Sieghard Wilm, 50, ist seit 2002 Pastor der St. Pauli Kirche in Hamburg. Er wuchs in Schleswig-Holstein auf, studierte Religionswissenschaften und Ethnologie in Heidelberg, in Accra/Ghana und in Hamburg. 2013 nahm er 80 westafrikanische Flüchtlinge in seine Gemeinde auf.
"Wir Flüchtlingshelfer wurden als Querulanten gesehen"
Sieghart Wilm hält die deutsche Flüchtlingspolitik für ausgesprochen ambivalent. Zum Asylpaket II sagt der Hamburger Pastor: Was sich jetzt politisch bei der Behandlung der Asylsuchenden verschärft, werden die ehrenamtlichen Helfer menschlich auffangen müssen – gratis, ohne einen Cent Steuergeld.
Als Pastor der St.-Pauli-Kirche in Hamburg hat Sieghard Wilm bereits im Frühjahr 2013 Flüchtlinge aufgenommen. "Wir wurden als Querulanten gesehen", sagt Wilm. "Es gibt in der Zivilgesellschaft so viel guten Willen. Der darf aber auch nicht verbraucht werden."
Wilm beklagt eine politische "Unfähigkeit zu handeln" sowie eine "Bürokratie, die manchmal mit einer Kälte Situationen schafft, die würdelos sind." Not werde dann nicht beseitigt, sondern "kultiviert". Große Sorgen bereite ihm, wenn dies als "korrekte Antwort" verstanden werde, weil man es Flüchtlingen "möglichst unangenehm machen möchte." Wilm: "Da muss man sich nicht wundern, dass der rechte Rand dann eben Beifall klatscht."
Sorgen von Frauen, Juden oder Schwulen
Wilm warnt gleichzeitig davor, Flüchtlinge zu idealisieren. "Wir haben es hier nicht mit über einer Million Menschenrechtsaktivisten zu tun, die im vergangenen Jahr zu uns gekommen sind." Er kenne die Sorgen von Frauen, Juden oder Schwulen, mühsam erworbenen Freiheiten stünden auf dem Spiel. "Ich habe Flüchtlinge kennengelernt, die einer Frau nicht die Hand geschüttelt haben und mir auch gesagt haben, du hast ja wunderbare ehrenamtliche Helferinnen, aber warum tragen sie kein Kopftuch?" Um sich zu ändern, bräuchten solche Flüchtlinge Zeit und "den Kontakt zur Zivilgesellschaft. Und das große Problem ist wirklich, wenn sie nichts anderes sehen als die Containerwand."
Konflikte auch unter Flüchtlingen seien unvermeidlich. Wilm empfiehlt, ihnen selbst die Verantwortung zu übertragen: "Es gibt eine Art Gerichtssitzung hier. Wir haben richtig Pöstchen verteilt, so dass es eine Regierung gab unter den Flüchtlingen selbst. Es gab Sprecher. Und dann gab es eben jeden Morgen eine Runde, in der alle Konflikte miteinander besprochen worden sind. Und das klappte sehr, sehr gut."
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Tacheles heute mit Christian Rabhansl und von einem Ort, an dem sich alle treffen – die gut situierten Hamburger Familien, die Nachtarbeiter von der Reeperbahn, die alleinerziehenden Studentinnen und die Drogendealer. Hier steht die St.-Pauli-Kirche. Nach ihr ist der ganze Bezirk benannt. St. Pauli, da prallen die Welten aufeinander. Und wenn es gut geht, dann finden sie auch zusammen – in dieser Kirche. Und das ist eine Kirche, die vor knapp drei Jahren bundesweit bekannt geworden ist, weil im Kirchenschiff plötzlich Flüchtlinge gewohnt haben.
Und wie dieses Zusammenleben gelingen konnte zwischen Flüchtlingen und zwischen all diesen verschiedenen Menschen in diesem kleinen chaotischen Kiez St. Pauli, und wie es vielleicht auch in der großen und mindestens so chaotischen Bundesrepublik gelingen kann, darüber spreche ich in Tacheles mit Sieghard Wilm, dem Pastor von St. Pauli. – Guten Tag, Herr Wilm.
Sieghard Wilm: Hallo, Moinmoin.
Deutschlandradio Kultur: Vor knapp drei Jahren im Frühsommer 2013 hat der Rest der Republik noch gedacht beim Stichwort Flüchtlinge, die sind ziemlich weit weg, maximal auf Lampedusa. Sie aber, Pastor Wilm, Sie haben die Tür aufgemacht und da standen plötzlich 80 Männer aus Afrika vor Ihnen und haben um Hilfe gebeten. – Was haben Sie da als erstes gedacht?
Sieghard Wilm: Also, das Thema Flüchtlinge war auch für mich relativ weit weg. Wir haben sicher den einen oder anderen Flüchtling hier auch schon in der Gemeinde gehabt, aber es brach richtig in die Wirklichkeit rein für uns im Jahr 2013. Und alles, was man sonst noch kannte aus den Nachrichten von den EU-Außengrenzen, das war plötzlich total präsent einfach in den Gesichtern der Menschen.
