auch mit so einer übertriebenen Siegeswut zusammen?
Heiner Minssen: Also, ich glaube, man sollte jetzt nicht die Sportler dafür verantwortlich machen.
Maike Albath: Ich meine, allgemein gesprochen.
Heiner Minssen: Nein, das glaub ich auch nicht, sondern das hängt damit zusammen, dass man sich die Ziele nicht selbst setzt, sondern dass die Ziele einem vorgegeben werden. Wir leben ja in einer interessanten Situation. Es muss jedes Jahr mehr werden. Es muss Monat für Monat mehr werden. Es müssen mehr und mehr Stückzahlen werden. Das Bruttoinlandsprodukt muss steigen, es muss alles steigen, es muss alles schneller gehen. Das ist etwas, was sich jemand in der Regel nicht aussuchen kann. Das wird ihm vorgegeben.
Und ich glaube, wer für sich das Gefühl hat, dass er Kapitän seines Schiffes ist, wer für sich selbst entscheiden kann, welche Leistungen er bringen will, welche Erfolge er erzielen will, was er dafür auf sich nimmt, das ist was völlig anderes im Vergleich zu denen, die eigentlich diese Handlungsalternativen nicht haben, sondern die sehen müssen, dass sie den Anforderungen, die ihnen vorgesetzt sind, mehr oder minder genügen. Und das ist beim Fließbandarbeiter eben völlig anders als bei einem autonomen Leistungssportler.
Maike Albath: Wir sprachen über Michael Groß, "Siegen kann jeder. Jeden Tag die richtigen Fragen stellen". Dieses Buch ist im Verlag Ecowin erschienen.
Zum Schluss unserer Sendung haben wir Zeit für einen Buchtipp. Steffi Nerius, was möchten Sie uns empfehlen?
Steffi Nerius: "Der ganz große Wurf". So spontan würde ich mein Buch empfehlen, weil es tatsächlich ganz interessant ist.
Maike Albath: Aber sie haben uns noch etwas anderes mitgebracht.
Steffi Nerius: Hab ich? Ich hab noch das Buch von Michael Groß dabei. Das kann ich auch empfehlen.
Maike Albath: Wollten Sie nicht die Millennium-Trilogie empfehlen von Stieg Larsson?
Steffi Nerius: Ach so.
Maike Albath: Ich frag Sie jetzt noch mal: Steffi Nerius, was möchten Sie uns empfehlen?
Steffi Nerius: Ich hab tatsächlich die letzte Literatur, die letzte Trilogie von Stieg Larsson gelesen, fand die sehr spannend. Es kam ja jetzt auch die Kinoversion. Da hab ich mich noch nicht reingetraut, aber die Bücher waren auf jeden Fall super.
Maike Albath: Die Millennium-Trilogie des Schweden Stieg Larsson liegt im Heine Verlag vor. Herr Minssen, Ihre Empfehlung?
Heiner Minssen: Ich habe gedacht, angesichts der ganzen Sieger, mit denen wir es heute zu tun haben, setze ich den Kontrapunkt. Das Buch "Wir Ertrunkenen", das ist eine wunderbare Geschichte über drei Generationen von Familien aus einem dänischen Dorf an der Ostsee, was ich sehr empfehlen kann und was meines Erachtens leider viel zu wenig bekannt geworden ist, obwohl ich Stieg Larsson auch sehr schätze.
Maike Albath: Was hat Sie an diesem Buch gefesselt?
Heiner Minssen: Das ist unglaublich prall geschrieben. Es sind sehr schreckliche Geschichten zum Teil. Auch ich habe selten Beschreibungen über den 2. Weltkrieg auf See, über die Seeschlachten gelesen, die so grauenhaft sind wie die, und gleichzeitig mit einer unglaublichen Warmherzigkeit in der Schilderung der Personen, der ganz unterschiedlichen Personen, die da vorkommen.
Maike Albath: Das Buch des dänischen Schriftstellers Carsten Jensen "Wir Ertrunkenen" ist im Knaus Verlag erschienen.
Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen geht für heute zu Ende. Ich bedanke mich bei dem Kulturwissenschaftlichen Institut, der Buchhandlung "Proust", der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und dem Schauspiel Essen für die Zusammenarbeit und bei meinen Gästen Steffi Nerius und Heiner Minssen für ihre engagierte Teilnahme.
Es verabschiedet sich Maike Albath.
Der Ball im Tor, die Bestzeit beim Schwimmen, der weiteste Wurf, eine Firmenübername oder ein Spitzengehalt, das sind die Erfolgsgeschichten unserer Zeit. Wie viel Mühsal dahinter steckt und ob es sich lohnt, ist eine ganz andere Frage. "Siegen um jeden Preis? Das Streben nach Erfolg" lautet das Thema unserer Sendung.
Was ein Sieg bedeutet beschäftigt naturgemäß immer wieder Sportler. Ein Schwimmer und eine Speerwerferin haben Bücher darüber geschrieben, über die wir uns mit unseren Gästen unterhalten wollen. Die Leichtathletin und Weltmeisterin im Speerwerfen Steffi Nerius ist die Verfasserin des Bandes "Der ganz große Wurf". Guten Tag, Frau Nerius.
