Siegfried Lichtenstaedter: "Prophet der Vernichtung"

Ein Finanzbeamter als Hellseher

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Cover von Friedrich Lichtenstaedters Buch "Prophet der Vernichtung". Im Hintergrund ist ein Berg von Koffern und Taschen zu sehen, auf die nach Ausschwitz deportierte Menschen ihre Namen geschrieben haben.
Ein Berg von Koffern und Taschen, auf die nach Ausschwitz deportierte Menschen ihre Namen geschrieben haben. © Fischer / dpa / picture-alliance
Von Carsten Hueck |
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Es ist ein hellsichtiger Denker und satirisch begabter Provokateur, den der Herausgeber Götz Aly im Buch "Prophet der Vernichtung" vorstellt. Der Beamte Siegfried Lichtenstaedter sah die Verfolgung der Juden unter den Nationalsozialisten voraus.
200.000 Christen leben in der Stadt Anthropopolis und 2000 Juden. Äußerlich sind sie nicht voneinander zu unterscheiden. Nun soll ein Jude den Posten des Gerichtsvollziehers bekleiden – diese Aussicht versetzt die Bevölkerung in tiefe Unruhe. Denn: "Was die Arier tun, ist edel, was die Semiten tun, ist unedel."
1926 veröffentlicht der Orientalist, Jurist und bayerische Oberregierungsrat Siegfried Lichtenstaedter unter dem Pseudonym Dr. Mehemed Emin Effendi seine Schrift "Antisemitica – Heiteres und Ernstes, Wahres und Erdichtetes", in der sich die Geschichte des Gerichtsvollziehers findet. Beispielhaft wird darin Entstehung und Auswirkung des Antisemitismus vorgeführt. Das Ganze ist eine Satire.
Doch Lichtenstaedter, als Jude und Homosexueller gleich doppelt begabt für die Erfahrung, von einer Mehrheit stigmatisiert zu werden, schöpft den Stoff aus seinem Alltag in der bayerischen Hauptstadt. Er verfolgt aufmerksam die politischen Ereignisse, liest regelmäßig die rechtsnationalistische Presse. Früh erkennt er, was kommen wird.
Schon seit 1895 veröffentlicht der Finanzbeamte, meist unter wechselnden Pseudonymen, Schriften zu jüdischer Religion und Zionismus, Tier- und Naturschutz, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Eine Auswahl liegt nun, herausgegeben vom Historiker Götz Aly, unter dem knalligen Titel "Prophet der Vernichtung" vor. Das ist verdienstvoll. Denn so ermöglicht Aly einer breiten Öffentlichkeit diesen bemerkenswert hellsichtigen Denker und satirisch begabten Provokateur kennenzulernen.

Der Mehrheitsgesellschaft traut er alles zu

Durch intensive Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich und dessen Niedergang entwickelt Lichtenstaedter früh eine seinerzeit ungewöhnliche Sensibilität dafür, welche Rolle nationale und soziale Fragen für das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit in einem Staat spielen. Er sieht bereits1898 ethnische Konflikte voraus und schlägt, um einen Völkermord zu verhindern, die Umsiedlung der christlichen Minderheiten der Armenier und Griechen aus dem Osmanischen Reich vor. Denn der Mehrheitsgesellschaft traut er alles zu: Minderheiten würde sie zu "Fremdstämmigen" erklären, um sie berauben, aus ihren gesellschaftlichen Positionen verdrängen und schließlich totschlagen zu können.
Lichtenstaedter spricht in der Folge von einem "bewußt geführten Ausrottungskrieg" der Türken gegen die Armenier. Und eben diese Vision entwickelt er bereits sieben Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten auch für die deutschen Juden. Den Anschluss Österreichs sagt er fast aufs Jahr genau voraus und auch den Überfall auf Polen. "Die 600.000 Juden des Deutschen Reiches und die 200.000 Juden Deutsch-Österreichs sollen totgeschlagen und ihre Güter den 'Ariern' gegeben werden."
1938 wird Lichtenstaedter aus seiner Wohnung vertrieben, 1942 in Theresienstadt ermordet.
Herausgeber Götz Aly erläutert in seinem Vorwort und den jeweils vorangestellten Bemerkungen zu Lichtenstaedters Publikationen deren historischen Kontext. Sie lassen sich nicht allein als Dokumente einer vergangenen Epoche lesen, sondern oftmals auch als Einführung in das Denken eines Zeitgenossen. 100 Jahre alt sind Beobachtungen und Analysen des bayerischen Beamten – und noch immer taugen sie, unser Bewusstsein für aktuelle Entwicklungen zu schärfen.

Siegfried Lichtenstaedter: "Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass"
Mit einem begleitenden Essay von Götz Aly
Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2019
288 Seiten, 22 Euro

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