Die Anfrage, die kam ganz, ganz zögerlich von den Flüchtlingen. Einige hatte ich getroffen. Die schlafen direkt hier auf der Straße, in den Parks. Einige schliefen direkt am Bismarck-Denkmal. Das ist hier auf St. Pauli. Und das war erschreckend, weil die Leute nicht einmal richtige Schlafsäcke hatten, sondern einfach Plastikplanen. Und die Angst war, vertrieben zu werden, also immer wieder vom Ordnungsdienst aus den Parks vertrieben zu werden. Das ist geschehen. Und um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, wollten sie dann bei uns hier auf dem Kirchhof schlafen.
Deutschlandradio Kultur: Und Sie haben sogar die Tür aufgemacht, also nicht nur die Pforte zum Kirchhof, sondern wirklich das Kirchenschiff geöffnet. Das geht heute vielen Kommunen so. Sie bekommen einen Anruf. Und dann heißt es, in zehn Tagen, in einer Woche habt ihr 200 Flüchtlinge unterzubringen. Bei Ihnen war es noch etwas kurzfristiger und Sie werden kaum 80 Iso-Matten hinterm Altar gelagert haben. – Wie ging das?
Sieghard Wilm: Das war Ende Mai, dass die erste vorsichtige Anfrage kam. Und meine Hoffnung war immer noch, dass es einen Deal gibt zwischen der Diakonie St. Pauli und der Sozialbehörde um die Unterbringung dieser Flüchtlinge, die auf den Straßen Hamburgs gelandet sind. Das scheiterte dann an einem Samstag um 21 Uhr. Und am Sonntagmorgen im Gottesdienst wusste ich noch nicht, dass die Flüchtlinge kommen. Und ich habe einen Test gemacht. Ich habe in meiner Gemeinde eine Kollekte sammeln lassen für Flüchtlinge. Und siehe da, es war eine sehr, sehr große Kollekte. Normalerweise sind es 100 Euro. Es waren 400 Euro. Und ich wusste, ich habe den Rückhalt von meiner Gemeinde.
Dann saßen wir zusammen mit einigen Leuten noch, haben Kaffee getrunken und haben gesagt, so, jetzt könnten sie kommen. Und sie kamen. Und das ist natürlich eine Situation, wo man aus dem Moment heraus Entscheidungen trifft, eben die Kirche aufzumachen. Alles andere wäre mir zynisch vorgekommen.
"Ich hatte Herzklopfen"
Deutschlandradio Kultur: Hatten Sie Muffensausen?
Sieghard Wilm: Ja. Ich habe also durchaus Herzklopfen dabei gehabt und alles, was in so einem Moment da ist, also, der Mut, ja sicher auch so ein Gefühl von Einsamkeit. Das ist auch da, dann aber auch diese Euphorie, die in dem Moment entstand, weil ich merkte, ich bin gar nicht alleine. Da sind plötzlich so viele andere, die auch alle unterstützen, die helfen, Menschen, die ich noch nie gesehen habe, die mich fragen, was sie tun können – Essenspenden, die ersten Essenspenden in dieser ersten Nacht. Ich habe in dieser ersten Nacht so gut wie nicht geschlafen. Und dann war es auch die ersten Wochen noch sehr chaotisch.
Es waren ja 30 Männer, nachher 80 Männer. Und jetzt muss man sich vorstellen, wir hatten keine Zeit Betten aufzubauen. Wir hatten keine Zeit, irgendeine Struktur zu schaffen. Es war totales Chaos und insofern aber auch ein Gotteserlebnis.
Deutschlandradio Kultur: Da hilft natürlich eine Kollekte, die zusammenkommt. Sie haben die Spendenbereitschaft Ihrer Gemeindemitglieder erwähnt. Damit ist aber nicht alles getan. Es muss Essen gekocht werden. Es müssen Decken her. Die Wäsche muss gewaschen werden. Wer hat das alles geleistet?
Sieghard Wilm: Absolutes Improvisieren, Hilfe auf Zuruf, von den Cafés in der Nachbarschaft gleich die Bereitschaft Essen zu kochen, von Restaurants Angebote, von Nachbarn, aber auch Menschen, die aus anderen Stadtteilen kamen – also, eine Bewegung, die in Gang kam. Es war unglaublich. Das ist wirklich, würde ich sagen, das hat für mich die Kategorie von Wunder gehabt, so etwas zu erleben, dass etwas Positives, Unerwartetes geschieht, was alle Ängstlichkeit und auch allen Kleinmut, der dann und wann ja auch da ist, vollkommen sprengt, also, wo ich mich hinterher geschämt habe für jeden Zweifel, weil, es ging viel, viel besser und viel mehr als alles, was wir dachten.