Steffi Nerius: Schönen guten Tag.
Maike Albath: Eingeladen haben wir außerdem einen Experten für Arbeit, Heiner Minssen, Professor für Soziologie am Institut für Arbeitswissenschaft der Universität Bochum. Guten Tag, Herr Minssen.
Heiner Minssen: Guten Tag.
Maike Albath: Steffi Nerius, Sie waren Weltmeisterin im Speerwerfen 2009. Wie haben Sie das geschafft?
Steffi Nerius: Tja, gute Frage. Auf manche Fragen hat man tatsächlich keine Antwort. Es ist schon so gewesen, dass das ein langer Weg war. Und es war überhaupt gar nicht mein Ziel. Also, ich bin jetzt nicht bewusst da hingefahren, ich möchte jetzt hier Weltmeisterin werden, sondern ich wollte meinen letzten Wettkampf machen von einer ganz langen Karriere und wollte einfach nur dieses Gefühl genießen. Meine erste Weltmeisterschaft war 1993 in Stuttgart und meine letzte dann 2009 in Berlin. Und ich bin einfach da hingefahren, war super gut vorbereitet, hatte eine gute Form und wollte einfach mich vor heimischem Publikum anständig verabschieden in den sportlichen Ruhestand und wollte tatsächlich sechs Würfe haben. Das heißt, schon unter die ersten acht kommen. Und mein Ziel war es tatsächlich an dem Tag, den perfekten Wurf zu machen, dass ich einfach sage, ich hab alles rausgeholt, was an dem Tag möglich war. Ich hab sowieso keinen Einfluss auf die Konkurrenz. Wenn einer weiter wirft, wirft einer weiter, aber ich möchte einfach zufrieden sein und mich anständig vorm heimischen Publikum verabschieden.
Ja, ich hab dann im ersten Versuch tatsächlich einen raus gehauen und war zufrieden mit dem Wurf. Also, es war so, dass ich wirklich gedacht habe, das war genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. So sollte es sein. Ich bin dann auch zu meinem Trainer gegangen und hab gesagt, ich kann noch weiter werfen. Ich hatte ja noch theoretisch fünf Versuche. Und er so: Na klar. Was soll er sagen? Klar, kannst du noch weiter werfen. – Und ja. Dann hat irgendwie im ganzen Wettkampf kein Mensch weiter geworfen von den Speerwerferinnen, weil sie doch ein bisschen geschockt waren. Und mit einem mal war ich Weltmeisterin. Also, das war jetzt nicht geplant und das war ein super schöner Karriereabschluss.
Maike Albath: So, wie Steffi Nerius es jetzt beschreibt, Herr Minssen, war es ja gerade diese entspanntere Haltung offenkundig, die ihr geholfen hat, über das Ziel sogar hinauszuschießen. Wie ist das mit dem Ehrgeiz und dem, was man sich vornimmt und den Möglichkeiten, das dann zu erreichen? Erkennt man das aus dem Buch von Steffi Nerius, welches da auch ihre Strategien waren?
Heiner Minssen: Also, das erkennt man schon. Das erkennt man auch ein Stückchen aus dem Buch von Michael Groß, dass der Versuch, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und nur dieses eine Ziel im Auge zu haben und ganz ehrgeizig nur dieses Ziel zu verfolgen, dass das häufig schief geht oder nach den Autorinnen, Autoren schief geht, weil da eine gewissermaßen Überspannung reinkommt. Frau Nerius schreibt ja auch häufiger auch von der Nervosität, die sie in dem Wettkampf gehabt hatte, dass, wenn man sich ein ganz hohes Ziel gesetzt hatte, dann nicht mehr so vermutlich entspannt da reingeht, wie das eigentlich notwendig ist, und dann diese wirklich sehr bewundernswerten Leistungen zustande zu kriegen.
Maike Albath: Wie kam es denn überhaupt dazu, dass Sie Sportlerin geworden sind, Frau Nerius? Gab es so ein Grundgefühl schon bei Ihnen zu Hause, auch den Wunsch, sich körperlich beweisen zu wollen? Gab's da einen Ehrgeiz?
Steffi Nerius: Also, erstmal meine Eltern, man ist ja so ein bisschen vorgeschädigt, die sind beide Sportlehrer, beide Geografielehrer. Mein Bruder ist auch sportlich und irgendwie ist man einfach so reingewachsen in die Familie. Meine Mutter war auch Speerwerferin. Also, insofern hab ich sicherlich auch ein paar Gene mitbekommen. Aber grundsätzlich hab ich tatsächlich immer gern geworfen und fand das faszinierend, egal was, ob es ein Schneeball war, ob's Steine waren, ich komme von Rügen, hab Steine ins Wasser geworfen. Also, ich fand das einfach faszinierend anzulaufen und was wegzuwerfen und es fliegen zu sehen.
