Siegfried Unseld: "Reiseberichte"
Herausgegeben von Raimund Fellinger
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
378 Seiten, 26 Euro
Notizen eines brillanten Menschenfängers
10:10 Minuten
Siegfried Unseld prägte viele Jahrzehnte lang den Suhrkamp Verlag. Der hat nun die unzähligen Notate Unselds über seine Begegnungen mit Autorinnen und Autoren gesichtet und herausgebracht. Eine Lektüre, von der man nicht genug bekommt.
Der 2002 im Alter von 78 Jahren gestorbene Verleger Siegfried Unseld ist längst eine mythische Figur. Er wurde 1959 Chef des Suhrkamp-Verlags und erreichte innerhalb weniger Jahre, dass George Steiner das bedeutsame Wort von der "Suhrkamp Culture" sprach.
Vielleicht kommt man dem Geheimnis am nächsten, wenn man die jetzt erschienenen "Reiseberichte" Unselds zu Rate zieht – eine Art Heiliger Gral des Hauses Suhrkamp. Der Verleger hat von Anfang an seine Gespräche mit Autoren, ausländischen Verlegern, Gewährsleuten und Multiplikatoren protokolliert.
Aus ungefähr 1500 dieser Texte letztlich 35 auszuwählen: Das konnte nur einer leisten. Der jüngst verstorbene treueste Mitarbeiter Unselds, Raimund Fellinger, in den letzten beiden Jahrzehnten das wandelnde Gedächtnis des Suhrkamp-Verlags, wusste alles. Er hat noch, nach langen Anläufen, eine Ausgabe von Unselds Reiseberichten zusammenstellen können.
Man möchte mehr davon lesen - viel mehr
Fellinger ist der Sinn für das Bedeutsame auf jeden Fall zuzutrauen. Aber man ahnt natürlich, dass da noch einiges verborgen geblieben ist.
Überhaupt ist die wesentlichste Erkenntnis nach Lektüre dieser schönen Ausgabe in der "Bibliothek Suhrkamp": Man möchte mehr davon lesen, viel mehr. Unselds verlagsinterne Notate sind eine grundlegende Quelle für die Literatur der Bundesrepublik, hier erfährt man auf engstem Raum so viel, dass man mit dem Transkribieren kaum nachkommt.
Es treten natürlich die zentralen Autoren des Verlags auf: Handke, Johnson, Bernhard, Frisch, Enzensberger und Bachmann sowie die Brecht- und die Hesse-Erben. Aber auch die Geschäftsgespräche mit amerikanischen, französischen oder italienischen Verlegern sind atmosphärisch äußerst reizvoll.
Allein die Art und Weise, was genau Unseld wie notiert, zeigt, was für ein Menschenfänger, begabter Gesprächspartner und gewinnender Kollege er gewesen sein muss. Und auch, was man ihm angesichts seines schwäbischen Geschäftssinns nie so richtig zugestehen wollte: Welchen literarischen Spürsinn er hatte, und vor allem welche Nehmerqualitäten angesichts eitler, arroganter und sich selbst überschätzender Autoren.
Der richtige Mann im richtigen Moment
Unseld war ästhetisch wie politisch auf der Höhe seiner Zeit. Seine Zusammenfassung eines informellen Gesprächs mit Literaturleuten bei Bundeskanzler Ludwig Erhard im Jahr 1964 beweist, dass er der richtige Mann im richtigen Moment war.
Kommentarlos zitiert er Ernst Jüngers Aussage bei diesem Treffen, er (Jünger) halte nicht viel davon, "wenn Autoren ins Ausland reisten". Das genügt. Und auch Unselds widerwillige Wiedergabe eines Dialogs zwischen Samuel Beckett und Peter Handke beim Mittagessen in Paris zeigt sein Wissen darum, was die Nachwelt wirklich interessiert.
Ungläubig schlägt man dieses Buch wieder zu: So wichtig wurde die deutsche Gegenwartsliteratur selten genommen wie in dieser Zeit, und selten war sie finanziell so lukrativ. Dabei ist das alles noch gar nicht so lange her.