Deutschlandradio Kultur: Vieles von dem, was Sie hier im Kleinen erlebt haben, hat der Rest der Republik ein, zwei Jahre später im Großen nochmal erlebt.
Sieghard Wilm: Ja, das ist das Verrückte. Das hat mich nachher wirklich geradezu amüsiert, dass wir 2013 diese Präsenz der Flüchtlinge schon erlebt haben. Das ist ein Thema, das dann 2015 eigentlich erst in der Republik angekommen ist.
Deutschlandradio Kultur: Was sich eventuell auch wiederholt hat, war die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und die etwas verhaltene Reaktion der Politik. Wie war das damals? Es waren diese 80 Menschen bei Ihnen, aber in der ganzen Stadt ja mehrere hundert Flüchtlinge, die aus Afrika über Lampedusa nach Hamburg gekommen waren. Die waren hier unterwegs. Und der Senat und der sozialdemokratische Bürgermeister Olaf Scholz, die müssten Ihnen ja eigentlich sehr dankbar gewesen sein für diese Lösungsversuche.
"Es hat sich kein einziger Behördenvertreter gemeldet"
Sieghard Wilm: Ja, am Anfang waren wir relativ naiv. Wir haben tatsächlich gedacht, die Sozialbehörde ruft an und sagt: Toll, was ihr da geleistet habt. Ihr habt die Not aufgefangen, die auf den Straßen der Stadt ist. Jetzt helfen wir mal, weil, es ist ja eine städtische Aufgabe. – Dem war nicht so. Es hat sich kein einziger Behördenvertreter gemeldet, auch nach Wochen nicht, auch nach Monaten nicht. Und das fand ich schon sehr, sehr befremdlich. Also, in dem Moment ist für mich auch eine gewisse positive Unterstellung der Behörde oder der Funktionsfähigkeit des Staates infrage gestellt worden.
Ich sah wirklich die Unfähigkeit des Staates in dem Moment zu handeln, in diesem Fall also der Freien und Hansestadt Hamburg. Diese totale Unfähigkeit bis dahin, dass wir wochenlang versuchten, die Zuständigkeit des Gesundheitsamts zu bekommen, denn die Hälfte aller Männer war krank. Also, es war ein einziges Hustkonzert im Raum. Es wurde dann später in der Tat auch Tuberkulose festgestellt. Wir haben das in der Öffentlichkeit immer versucht nicht nach außen dringen zu lassen, weil wir sonst mit Panikreaktionen rechneten.
Aber ehe die Stadt überhaupt verstanden hat, dass sie hier auch in der Pflicht ist, das hat wirklich sehr, sehr lange gedauert. Es war eher so, dass wir als Querulanten wahrgenommen worden sind.
Deutschlandradio Kultur: Seither dürfte die ganze Republik begriffen haben, wie groß die Herausforderungen sind. Ist denn inzwischen vom Senat oder auch von der Bundesregierung mal jemand auf Sie zugekommen und hat Sie als jemanden, der schon sehr früh Erfahrung gemacht hat, um Tipps gebeten, Ratschläge gebeten?
Sieghard Wilm: Also, in der späten Phase, da hatten wir die Lampedusa-Flüchtlinge schon aus dem Kirchraum, der schlecht heizbar ist, in Containern untergebracht, da gab es eine Begegnung mit dem Sozialsenator. Da hat er mir die Hand gereicht und hat gesagt: Also, für diese letzte Wegstrecke möchte ich mich herzlich bedanken für die Zusammenarbeit. – Aber der Senat hat sich schwer getan und auch bis heute uns kein Signal gegeben, dass diese Arbeit überhaupt eine Wertschätzung erfahren hätte.
Nun muss ich sagen, dass insgesamt durch die Herausforderung im Jahr 2015 der Senat eins gelernt hat: Er hat gelernt, dass es ohne die Arbeit der ganzen Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit in Hamburg nicht geht, dass die Kommune das alleine nicht leisten kann. Und da gibt es eben auch wirklich Anerkennung. Also, es gibt eine Einladung ins Rathaus für ehrenamtliche Menschen in der Flüchtlingsarbeit. Das hat es früher nie gegeben. Insofern gibt es da eine Weiterentwicklung – eben aus der Not heraus.
Deutschlandradio Kultur: Das ist eine schöne freundliche menschliche Geste, aber Ihre Expertise ist nie abgefragt worden?
Sieghard Wilm: Nein, die ist nicht abgefragt worden. Die ist auch nicht gewünscht. Ich glaube, man hat auf Seiten des Senats uns in der Tat gesehen als Querulanten und als Menschen, die Probleme machen. Das hat mir der Innensenator ja auch mal so ins Gesicht gesagt. Michael Neumann, der mittlerweile ja auch schon seinen Posten verlassen hat, hat mir gesagt: Pastor Wilm, Sie machen uns ein riesiges Problem. Und meine Antwort war darauf: Senator Neumann, wir machen nicht das Problem, sondern die Stadt Hamburg hat ein Problem. Sie hat obdachlose Flüchtlinge auf den Straßen und wir versuchen dieses Problem aufzufangen und unseren Beitrag zur Lösung zu leisten. Wir sind ein Teil der Lösung, nicht das Problem.