Und es waren ganz viele Erlebnisse. Also, ich bin tatsächlich mit meinem Vater durch die Stadt gegangen und der sagte, guck mal, da oben ist ein offenes Fenster, schaffst du's da einen Schneeball reinzuwerfen? Ich so: Klar, und hab auch direkt beim ersten Wurf getroffen. Dann sind wir natürlich weggerannt. Und so gab's ganz viele Erlebnisse. Mein Bruder konnte nicht werfen. Meine Eltern waren natürlich dann motiviert als Sportlehrer, dass der Sohn auch werfen kann, sind mit dem runter an den Strand. Dann war ich drei Jahre, er war sechs Jahre, war zur Schule gekommen. Und dann hab ich irgendwie immer zugehört und zugeguckt und hab dann auch die Steine genommen. Und irgendwann hab ich weiter geworfen als er. Und das hat mich einfach gereizt. Das war dann irgendwann wirklich der Traum, irgendwann einen Speer in die Hand zu nehmen und einfach diesen Speer immer weiter versuchen zu werfen.
Maike Albath: Natürlich auch ein Triumph, den Sie da feiern konnten über den älteren Bruder. Auch das scheint eine Rolle zu spielen, dass man angespornt wird, angetrieben wird von der Umgebung. Ist es denn etwas spezifisch Abendländisches oder auch Westeuropäisches, siegen zu müssen, Herr Minssen, aus der Perspektive der Soziologie?
Heiner Minssen: Sagen wir mal so, die Art wie man siegt, wie es allerdings, bei Leistungssportlern glaub ich, auch besonders typisch ist, ist ja ganz häufig, dass es Einzelkämpfer sind. Wir haben auch Mannschaftssportarten, kennen wir vom Fußball. Und die Mannschaft steht ganz obenan. Aber auch bei der Mannschaft, die ganz obenan steht, ist dann der Torschütze derjenige, der am meisten gefeiert wird.
In Japan, in Asien beispielsweise ist das ganz anders. Die haben natürlich auch Hochleistungssportler, keine Frage, aber dort wird insgesamt in der Gesellschaft sehr viel mehr in Gruppen gedacht. Wenn ich das Buch von Frau Nerius gelesen habe und das Buch von Herrn Groß auch, es bedeutet, dass sie immer unterstützt werden, dass sie ihr Team haben, aber dann doch relativ genau eigenständig entscheiden, was sie eigentlich wollen. Und in diesen asiatischen Kulturen wird sehr viel stärker auf die Teambildung Wert gelegt. Oder Teambildung, das hört sich jetzt so Managementsprech. Das geht ganz automatisch, wird sehr viel stärker in den Vordergrund gestellt, was die Gruppe eigentlich will.
Maike Albath: Also, die Idee der Gruppe und gemeinsam ein Projekt zu haben und dafür einzustehen.
Nun haben Sie, Frau Nerius, sowohl Ostdeutschland, die DDR kennen gelernt, Sie kommen aus Rügen, Sie sagten es gerade, und dann aber auch Westdeutschland, weil Sie den Verein wechselten nach der Wende. Gab es da einen Unterschied in der Sporterziehung, auch in der Art und Weise, wie man lernt zu kämpfen und sich auf einen Wettkampf einzustellen?
Steffi Nerius: Ja, es gab schon einen Unterschied, aber wenn man selbst tatsächlich Leistungssport machen wollte und die Eigenmotivation hatte, gab's eigentlich keinen Unterschied, weil, letztendlich musste man sich da und da quälen. Wenn man nicht so richtig motiviert war und irgendwie immer so in den Hintern getreten werden musste, denk ich, war das Ostsystem auf jeden Fall besser, weil, da wurde man auch einfach wirklich geschliffen in der Gruppe. Da wurde man jetzt nicht gezwungen, aber man hat da nicht so den Raster gehabt. Wenn man jetzt hier – ich sage jetzt mal – im Westen, das ist ja nun auch schon lange genug her, nicht viel Eigenmotivation mitgebracht hat, dann ist es auch nix geworden. Man hatte tatsächlich viel größere Alternativen auch. Das sieht man tatsächlich jetzt auch, dass man einfach so viele Angebote hat, was man machen kann, dass man sich gar nicht mehr richtig auf eine Sache fokussieren kann.
Aber bei mir war es eigentlich wirklich tatsächlich kein Unterschied, zumindest was das Sportliche jetzt anbetrifft. Es gab sicherlich genug Unterschiede, was das ganze System anbetraf, aber, ja, ich hab mich hier weiter entwickelt, bin tatsächlich viel selbständiger geworfen. Also, dieses Mitdenken im Training und nicht einfach nur, mach das, das und das und davon dreimal 20 Wiederholungen, sondern einfach: Wie geht's meinem Körper? Wie empfinde ich das? Ist das jetzt gut für mich, ist es schlecht für mich? Also, ich denke, für meine Persönlichkeitsentwicklung, was nicht nur den Sport betrifft, sondern einfach so Selbstwertgefühl und einfach dieses Feingefühl für den Körper entwickeln, das hat mich auf jeden Fall hier viel weiter gebracht.
Maike Albath: Heiner Minssen, in diesen beiden Sportbüchern von Michael Groß und Steffi Nerius geht es ja immer darum, wie man auch lernt mit sich umzugehen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wozu nutzt den Sport überhaupt? Was lernt man da über sich selbst?
