"Ich habe alles Deutsche boykottiert - nur nicht die Literatur"
In Hamburg erhält Amos Oz, dessen Werke in über 40 Sprachen übersetzt wurden, heute den zum ersten Mal verliehenen Siegfried-Lenz-Preis. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur berichtet Oz über seine Freundschaft zu Lenz und die wichtige Rolle der Literatur.
Siegfried Lenz und Amos Oz waren bis zu Lenz' Tod im Oktober dieses Jahres befreundet. Lenz hielt 1992, als Oz den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, die Laudatio. Carsten Hueck hat Amos Oz in Tel Aviv getroffen und erfahren, welche Bedeutung die Literatur von Siegfried Lenz in Israel hat und wie der israelische Autor Oz sein Verhältnis zur deutschen Literatur sieht.
Carsten Hueck: Amos Oz, Ihre Werke sind in über 40 Sprachen übersetzt, Sie haben eine Vielzahl von Preisen in Ihrem Leben erhalten, in vielen Ländern der Welt, allerdings auffällig viele in Deutschland: den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, den Heinrich-Heine-Preis, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und nun den Siegfried-Lenz-Preis. Wann sind Sie, 1939 in Jerusalem geboren, eigentlich mit deutscher Literatur in Kontakt gekommen?
Amos Oz: In meiner Jugend hatte ich mir angewöhnt, alles Deutsche zu boykottieren. Deutsche Produkte und Waren. Ich folgte damit der Haltung meiner Eltern. Das einzige, das ich nicht meiden konnte, war die Literatur. Wenn man Literatur boykottiert, ist man selbst ein Bösewicht. Und so las ich deutsche Nachkriegsliteratur, sobald sie ins Hebräische übersetzt wurde. Das war gegen Ende der 1960er Jahre. Meine Neugier war groß und meine Aufregung auch.
Amos Oz: In meiner Jugend hatte ich mir angewöhnt, alles Deutsche zu boykottieren. Deutsche Produkte und Waren. Ich folgte damit der Haltung meiner Eltern. Das einzige, das ich nicht meiden konnte, war die Literatur. Wenn man Literatur boykottiert, ist man selbst ein Bösewicht. Und so las ich deutsche Nachkriegsliteratur, sobald sie ins Hebräische übersetzt wurde. Das war gegen Ende der 1960er Jahre. Meine Neugier war groß und meine Aufregung auch.
Programmtipp: Das Interview mit Amos Oz hören Sie um 10.11 Uhr in der Lesart.
Hueck: Was hat Sie an dieser Literatur interessiert?
Oz: Ich wollte junge Deutsche kennenlernen, die den Krieg als Soldaten mitgemacht und die Nazizeit erlebt hatten. Und nun im neuen Deutschland zuhause waren. Deren Literatur hat mich sehr fasziniert, besonders, weil sie streckenweise ganz hervorragend war.
Hueck: Ihr Schwiegervater war in dem Kibbuz, in dem Sie lange gelebt haben, Bibliothekar. Sie hatten also quasi rund um die Uhr Zugang zu Büchern. Hat sich denn Ihr Bild von Deutschland durch die Lektüre verändert?
Oz: Es fiel mir immer schwerer, dieses Deutschland zu hassen. Wenn man einen guten Roman liest, schlüpft man in die Pantoffeln und manchmal sogar in die Haut der Figuren. Man fragt sich: Was würde ich tun? Wie hätte ich mich als Nazigegner verhalten? Wie würde ich empfinden, wenn die Eltern dieses Autors meine Eltern gewesen wären? Solche Fragen trieben mich um. Das hat mein Leben nicht einfacher gemacht. Es war schmerzhaft. Aber es wurde mir unmöglich, Deutschland so zu hassen, wie ich es als Kind getan hatte.
Hueck: Was hat Sie an dieser Literatur interessiert?
Oz: Ich wollte junge Deutsche kennenlernen, die den Krieg als Soldaten mitgemacht und die Nazizeit erlebt hatten. Und nun im neuen Deutschland zuhause waren. Deren Literatur hat mich sehr fasziniert, besonders, weil sie streckenweise ganz hervorragend war.