Deutschlandradio Kultur: Übertragen wir das auf das ganze Land. Die Bundesregierung ist in Europa schwer in der Kritik. Sie sei viel zu freundlich, würde eine Politik der offenen Grenzen betreiben, eine Willkommenskultur für Flüchtlinge. Gleichzeitig ist im Bundestag das Asylpaket II dieser Tage, mit Einschränkungen. Auch Minderjährige sollen unter Umständen ihre Eltern nicht mehr nachkommen lassen dürfen. Auch Kranke sollen abgeschoben werden können. Amnesty International hat jetzt auch dieser Tage gesagt: Aus der anfänglichen Offenheit der Bundesregierung sei "Härte und Abschottung geworden". – Sehen Sie das politisch?
Die Haltung der Politik in der Flüchtlingsfrage ist widersprüchlich
Sieghard Wilm: Ich habe die große Ambivalenz schon seit Monaten gemerkt in den politischen Reaktionen. Die ganz große politische Euphorie, wir schaffen das, das hat es eigentlich so in Reinform nie gegeben. E
s hat immer die große Widersprüchlichkeit gegeben. Und die sehe ich. Ich sehe, dass – immer mit dem Argument, dass sonst der rechte Rand breiter würde – auch die Mitte anfängt, Zugeständnisse zu machen, die aber letzten Endes in Richtung von AfD-Forderungen gehen. Das sehe ich als sehr, sehr bedenklich.
Und ich sehe auch schon so viel Ungleichbehandlung. Wissen Sie, wir haben zurzeit etwa 30 Sprachschüler, die alle hier Deutsch lernen. Jeden Tag in unserem Jugendhaus werden die unterrichtet. Ehrenamtlich wird alles von uns organisiert und auch finanziert. Die haben keine Berechtigung für Deutschkurse. Also, wie ungleich auch die Möglichkeiten der Flüchtlinge hier verteilt sind aufgrund der verschiedenen Einordnungen – also, die Syrer bekommen einen Sprachkurs, die Afghanen eben nicht. Deswegen ist unser Sprachkurs vor allem voll mit Afghanen.
Also, gerade für die Afghanen ist im Moment die Not am drängendsten. Man sieht es ja auch an der griechisch-mazedonischen Grenze. Man sieht den Druck auf die Afghanen in vielen Gesprächen. Nachher kommt auch ein junger Afghane vorbei zu einem Gespräch. Und wir merken, dass wir als Organisation, die Flüchtlingsarbeit macht, letzten Endes alles, was jetzt politisch an Verschärfung entsteht, menschlich auffangen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Sie mussten auch schon vorher die scheinbare Hilfsbereitschaft auffangen. Wenn die Kanzlerin sagte, "wir schaffen das", die Probleme oder die Lösung der Herausforderungen an die Kommunen weiterreichte, und die Kommunen reichen sei an die Ehrenamtlichen weiter. Ist damit eigentlich am Anfang der Kette die Bundesregierung auch daran schuld, dass jetzt die Euphorie weicht, dass Verdruss aufkommt, dass die Bevölkerung zunehmend gespalten ist?
Sieghard Wilm: Wir haben im Jahr 2013 in der Tat eine ganze Menge Erfahrung sammeln können, auch mit Ehrenamtlichen. Wir wissen, was geht und was dann auch irgendwann nicht geht. Also, eine hohe Anzahl von Ehrenamtlichen dauerhaft zu binden, das ist kaum möglich. Es gibt eine gewisse Phase, in der man sich dann engagieren kann. Es gibt aber auch Erschöpfungssituationen bis hin zum Burnout. Es gibt Ehrenamtliche, denen wir sagen mussten, macht so nicht weiter, ihr braucht jetzt eine Pause.
Und wir können nicht als Kirche, und das können andere Kräfte der Zivilgesellschaft auch nicht, den Forderungen etwa einer Kommune entsprechen und dauerhaft etwas leisten, was eigentlich durch Hauptamtliche als Sozialarbeit geleistet werden müsste. Ehrenamtler brauchen Hauptamtliche, die eben auch mit stabilisieren. Und in einem Zusammenspiel geht es.
Ich habe oft den Eindruck in letzter Zeit, es soll schlichtweg Geld gespart werden. Und dann sind die Ehrenamtlichen die Notmittel, mit denen man versucht eine Katastrophe zu steuern. Das wird nicht gehen.
Deutschlandradio Kultur: Sieghard Wilm, Sie sind Pastor in der St.-Pauli-Kirche in Hamburg. Sie haben schon 2013 Flüchtlinge aufgenommen. Deswegen haben Sie viel Erfahrung. Deswegen sprechen wir heute hier in Tacheles. – Wo sehen Sie das Versagen für diese Probleme, die Sie gerade skizzieren? Auf kommunaler Ebene, bei der Bundesregierung?