Heiner Minssen: Also, mens sana in corpore sano. Gut, das war jetzt was fürs Phrasenschwein. Also, das heißt also, wenn man einen gesunden Körper hat, wenn man was für seinen Körper tut, fühlt man sich gut. Deswegen gehen ja auch viele Leute ins Fitnessstudio.
Ich hab früher auch mal Fußball gespielt und dann irgendwann aufgehört, als ich festgestellt habe, dass mir dieser Mannschaftssport nicht so viel Spaß macht. Dann war ich ein bisschen älter und dann bin ich einmal übern Platz gelaufen und da musste ich ins Tor, weil ich keine Luft mehr hatte. Ja, was man aus den Büchern hier auch entnehmen kann, es ist auch eine unglaubliche Quälerei. Ich lese in dem Buch von Michael Groß, der ist in seinem Leben da mal zusammengerechnet 38.000 Kilometer geschwommen. Das heißt, der ist einmal um die gesamte Erde geschwommen. Bei Michael Groß war das noch ein bisschen deutlicher als bei Ihnen, wenn er darüber sinniert, dass er sich im Grunde auch immer gezwungen hat, an Wochenenden wirklich zu trainieren und wirklich jede Zeit zu nutzen, um zu trainieren neben dem Studium, was er auch noch gemacht hat. Da kommen wir vielleicht noch nachher dazu.
Also, man muss bereit sein, sich wirklich gewaltig zu quälen. Möglicherweise hat das irgendwas, wie Sie gesagt haben, mit Genen zu tun. Ich denke, es hat auch sehr viel stärker mit den Umgebungseinflüssen zu tun, also, dass man elterlich geprägt ist oder, was ja beim Fußball ganz häufig der Fall ist, dass man versucht sozial aufzusteigen. Und wir haben in der Tat in Deutschland heute vielfältige andere Angebote, die es gibt.
Meine Kinder sind nun schon alle erwachsen, aber von denen hätte sich in der Jugend keiner gequält und auf Diskobesuch zugunsten von Training verzichtet. Jetzt ist es witzigerweise anders. Mein mittlerer Sohn spielt jetzt Fußball, und zwar durchaus sehr leistungsorientiert.
Maike Albath: Steffi Nerius, "mentale Strategien einer Weltmeisterin im Alltag nutzen", da ist der Untertitel Ihres Buches. Wie ist es denn mit dem Scheitern? Ist da auch etwas, was man lernt als Sportlerin?
Steffi Nerius: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, das zeichnet wirklich die Topp-Sportler aus, dass es einfach dazu gehört zu jeder Leistungssportkarriere, dass man Höhen und Tiefen hat, aber dass man lernt mit diesen Tiefen umzugehen bzw. das Positive draus zu nehmen und wirklich das dann in Eigenmotivation, neue Motivation umzusetzen und sich nie eigentlich als Verlierer sieht, sondern, es ist zwar nicht optimal gelaufen, aber man versucht da immer wieder neue Motivation zu schöpfen, um nächste Ziele dann zu erreichen, um sich neue Ziele zu setzen und dann eigentlich das auch zu verarbeiten und auch abzuhaken.
Maike Albath: Die Trainerfrage in Ihrem Buch ist etwas sehr Wichtiges. Es liegt auch nahe. Wir haben schon so ein bisschen angedeutet. Es kommt offensichtlich auf die Beziehung an, die man entwickelt zu jemandem, der mit einem arbeitet. Wie ist es Ihnen da ergangen mit den Trainern?
Steffi Nerius: Ja, wie grad schon erwähnt worden ist, das ist tatsächlich ein Team. Irgendwie kämpft jeder alleine, aber irgendwie muss trotzdem das ganze Team funktionieren. Und da gehört der Trainer dazu, der Arzt dazu, der Physiotherapeut, der Mentaltrainer. Und das muss alles stimmen. Tatsächlich hab ich da sehr viel gelernt in der ersten Zeit, wo ich hier rübergekommen bin in den Westen, dass ich mich einfach nicht nur mit mir selbst, mit meiner Technik, mit dem Speerwurf auseinandersetze, sondern tatsächlich auch mit dieser Trainer-Athletenbeziehung.
Und ich hatte dann so ein, zwei schwierige Phasen, wo mein Trainer sich dann auch ermordet hatte von mir, um dann wieder einen neuen Trainer zu finden, wo man genau weiß, ich hab die und die Erwartung an einen Trainer, das ist mir wichtig, wo man relativ schnell merkt, das hört sich jetzt ein bisschen blöde an, aber es ist wie so eine Beziehung, dass man eigentlich irgendwann so gereift ist, dass man weiß, was man für ein Anspruchsniveau hat und was passt und was passt nicht und relativ schnell merkt, das passt oder es passt nicht. Das Schwierige ist dann, sich immer mal wieder zu trennen, wie man da ja auch aus dem Alltag kennt, dass man dann sagt: Pass auf, das geht so nicht und irgendwie muss wieder jeder seine eigenen Wege finde. Das war tatsächlich schwierig. Und da bin ich sehr froh, dass ich dann die letzten zehn Jahre tatsächlich den Trainer gefunden hab, wo es einfach perfekt passte.