Hueck: Ihr Schwiegervater war in dem Kibbuz, in dem Sie lange gelebt haben, Bibliothekar. Sie hatten also quasi rund um die Uhr Zugang zu Büchern. Hat sich denn Ihr Bild von Deutschland durch die Lektüre verändert?
Oz: Es fiel mir immer schwerer, dieses Deutschland zu hassen. Wenn man einen guten Roman liest, schlüpft man in die Pantoffeln und manchmal sogar in die Haut der Figuren. Man fragt sich: Was würde ich tun? Wie hätte ich mich als Nazigegner verhalten? Wie würde ich empfinden, wenn die Eltern dieses Autors meine Eltern gewesen wären? Solche Fragen trieben mich um. Das hat mein Leben nicht einfacher gemacht. Es war schmerzhaft. Aber es wurde mir unmöglich, Deutschland so zu hassen, wie ich es als Kind getan hatte.
Der beste Weg, ein fremdes Land kennenzulernen: Ein guter Roman
Hueck: Das Lesen hat also tatsächlich Ihren Blick auf die Welt oder in diesem Fall auf das Land verändert?
Oz: Literatur ist die beste Art, ein anderes Land zu erkunden. Hätte ich zuerst ein Flugticket gekauft, um für drei Wochen nach Deutschland zu reisen, hätte ich Museen und Kirchen besucht, historische Stätten und schöne Landschaften gesehen. Ich hätte mit Leuten geredet, Fotos gemacht, und wäre wieder nachhause geflogen. Aber wenn ich einen guten deutschen Roman lese, werde ich in die Wohnzimmer eingeladen, die Kinderzimmer, selbst in die Schlafzimmer. Da kommt kein Tourist hin. Und deshalb ist die beste – und billigste – Art ein fremdes Land kennenzulernen: ein guter Roman.
Hueck: Sie sind dann aber auch körperlich mit Deutschland in Kontakt gekommen. Ihr erstes Buch in deutscher Übersetzung erschien 1976, in den 1980er Jahren entstand die Freundschaft mit Ihrem damaligen Verleger Siegfried Unseld und eben auch die mit Siegfried Lenz – der aber kam zu Ihnen nach Israel?
Oz: Mit seiner Frau Liselotte besuchte mich Siegfried Lenz in den 1980er Jahren im Kibbuz Chulda. Wir wurden sofort gute Freunde, denn ich hatte vorher schon etwas von ihm gelesen. Ich wusste, dass er mir nah war. Eben auch als Mensch. Meine Beziehung zu Deutschland ist nicht einfach. Bis heute. Es ist anders als mit Australien oder Uruguay. Und wird es auch immer bleiben. Inzwischen war ich bestimmt zwanzig Mal oder öfter in Deutschland. Tagsüber funktioniere ich gut. Ich rede, halte Vorträge, reiße Witze, genieße das Essen und die Leute um mich herum. Aber nachts, jedes Mal wieder, kann ich nicht einschlafen. Das ist nur so in Deutschland und Österreich.
Hueck: Siegfried Lenz starb vor wenigen Wochen im Alter von 88 Jahren. Sie waren also mehr als dreißig Jahre miteinander befreundet, der Kibbuznik und der ostpreußische, ehemalige Wehrmachtssoldat. Hat Lenz Ihnen von dieser Zeit erzählt?
Oz: Literatur ist die beste Art, ein anderes Land zu erkunden. Hätte ich zuerst ein Flugticket gekauft, um für drei Wochen nach Deutschland zu reisen, hätte ich Museen und Kirchen besucht, historische Stätten und schöne Landschaften gesehen. Ich hätte mit Leuten geredet, Fotos gemacht, und wäre wieder nachhause geflogen. Aber wenn ich einen guten deutschen Roman lese, werde ich in die Wohnzimmer eingeladen, die Kinderzimmer, selbst in die Schlafzimmer. Da kommt kein Tourist hin. Und deshalb ist die beste – und billigste – Art ein fremdes Land kennenzulernen: ein guter Roman.