Politik hat teils "menschenunwürdige Vorstellungen"
Sieghard Wilm: Also, das größte Versagen sehe ich auf allen Ebenen, und das enttäuscht mich noch mehr als der gesamte rechte Rand. Dass es Menschen gibt, die einfach fremdenfeindlich sind, rassistisch sind. Das ist das eine. Das muss man zur Kenntnis nehmen, auch mit Abscheu zur Kenntnis nehmen.
Aber das größte Versäumnis ist die Mitte der Gesellschaft zurzeit, das heißt, dass wir gewisse Diskussionen durchaus salonfähig inmitten unserer Gesellschaft führen. Wir haben jetzt den Vorschlag der CDU hier in Hamburg, Flüchtlinge nach ihren Vermögensverhältnissen zu untersuchen. Da muss man ja schon die Frage stellen, ob denn auch das Gebiss nach Goldzähnen untersucht werden müsste. – Also, das sind Vorstellungen, die menschenunwürdig sind. Da muss man sich nicht wundern, dass der rechte Rand dann eben Beifall klatscht.
Und ich sehe auch in Strukturen wirklich Unwürdiges. Wir haben die Erstauffanglager. Da habe ich einige Male besucht. Das ist schon sehr, sehr schwierig, wenn es dann eben heißt, dass Syrer und Afghanen sich Zimmer teilen, die einen beikommen Deutschkurse, die anderen aber nicht.
Ich habe Kinder gesehen, die haben keine Schuhe, aber es gibt doch eine Kleiderkammer, übrigens alles auch organisiert dann von der Kirche oder hier auch von Hanseatic Help. Das ist auch entstanden aus unserer Refugee-Bewegung im Karolinenviertel. Das sind alles Einrichtungen, die versuchen Kleiderkammern zu betreiben. Aber dieses Kind hat jetzt keine Schuhe, weil es in diese Schuhgröße gibt einfach keine Schuhe, die gespendet worden sind.
Und die Leute stehen da morgens ganz, ganz früh an, weil, sonst kriegt man nichts. Also, es ist Not überall nach wie vor. Und an vorderster Front sind die Ehrenamtler. Es wird durch Strukturen eine Unwürdigkeit geschaffen. Die wird von manchem Menschen auch, der rassistisch ist, menschenverachtend ist, als eine korrekte Antwort verstanden: dass man diesen Menschen das eben auch möglichst unangenehm machen möchte. Also, eine Bleibequalität möchte man nicht herstellen, sondern der Mangel wird kultiviert.
Wir haben hunderte von Matratzen organisiert aus der Hotelerie von St. Pauli rüber in eins der Erstaufnahmelager. Die Stadt Hamburg war nicht in der Lage, das selbst zu bewerkstelligen. Also, ich sehe viel guten Willen, aber ich sehe auch strukturelle Ungerechtigkeiten und eine Bürokratie, die manchmal mit einer Kälte Situationen schafft, die einfach würdelos sind. Und das gefällt immer mehr Menschen in dieser Republik. Das ist das Erschreckendste.
Deutschlandradio Kultur: Sprechen wir über die Schwierigkeiten, die sich im Alltag ergeben. Denn selbst wenn da die Matratzen vorhanden sind, bei Ihnen hier im Kirchenschiff anfangs 80 Menschen, die auf Iso-Matten nebeneinander liegen, das muss Schwierigkeiten geben im Alltag. Das muss Reibereien geben. – Welche Probleme sind Ihnen da begegnet und wie haben Sie sie gelöst?
Sieghard Wilm: Ja, wir haben Konflikte gehabt. Das geht gar nicht anders. Da bin ich auch überhaupt kein gutmenschelnder Traumtänzer, das wird uns ja permanent vorgeworfen, sondern wir haben realistisch gesehen, welche tollen Kapazitäten Flüchtlinge haben, die wir aufgenommen haben, aber auch, das sind 80 Männer. Die haben alle ihre Probleme, alle ihren Charakter. Und die ecken auch aneinander an. Wir haben Strukturen geschaffen, um das aufzufangen.
Deutschlandradio Kultur: Wie denn?
Sieghard Wilm: Indem wir so etwas wie ein Palaver, dieses Wort kommt tatsächlich aus der westafrikanischen Kultur, eingeführt haben. Das heißt, es gibt eine Art Gerichtssitzung hier. Es gibt Sprecher. Es gibt eine Selbstorganisation der Flüchtlinge. Wir haben sie selber in Aufgaben hinein genommen. Wir haben einen Fahrradminister gehabt. Wir haben einen Minister gehabt für Putzmittel und der die Dienste einteilt. Also, wir haben richtig Pöstchen verteilt, so dass es eine Regierung gab unter den Flüchtlingen selbst. Es gab Sprecher.