Maike Albath: Steffi Nerius hat es jetzt fast so ein bisschen nebenbei erwähnt. Es mag ja auch ganz persönliche Gründe gehabt haben für ihren Trainer, dieser Suizid. Aber es war ein großes Thema im Spitzensport mit Robert Enke, dem Torwart von Hannover 96. Und auch das hängt möglicherweise ja zusammen mit einem extremen Druck, der erzeugt wird, der auch vielleicht etwas mit unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun hat. Wie ist das mit dem Sport? Bildet der auch etwas ganz Typisches ab, Heiner Minssen?
Heiner Minssen: Natürlich bildet der die Leistungsorientierung ab, und zwar in sehr extremer Form. Ich bin ja sehr beeindruckt, als ich das gelesen habe, aber das ist im Grunde kein Modell, was Frau Nerius hier schildert oder Herr Groß schildert, für die Arbeitswelt. Wir kennen ja auch alle, das ist der naheliegende Bezug, diese Burnout-Problematik. Robert Enke liegt, glaube ich, insofern noch ein bisschen anders, weil er auch jemand war, der stark zu Depressionen geneigt hat, also, anders als Ralf Rangnick. Wo man aber auch dazu sagen muss: Ralf Rangnick, dem ich alles Gute wünsche, der hat aber eine relativ komfortable Situation. Der kann einfach aufhören. Ich weiß nicht, ob er ausgesorgt hat, aber zumindest fällt er nicht irgendwie ins finanzielle Nichts. Das gilt für viele andere, die unter diesem Syndrom leiden, auch.
Das Problem ist nur, dass das, was den Ehrgeiz der Sportler angeht und was die Erfolge angeht, dass das auch ein bisschen versucht wird zu übertragen, was die Erfolgsorientierung anbelangt, in die Arbeitswelt. Auf Dauer kann das durchaus problematisch werden.
Maike Albath: Wie geht man denn mit so einer Erfahrung um, Steffi Nerius, dass jemand sich dann auf diese Art und Weise, die ja sehr brutal ist, verabschiedet? Stellt das nicht auch das ganze Modell so ein bisschen infrage, also dieses Drucks, der aufgebaut wird in der Sportwelt? Was hat das mit Ihnen damals gemacht?
Steffi Nerius: Ja, letztendlich ist es natürlich die schwierige Zeit gewesen, keine Frage. Aber letztendlich, das war drei Monate vor den Olympischen Spielen. Und man trainiert da lange drauf hin und versucht sich vorzubereiten. Ich war eigentlich auch super fit. Und dann muss man es auch dann in dem Moment schaffen, relativ schnell – okay, es ist nun mal so – irgendwo zu akzeptieren und dann einfach auch sich das neue Ziel zu setzen: Okay, du hast in drei Monaten die Olympischen Spiele, wo du immer hin wolltest, und dann einfach so ein bisschen, wie soll ich sagen, produktiv zu sein und nicht jetzt emotional zu reagieren, sondern einfach rational zu denken und zu sagen: Okay, ich brauche jetzt einen neuen Trainer, ich muss das und das und das machen.
Und dann kam sicherlich nach den Olympischen Spielen, wo man einfach noch mal so rückblickend über alles nachgedacht hat, aber in dem Moment ist man da sehr rational dann auch und sieht sich dann selbst und sagt, okay, es ist seine Entscheidung, es ist so gewesen und er wollte das so und Punkt, und versucht das dann tatsächlich so ein bisschen auch zu verdrängen erstmal in dem Moment, um dann sich wirklich da wieder seinen eigenen Zielen zu widmen.
Maike Albath: Also, man spaltet es ab und die Trauer kommt dann erst sehr viel später, was das bedeutet hat.
Wir sprachen über Steffi Nerius, "Der ganz große Wurf. Mentale Strategien einer Weltmeisterin im Alltag nutzen". Erschienen ist das Buch im Patmos Verlag. Der Name Michael Groß ist jetzt schon ein paar Mal gefallen. Es ist einer der erfolgreichsten deutschen Schwimmsportler. Und sein Buch heißt: "Siegen kann jeder. Jeden Tag die richtigen Fragen stellen".
Heiner Minssen, wie siegt man denn laut Michael Groß?
Heiner Minssen: Laut Michael Groß? Da sieht man, dass man sich jeden Tag die richtigen Fragen stellen – er hat da auch 14 drin, die muss man stellen. Und daraus muss man seine Ziele entwickeln. Und wenn man dann ein Ziel hat, dann muss man alles, nicht zu angespannt, was wir am Anfang hatten, dafür tun, dass dieses Ziel erreicht wird. Und in dem Buch kommt immer wieder die Metapher des Kapitäns vor, des Kapitäns des eigenen Lebens. Das heißt, man muss das in die Hand nehmen. Man muss sein eigenes Schiff steuern. Man ist dafür verantwortlich, was man eigentlich erreicht.