Hueck: Sie sind dann aber auch körperlich mit Deutschland in Kontakt gekommen. Ihr erstes Buch in deutscher Übersetzung erschien 1976, in den 1980er Jahren entstand die Freundschaft mit Ihrem damaligen Verleger Siegfried Unseld und eben auch die mit Siegfried Lenz – der aber kam zu Ihnen nach Israel?
Oz: Mit seiner Frau Liselotte besuchte mich Siegfried Lenz in den 1980er Jahren im Kibbuz Chulda. Wir wurden sofort gute Freunde, denn ich hatte vorher schon etwas von ihm gelesen. Ich wusste, dass er mir nah war. Eben auch als Mensch. Meine Beziehung zu Deutschland ist nicht einfach. Bis heute. Es ist anders als mit Australien oder Uruguay. Und wird es auch immer bleiben. Inzwischen war ich bestimmt zwanzig Mal oder öfter in Deutschland. Tagsüber funktioniere ich gut. Ich rede, halte Vorträge, reiße Witze, genieße das Essen und die Leute um mich herum. Aber nachts, jedes Mal wieder, kann ich nicht einschlafen. Das ist nur so in Deutschland und Österreich.
Hueck: Siegfried Lenz starb vor wenigen Wochen im Alter von 88 Jahren. Sie waren also mehr als dreißig Jahre miteinander befreundet, der Kibbuznik und der ostpreußische, ehemalige Wehrmachtssoldat. Hat Lenz Ihnen von dieser Zeit erzählt?
"Ich habe 'Deutschstunde' auf Hebräisch gelesen"
Oz: Ja, wir sprachen darüber. Aber er musste nicht viel sagen, denn seine Erfahrungen steckten in seinen Büchern. Ich habe "Deutschstunde" auf Hebräisch gelesen. Ich wusste, was er durchgemacht hatte. Ich fühlte, dass wir Vieles gemeinsam hatten. Die Freundschaft mit ihm bleibt. Und ohne dass Sie mich danach fragen, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass ich überaus glücklich und stolz bin, der erste Siegfried-Lenz-Preisträger sein zu dürfen. Es ist eine große Ehre für mich und eine persönliche Erfüllung.
Hueck: Amos Oz ist in fast jeder deutschen Buchhandlung vorrätig. Kann ich in Tel Aviv auch Siegfried Lenz in hebräischer Übersetzung kaufen?
Oz: Seine späteren Romane. Aber die frühen in einer israelischen Buchhandlung zu bekommen, das ist schwer. Ich glaube so ist es aber weltweit in den meisten Buchläden. Selbst wenn man einen frühen Thomas Mann bekommen will, gibt’s ein Problem.
Hueck: Wie würden Sie Siegfried Lenz als Autor charakterisieren?
Oz: Seine Bücher sind mit Neugier und mit einem leicht unglücklichen Lächeln geschrieben, das ich sehr mag. Dem Lächeln eines Kindes, das aber schon eine Menge gesehen hat.
Hueck: Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki nannte Lenz einmal einen „gütigen Zweifler“. Obwohl auch er politisch und pädagogisch wirken wollte. Auch Sie, Amos Oz, legen sich gerne einmal mit Politikern oder der öffentlichen Meinung in ihrer Heimat an, Sie sind Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung. Wollen Sie uns zum Abschluss vielleicht noch sagen, wie Sie ihre eigene Arbeit sehen?
Hueck: Amos Oz ist in fast jeder deutschen Buchhandlung vorrätig. Kann ich in Tel Aviv auch Siegfried Lenz in hebräischer Übersetzung kaufen?
Oz: Seine späteren Romane. Aber die frühen in einer israelischen Buchhandlung zu bekommen, das ist schwer. Ich glaube so ist es aber weltweit in den meisten Buchläden. Selbst wenn man einen frühen Thomas Mann bekommen will, gibt’s ein Problem.
Hueck: Wie würden Sie Siegfried Lenz als Autor charakterisieren?