Und dann gab es eben jeden Morgen eine Runde, wo alle Konflikte miteinander besprochen worden sind. Und das klappte sehr, sehr gut. Es gab kaum Eskalation. Ja, es hat auch zwei oder drei Momente gegeben…
Deutschlandradio Kultur: Was ist da passiert?
Sieghard Wilm: Ja, ein Streit. Der eine verliert sein Handy und plötzlich behauptet er, dass sein Nachbar ihm das geklaut hätte. Der eine hat ein Fahrrad geschenkt bekommen, der andere eben nicht. Schon gibt es so was wie Neid. Also, das sind alles Phänomene von Lagerkoller. Das wissen wir auch. Der eine hat Zigaretten, der andere hat einen Schmachter und schon ist er schlecht drauf.
Was haben wir gemacht? Wir haben Sozialprogramme gemacht. Das ist die Gründungsstunde gewesen des FC St. Pauli. Also, der FC St. Pauli, der spielt ja immer noch. Er hat mittlerweile nicht nur afrikanische Spieler, sondern auch aus Afghanistan, aus Syrien, aus vielen anderen Ländern. Und da bin ich auch ein bisschen stolz. Also, welche Kirchengemeinde kann schon sagen, dass sie einen Fußballverein gegründet hat auf ihrem Gelände?
Also, diese ganzen Sachen: Die Leute haben hier Gartenarbeit gemacht. Sie haben Dinge renoviert. Sie haben Schmuck hergestellt. Sie haben Essen gekocht. Also, wir haben hier eine eigene Küche auch aufgebaut nachher. Wir haben also nicht das Essen liefern lassen, sondern nachher haben wir gesagt: Gut, ihr wollt afrikanisches Essen, ihr wisst am besten, wie es geht. Ergo macht ihr es.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben Aktivitätsmöglichkeiten geschaffen und die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren.
Nun hören wir oft den Satz: Integration ist keine Einbahnstraße. Es gibt Regeln, an die muss man sich halten. – Gab es Regeln, die Sie eingefordert und durchgesetzt haben?
Sieghard Wilm: Absolut. Und ohne Regeln geht es auch nicht. Das versteht auch jede Notgemeinschaft. Also, auf dem Schiff gibt es auch Regeln. Da, wo der Platz eng ist, gibt es ganz, ganz klare Regeln. Und das muss auch sein. Und das gibt übrigens auch Halt. Also, das ist etwas, was dann eine klare Grundlage ist und alle wissen, daran muss ich mich halten, mein Nachbar auch, aber ich muss mich auch daran halten. Die sind teilweise strenger miteinander gewesen als wir es je gewesen sind. Diese Struktur trägt und hält.
Das kommt ja schon aus der benediktinischen Regel. Hältst du die Regel, hält die Regel dich.
Deutschlandradio Kultur: Wären Sie also für die Idee, die oft als rechts verschrien ist, dass jeder Flüchtling einen Integrationsvertrag unterschreiben sollte?
"Sozialarbeiter müssen die Folgeeinrichtungen abfahren"
Sieghard Wilm: Was ist Papier? Ein Teil der Leute kann ja nicht lesen oder auf jeden Fall nicht das Alphabet lesen, das wir haben. Was ist Papier? – Nein, so etwas muss eingeübt werden. Das heißt, es müsste ein Sozialarbeiter herumfahren in diesen Folgeeinrichtungen und müsste sagen, so, der eine muss morgens früh aufstehen, der andere kann bitte dann nicht bis in die Nacht laute Musik hören. Das geht einfach nicht. Ihr müsst euch organisieren. Und bitte führt eine Wahl durch und organisiert euch selbst mit geteilten Aufgaben. Das gibt es bisher überhaupt nicht, habe ich noch nicht gehört. Und diese Konflikte dort sind immens.
Deutschlandradio Kultur: Die Beispiele, die Sie jetzt schildern sind sehr pragmatische Alltagsbeispiele. Der eine hat Zigaretten, der andere nicht. Der eine unterstellt dem anderen, er habe sein Handy geklaut, solche Dinge.
Wenn Sie davon berichten, dass Flüchtlinge Räte bilden, kleine Gerichte bilden, über sich selber entscheiden, die Regeln festlegen, da werden das viele für eine gute Idee halten, die uns zuhören. Viele werden aber auch sagen, na, es kommen so viele muslimische Flüchtlinge zu uns. Dann führen die hier plötzlich Parallelgerichte ein mit Scharia-Gesetzen. Also, die Sorge, es kommen plötzlich Menschen hierher, die eine neue Frauenfeindlichkeit, eine neue Judenfeindlichkeit, eine neue Homophobie mit nach Deutschland bringen. – Was haben Sie da erlebt?