Und dann auch das, wie Frau Nerius das eben sagte: Wenn man Misserfolge hat, das kommt beim ihm durchaus vor, muss man das als Motiv nehmen, sich die Ziele neu zu justieren. Mir erscheint das, wenn ich das gleich anbringen darf, so ein bisschen aus dem Wörterbuch der modernen Motivationspsychologie. Das ist ja auch okay. Also, wenn ich einen Misserfolg hab, dann hab ich erstmal die Schnauze voll. Das ist bei mir relativ wichtig. Wenn ich ein Forschungsprojekt nicht bewilligt bekommen habe, dann denk ich mir doch, ihr könnt mich alle mal und ich geh jetzt erstmal nach Hause. Und dann irgendwie ein bisschen später dann überlege ich mir auch wieder, ob ich da was Neues mache. Aber so aus Misserfolgen dann gleich wieder Motivation zu schöpfen, das ist etwas, was er sehr betont.
Ich bewundere ihn, wenn er das hinkriegt. Also, meiner Erfahrung entspricht es nicht ganz so.
Maike Albath: Steffi Nerius, haben Sie diese Strategien, die Ihr Kollege Michael Groß vorschlägt, überzeugt?
Steffi Nerius: Also, tatsächlich geht's mir auch so, dass ich erstmal, wenn ich mich richtig abgeschossen hab, wenn was gar nicht ging, also, da musste ich auch erstmal das irgendwie verarbeiten und verkraften. Und es war mir auch dann wirklich total an dem Abend. Und da bin ich nicht direkt nach dem Wettkampf, wenn es überhaupt nicht so lief, wie ich mir das vorgestellt hab, in mein Zimmer und hab gedacht, okay, morgen fange ich jetzt von vorne wieder an und alles wird toll und alles wird gut. Also, da hab ich tatsächlich – keine Ahnung, ich will das jetzt nicht mehr ausführen, aber da brauchte ich wirklich einen Abend, wo ich einfach mal mich gehen lassen hab.
Das, denke ich, muss man eigentlich auch haben, um das zu verarbeiten. Und dann brauchte ich auch schon mal, wenn es wirklich große Misserfolge waren, ein, zwei, drei Wochen, bis ich das erstmal irgendwie verarbeitet hatte, um dann wirklich so ein bisschen freier im Kopf zu sein und zu sagen: Pass auf, irgendwie werde ich mit der Situation jetzt klar und versuche da wieder neue Motivation, neue Ziele zu finden.
Maike Albath: Aber das schon zuzulassen, dass man enttäuscht ist, und dem auch Raum zu geben, so beschreiben Sie das jetzt beide, das hat ja offensichtlich auch eine wichtige Bedeutung und eine wichtige Funktion. Denn erst dann kann man sich erholen und auch vielleicht neue Kräfte schöpfen.
Heiner Minssen, ein bisschen geht es, wie Michael Groß das beschreibt, auch gerade mit diesem Bild des Kapitäns, doch in die Richtung, die wir heute sehr häufig feststellen, dass erwartet wird, dass jeder sein Leben in die Hand nimmt, dass er sich körperlich möglichst fit macht, dass er allen Anforderungen immer entspricht. Ist das so eine ganz zeittypische Erscheinung, also, dass man sich selbst ausbeuten muss und immer stärker einem bestimmten Ideal folgen muss? Das wäre ja eigentlich furchtbar.
Heiner Minssen: Wenn man sportlich sein muss, muss man sich nicht ausbeuten. Das eine hat ja mit dem anderen nichts zu tun. Sicherlich ist das Ideal des Sportlers mit seiner Erfolgsorientierung schon so ein bisschen Leitbild. Das ist zweifellos so. Unsere Eltern haben das früher etwas anders ausgedrückt: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Das wird sehr deutlich auch in dem Buch von Michael Groß "Siegen kann jeder". Also, man muss natürlich schon fragen: Will eigentlich jeder siegen? Und zum zweiten ist der Satz ja auch nicht richtig. Wenn einer siegt, hat ein anderer verloren.
Das Zweite ist: Jeder ist seines Glückes Schmied. Das unterstellt eigentlich ein Individuum, was relativ autonom ist und - auf die Arbeitswelt bezogen - hochqualifiziert, was sich das gewissermaßen aussuchen kann, den hochqualifizierten Selbständigen gewissermaßen. Nun sind wir aber alle in der Arbeitswelt eingebunden in Hierarchien. Und es ist ja nicht so, dass wir uns unsere Ziele immer setzen, unsere Ziele werden uns ja auch gegeben. Und unser Chef sagt uns, was wir zu tun haben. Wir sind eingebunden in gesellschaftliche Bedingungen. Also, keiner von uns wollte die Finanzkrise, aber wir haben sie nun. Und möglicherweise hat die jetzt üble Folgen für uns alle. Das heißt, dass der Erfolg auch nicht immer nur etwas ist, was die Einzelnen (...) können.
Und wenn es schon um Erfolg geht, das ist auch ein Gedanke, der mir bei Michael Groß noch mehr als bei Frau Nerius zu kurz kommt, ist wirklich dieses Team. Team und Trainer kommen bei ihm nur ganz am Rande vor. Und er macht das eigentlich alles relativ selbst. Also, Teams sind bei Ihnen wirklich intensiver beschrieben.
Aber dieses Bild des autonomen Individuums, was sein Leben eigentlich selbst regeln kann, das ist einigermaßen problematisch angesichts der komplexen Verhältnisse, in denen wir leben.