Oz: Seine Bücher sind mit Neugier und mit einem leicht unglücklichen Lächeln geschrieben, das ich sehr mag. Dem Lächeln eines Kindes, das aber schon eine Menge gesehen hat.
Hueck: Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki nannte Lenz einmal einen „gütigen Zweifler“. Obwohl auch er politisch und pädagogisch wirken wollte. Auch Sie, Amos Oz, legen sich gerne einmal mit Politikern oder der öffentlichen Meinung in ihrer Heimat an, Sie sind Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung. Wollen Sie uns zum Abschluss vielleicht noch sagen, wie Sie ihre eigene Arbeit sehen?
"Ich reagiere wie ein Rauchmelder der Sprache"
Oz: Weil ich mit Sprache arbeite, hatte ich immer schon das Gefühl, die Sprache ist mein Instrument. Ich habe eine bestimmte Verantwortung für sie. Wenn Sprache missbraucht wird, ist es meine Pflicht, loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder der Sprache oder wie die Feuerwehr. Wenn Menschen beispielsweise als „unerwünschte Ausländer“ bezeichnet werden, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.
Den Missbrauch von Sprache gibt es überall. In der Politik, der Presse, den Medien. Im Straßengespräch. Hass, Rassismus und Diskriminierung sind nicht nur unter Politikern weit verbreitet. Ich spreche von Zeit zu Zeit mal mit ihnen. Ob ich sie beeinflussen kann? Ob ich etwas bewirke? Ich bezweifle das.
In Israel ist es üblich, dass Schriftsteller zum Premierminister nachhause eingeladen werden. Zum Gedankenaustausch. Und dann spendiert der Premierminister ein Getränk und fragt mich, wo hat sich unsere Nation geirrt? In welche Richtung sollen wir gehen? Er bewundert meine Antworten – und ignoriert sie komplett.
Hueck: Ist das nicht unglaublich frustrierend?
Oz: Was ist neu daran? Es ist die älteste Geschichte der Menschheit: die Stimme in der Wildnis. Der einsame Rufer. Wenn Sie mich fragen, ob meine Wörter die Menschen beeinflussen, kann ich nur sagen: ich weiß es nicht. Niemand kommt zu mir und sagt „Hey, ich habe gerade Dein Interview gehört und meine Meinung geändert.“ So läuft das nicht.
Hueck: Danke, Amos Oz.
Den Missbrauch von Sprache gibt es überall. In der Politik, der Presse, den Medien. Im Straßengespräch. Hass, Rassismus und Diskriminierung sind nicht nur unter Politikern weit verbreitet. Ich spreche von Zeit zu Zeit mal mit ihnen. Ob ich sie beeinflussen kann? Ob ich etwas bewirke? Ich bezweifle das.
In Israel ist es üblich, dass Schriftsteller zum Premierminister nachhause eingeladen werden. Zum Gedankenaustausch. Und dann spendiert der Premierminister ein Getränk und fragt mich, wo hat sich unsere Nation geirrt? In welche Richtung sollen wir gehen? Er bewundert meine Antworten – und ignoriert sie komplett.
Hueck: Ist das nicht unglaublich frustrierend?
Oz: Was ist neu daran? Es ist die älteste Geschichte der Menschheit: die Stimme in der Wildnis. Der einsame Rufer. Wenn Sie mich fragen, ob meine Wörter die Menschen beeinflussen, kann ich nur sagen: ich weiß es nicht. Niemand kommt zu mir und sagt „Hey, ich habe gerade Dein Interview gehört und meine Meinung geändert.“ So läuft das nicht.
Hueck: Danke, Amos Oz.
Buchbesprechungen:
Amos Oz und Fania Oz-Salzberger:
"Juden und Worte", Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2013, 285 Seiten
"Juden und Worte", Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2013, 285 Seiten
"Unter Freunden", Suhrkamp, Berlin 2013, 215 Seiten
"Geschichten aus Tel Ilan", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 187 Seiten
"Verse auf Leben und Tod", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 115 Seiten