Sieghard Wilm: Das Thema, was Sie ansprechen, ist ein total wichtiges. Meine Befürchtungen sind da nicht so hoch, weil wir es ja erlebt haben 2013. Die Hälfte unserer Männer waren Christen, die andere Hälfte Muslime. Wir haben, als Ramadan kam, es zusammen gefeiert. Wir haben auch Weihnachten zusammen gefeiert. Und es gab ganz einfach zivilisatorische Spielregeln miteinander, die erwirtschaftet worden sind, die man vereinbart hat, wo die Religion wirklich zurücktrat.
Sie sprechen aber ein ganz wichtiges Thema an. Dieses Thema: Bringen die Männer, es sind größtenteils Männer, junge Männer, nicht gewisse konservative Vorstellungen mit, die dann das an Freiheit, was wir auch mühsam erworben haben in unserer Gesellschaft, letzten Endes infrage stellen?
Nun muss man sehen, dass auch in Deutschland noch bis in die 50er, 60er Jahre sehr heftig diskriminiert wurde, also auch die Frauen. Frauen durften ohne die Zustimmung des Ehepartners keine Arbeit annehmen. Also, es hat lange gedauert bei uns, diese ganzen Entwicklungen. Auch die gesetzliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben, das hat alles furchtbar lange gedauert.
Und jetzt ist die große Angst natürlich, und das höre ich von Frauen, ich höre es von Schwulen, ich höre es auch von Juden, es würde Antisemitismus kommen, Homophobie, Frauenfeindlichkeit.
Für mich ist wichtig zu verstehen, dass viele Menschen geflüchtet sind aus Syrien, aus Afghanistan, weil es ihnen selber auch zu eng war, weil sie selber auch Opfer sind von religiöser Intoleranz. Und ich kenne genug, die sagen, wir haben wirklich die Faxen dicke davon. Wir sind so froh, dass wir endlich in einer freien Gesellschaft angekommen sind.
Deutschlandradio Kultur: Das hört sich in meinen Ohren ein bisschen naiv an, als seien Menschen, bloß weil sie geflüchtet sind, automatisch moderne gute Menschen.
Sieghard Wilm: Nein, nein. Wir haben es hier nicht mit über einer Million Menschenrechtsaktivisten zu tun, die im vergangenen Jahr zu uns gekommen sind. Das wäre auch wieder ein Rosamalen. Also, ich habe solche und solche Leute kennengelernt. Also, ich hab auch Flüchtlinge kennengelernt, die einer Frau nicht die Hand geschüttelt haben und mir auch gesagt haben, du hast ja wunderbare ehrenamtliche Helferinnen, aber warum tragen sie kein Kopftuch? Das habe ich auch gehabt. Ich habe auch Diskussionen gehabt, wo mir ein Moslem klarmachen wollte, dass Christus nicht der Sohn Gottes ist usw. usf. Also, auch diese Seite habe ich kennengelernt.
Deutschlandradio Kultur: Was haben Sie denn dann gemacht, wenn ein Flüchtling, der hier bei Ihnen Unterkunft und Schutz findet, einer Frau, die ihm helfen will, die Hand nicht gibt? Was haben Sie da getan?
Sieghard Wilm: Ja, ich habe es immer wieder angesprochen, angemahnt. Wir sind weiterhin im Kontakt, auch mit dieser Person, die sich mittlerweile aber auch schon wieder gewandelt hat. – Ich erinnere mich jetzt an einen jungen Mann, der auch ziemlich fanatisch gewesen ist. Der hat mittlerweile einen Deutschen geheiratet, das heißt, eine schwule Lebenspartnerschaft begründet. Also, auch das gibt es. Die sind hier in der Nachbarschaft.
Es gibt da alles. Die Leute wandeln sich ja auch. Sie lernen dazu. Und diese Zeit muss man ihnen auch geben. Aber dazu brauchen sie den Kontakt zur Zivilgesellschaft. Und das große Problem ist wirklich, wenn sie nichts anderes sehen als die Zeltwand oder als die Containerwand, und das große Problem ist, wenn sie hinterher in eine Unterkunft kommen, in der sie auch wieder nur ihre Leute sehen. In der Regression ist es so, dass man zurückfällt auf die eigene Kultur und wird unter Umständen auch noch enger. Das wissen wir ja von Exilgemeinden, die dann enger sind.
Also, ich habe ein Jahr in Afrika gelebt. Ich weiß, dass wir dann da mit Deutschen zusammen saßen, die ihre Schwarzwälder Kirschtorte herstellten und noch deutscher waren als die Deutschen in Deutschland. Solche Prozesse passieren. Da muss man wirklich aufpassen. Das ist eine ganz, ganz große Aufgabe, aber die gelingt nur, wenn es diese Berührungsräume gibt. – Deswegen Refugee-Cafés, also, das ist das, was wir jetzt auch im Thalia-Theater installiert haben, diese Begegnungsorte. Und die braucht es viel, viel mehr.