Maike Albath: Weil viele Menschen überhaupt nicht die Chance haben, es so in die Hand zu nehmen und der eigene Kapitän, so wie er das verlangt, zu sein. Steffi Nerius, wie war das denn für Sie? In welchem Verhältnis stand diese Mühe des Trainings, auch das ganz Alltägliche, und der Sieg? Es gehört ja beides irgendwie zusammen.
Steffi Nerius: Ja, ich hab's tatsächlich so verstanden, "Siegen kann jeder", dass es gar nicht darauf bezogen ist, dass jeder gewinnen soll, sondern dass er für sich siegt, also, dass es für jeden selber ein Gewinn ist. Man muss nicht Erster sein, um zu siegen – unabhängig vom Sport. Das war das erste Kapitel in meinem Leben, aber jetzt hab ich einen Job, jetzt habe ich Athleten, die ich trainiere. Da setze ich mir auch jeden Tag Ziele. Die setzen sich Ziele. Und man versucht die zu erfüllen. Und wenn ich die erreiche, hab ich auch gewonnen.
Und so hab ich das Buch jetzt verstanden von Michael Groß, dass man einfach in die Arbeitswelt geht, egal, ob das jetzt der Chef ist vom Unternehmer oder einer, der am Fließband arbeitet, jeder hat seine eigenen persönlichen Ziele im Leben und versucht die zu erreichen. Und wenn er das am Ende des Tages sagt, heute war ein super Tag, weil, ich hab das und das und das geschafft, dann ist es sein persönlicher Sieg. So habe ich das jetzt daraus gelesen.
Maike Albath: Ist es denn so, dass auch Mühsal ein Wert ist oder der Weg, den man braucht, um dahin zu kommen, was Michael Groß nun jedem vorschlägt, nämlich dieses Siegen?
Heiner Minssen: Da sag ich gleich noch was dazu, vergesse ich auch nicht, die Frage. Aber – also, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, also, ich stehe nicht morgens auf und setz mir ein Ziel, jeden Morgen wieder, sondern ich hab auch irgendwelche Ziele gehabt, wenn ich auf mein Leben zurückgucke. Ich bin nun Professor, da bin ich auch froh und glücklich drüber, weil, ich konnte aus meinem Job ein Hobby machen, nee, vom Hobby einen Job machen, für den ich sogar noch bezahlt werde. Also, ich mach wirklich genau das, was mir Spaß macht – richtig Schwein gehabt. Aber großartig geplant war das nicht. Es war eine Reihe von Zufällen.
Deswegen liest sich das für mich hier alles ein bisschen zu eng. Also, ich will mir auch nicht jeden Morgen ein Ziel setzen. Ich möchte auch mal, was wir viel zu wenig machen, einfach in der Badewanne liegen und an gar nichts denken. Muße ist etwas, was wir viel verlernt haben. Gut.
Mühsal? Ohne Mühsal geht das nicht. Das ist mir wirklich sehr deutlich geworden. Natürlich, in der Arbeitswelt geht's auch nicht ohne Mühsal. Aber hier, ich glaube, um solche wirklich sehr bewundernswerten Leistungen zustande zu kriegen, wie Frau Nerius und Herr Groß, das geht nur, indem man sich wirklich richtig quält und wirklich auch bereit ist, nach meinem Eindruck, auf vieles zu verzichten. Also, das kennt man ja auch von den jungen Sportlern. Ich kenne mich mehr im Fußball, klar, Dortmund, mehr im Fußball aus als woanders. Diese jungen Sportler, die schon mit 15, 16 in Internaten sind und nichts anderes machen als Fußballspielen, das ist schon eine unglaubliche Quälerei jeden Tag wieder.
Maike Albath: Eine Kapitelüberschrift bei Michael Groß lautet: "Wie halte ich Druck aus?" Wie haben Sie Druck ausgehalten, Steffi Nerius? Waren das ähnliche Strategien, wie sie auch Michael Groß versucht anzuwenden?
Steffi Nerius: Also, bei mir war es so, dass ich tatsächlich da gewachsen bin mit dem Druck. Also, ich bin damit überhaupt gar nicht klar gekommen zum Anfang. Ich bin irgendwie als Weltjahresbeste, hab am weitesten geworfen, in dem Jahr bin ich zur Weltmeisterschaft gefahren. Jeder hat gedacht, alles klar, sie wird, sie holt zumindest ne Medaille, wenn nicht sogar Weltmeisterin. Ich hab dann ungefähr elf Meter weniger geworfen als in dem ganzen Jahr und bin irgendwie 11. geworden und fand das total schlimm danach, weil irgendwie überhaupt niemand mit einem gesprochen hat. Ich kam mir wirklich wie so ein Außenseiter vor, wie, ich hab alles versaut und alles schlecht. Und dieses Gefühl dann irgendwann umzuwandeln und zu denken, es ist mir ganz egal, was irgendwo steht, was irgendwo geschrieben wird, was irgendwo gezeigt wird. Ich möchte meine Leistung bringen, wofür ich das ganze Jahr trainiert habe. Und entweder bin ich damit zufrieden nach Ende des Wettkampfes oder nicht. Und dann hat es die Gründe, wenn ich zufrieden bin oder auch nicht. Und es ist mir total Wurscht, wie die Reaktion drumherum ist. – Das ist tatsächlich ein langer Prozess, wo man reifen muss und wo ich auch lange für gebraucht hab, um das zu lernen.
Maike Albath: Heiner Minssen, Sie haben jetzt gerade sehr schön beschrieben, dass es auch eine Erfüllung sein kann, kein Ziel zu haben und so ein bisschen ins Blaue hineinzuleben. Da hat man oft ja auch sehr gute Ideen und Gedanken. Nun ist Burnout der am zweithäufigsten gegoogelte medizinische Begriff überhaupt. Hängt das vielleicht auch mit so einer übertriebenen Siegeswut zusammen?
Heiner Minssen: Also, ich glaube, man sollte jetzt nicht die Sportler dafür verantwortlich machen.
Maike Albath: Ich meine, allgemein gesprochen.
Heiner Minssen: Nein, das glaub ich auch nicht, sondern das hängt damit zusammen, dass man sich die Ziele nicht selbst setzt, sondern dass die Ziele einem vorgegeben werden. Wir leben ja in einer interessanten Situation. Es muss jedes Jahr mehr werden. Es muss Monat für Monat mehr werden. Es müssen mehr und mehr Stückzahlen werden. Das Bruttoinlandsprodukt muss steigen, es muss alles steigen, es muss alles schneller gehen. Das ist etwas, was sich jemand in der Regel nicht aussuchen kann. Das wird ihm vorgegeben.
Und ich glaube, wer für sich das Gefühl hat, dass er Kapitän seines Schiffes ist, wer für sich selbst entscheiden kann, welche Leistungen er bringen will, welche Erfolge er erzielen will, was er dafür auf sich nimmt, das ist was völlig anderes im Vergleich zu denen, die eigentlich diese Handlungsalternativen nicht haben, sondern die sehen müssen, dass sie den Anforderungen, die ihnen vorgesetzt sind, mehr oder minder genügen. Und das ist beim Fließbandarbeiter eben völlig anders als bei einem autonomen Leistungssportler.
Maike Albath: Wir sprachen über Michael Groß, "Siegen kann jeder. Jeden Tag die richtigen Fragen stellen". Dieses Buch ist im Verlag Ecowin erschienen.
Zum Schluss unserer Sendung haben wir Zeit für einen Buchtipp. Steffi Nerius, was möchten Sie uns empfehlen?
Steffi Nerius: "Der ganz große Wurf". So spontan würde ich mein Buch empfehlen, weil es tatsächlich ganz interessant ist.
Maike Albath: Aber sie haben uns noch etwas anderes mitgebracht.
Steffi Nerius: Hab ich? Ich hab noch das Buch von Michael Groß dabei. Das kann ich auch empfehlen.
Maike Albath: Wollten Sie nicht die Millennium-Trilogie empfehlen von Stieg Larsson?
Steffi Nerius: Ach so.
Maike Albath: Ich frag Sie jetzt noch mal: Steffi Nerius, was möchten Sie uns empfehlen?
Steffi Nerius: Ich hab tatsächlich die letzte Literatur, die letzte Trilogie von Stieg Larsson gelesen, fand die sehr spannend. Es kam ja jetzt auch die Kinoversion. Da hab ich mich noch nicht reingetraut, aber die Bücher waren auf jeden Fall super.
Maike Albath: Die Millennium-Trilogie des Schweden Stieg Larsson liegt im Heine Verlag vor. Herr Minssen, Ihre Empfehlung?
Heiner Minssen: Ich habe gedacht, angesichts der ganzen Sieger, mit denen wir es heute zu tun haben, setze ich den Kontrapunkt. Das Buch "Wir Ertrunkenen", das ist eine wunderbare Geschichte über drei Generationen von Familien aus einem dänischen Dorf an der Ostsee, was ich sehr empfehlen kann und was meines Erachtens leider viel zu wenig bekannt geworden ist, obwohl ich Stieg Larsson auch sehr schätze.
Maike Albath: Was hat Sie an diesem Buch gefesselt?
Heiner Minssen: Das ist unglaublich prall geschrieben. Es sind sehr schreckliche Geschichten zum Teil. Auch ich habe selten Beschreibungen über den 2. Weltkrieg auf See, über die Seeschlachten gelesen, die so grauenhaft sind wie die, und gleichzeitig mit einer unglaublichen Warmherzigkeit in der Schilderung der Personen, der ganz unterschiedlichen Personen, die da vorkommen.
Maike Albath: Das Buch des dänischen Schriftstellers Carsten Jensen "Wir Ertrunkenen" ist im Knaus Verlag erschienen.
Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen geht für heute zu Ende. Ich bedanke mich bei dem Kulturwissenschaftlichen Institut, der Buchhandlung "Proust", der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und dem Schauspiel Essen für die Zusammenarbeit und bei meinen Gästen Steffi Nerius und Heiner Minssen für ihre engagierte Teilnahme.
Es verabschiedet sich Maike Albath.