"Wir haben Lampedusa-Flüchtlinge bei Flugzeugbauern untergebracht"
Deutschlandradio Kultur: Vor fast drei Jahren sind diese Menschen bei Ihnen hier in die Kirche eingezogen. Mittlerweile wohnt keiner mehr hier. – Was haben die Menschen erreicht? Wie viele von denen haben vielleicht eine Ausbildung gemacht, haben vielleicht sogar einen Job, haben eine eigene Bleibe? Und wie viele von denen haben es nicht geschafft?
Sieghard Wilm: Auch das muss man ganz realistisch sehen. Das ist wie beim Marathonlauf. Es gibt irgendwann die, die vorne an der Spitze sind, das Mittelfeld, und es gibt auch die, die hinterher humpeln. Und es gibt welche, die nie eine richtige Schule besucht haben, die also Startbedingungen haben, die wirklich schwierig sind, indem sie erstmal alphabetisiert werden müssen. Und es gibt die, die ganz vorne sind, sehr gut Deutsch sprechen und sich sehr etabliert haben.
Also, wir haben auch bei den Hamburger Flugzeugbauern mittlerweile unsere Lampedusa-Flüchtlinge untergebracht.
Deutschlandradio Kultur: Die arbeiten da?
Sieghard Wilm: Ja. Es gibt viele Bereiche, in denen jetzt Lampedusa-Flüchtlinge arbeiten – ob das eine Bäckerei ist, es ist ganz schwer einen Bäcker zu finden, der morgens bereit ist, so früh aufzustehen. Flugzeugbauer hab' ich erwähnt. Wir haben Leute im Dienstleistungssektor, ob das in einem Krankenhaus ist oder in einer Seniorenwohnanlage. Wir haben Leute, die jetzt auch in Ausbildung gehen wollen und welche, die versuchen im Moment, einen Job zu machen, um Geld zu verdienen, aber dann auch in ihre ursprüngliche Qualifikation reinwollen. Also, wir haben durchaus auch einen Kommunikationsdesigner dabei, aber der arbeitet im Moment in einer Küche.
Deutschlandradio Kultur: Also, teilweise eine Erfolgsgeschichte. Sieghard Wilm, wenn Sie, der Sie uns und dem Rest der Republik viel Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit voraus haben, jetzt abschließend uns vielleicht drei Tipps, Empfehlungen mitgeben können. Einen Tipp: Was raten Sie Flüchtlingen, die hier ankommen? Was sollten die tun, damit sie eine Chance haben? Einen Ratschlag an uns alle Bürger: Wie sollten wir mit der Situation umgehen? Und einen Tipp auch an die Bundeskanzlerin: Was sollte die tun? Was wären Ihre drei Empfehlungen?
Sieghard Wilm: Also, den Flüchtlingen rate ich, sehr viel Geduld mitzubringen. Es braucht Zeit bis sich etwas strukturiert. Es braucht Improvisation. Und auf die muss man sich in einem großen Maß einlassen. Manche Menschen haben viel verloren, eben ein ganzes Leben, Familienmitglieder. Diesen Schmerz, diese Trauer über Verlust oder auch über geplatzte Utopien, wie es denn hier wird im gelobten Deutschland, diesen Schmerz zu überwinden, das ist total wichtig daran zu arbeiten und sich darauf einzulassen.
Deutschlandradio Kultur: Ihre Empfehlung an uns alle?
Sieghard Wilm: Meine Empfehlungen gehen in zwei Richtungen. Ich möchte alle bitten, Flüchtlinge nicht zu idealisieren. Das ist die Kehrseite der Fremdenfeindlichkeit. Den Fremden zu überhöhen, als den edlen Wilden, als den der vielleicht sogar besser ist als wir. Das ist das eine, nicht in sie hinein zu projizieren, das seien ganz tolle Menschen. Wir haben es hier nicht mit lauter Menschenrechtsaktiven zu tun. Das können wir ihnen nicht unterstellen. Aber können wir allen Menschen unterstellen, die zu uns kommen, dass sie ihre Potenziale haben. Und wir können helfen, dass sie die ausschöpfen können.
Wir brauchen Geduld. Das wird auch nicht das letzte Jahr sein, in dem wir sehr viele Flüchtlinge haben. Ich denke daran, dass wir auch noch viele Umwelt-Flüchtlinge bekommen werden. Das ist meine Einschätzung, dass das eigentlich erst ganz am Anfang steht als Thema. Also, mit Mut rangehen, Optimismus ist es nicht. Für mich ist es die Vokabel Hoffnung. Denn Hoffnung macht auch weiter, wenn Dinge scheitern.
Deutschlandradio Kultur: Und zuletzt noch Ihre Empfehlung an die Bundeskanzlerin.
Sieghard Wilm: Erst einmal: Dieser Satz "wir schaffen das", das ist ein großer und starker Satz, der braucht immer wieder Füllung. Ich wünsche mir von der Politik in Richtung Zivilgesellschaft klare Sätze: Wir schaffen das. Und wer ist das "wir"? Das sind wir alle. Und dann aber auch nicht nur wir, die wir schon in diesem Land leben, sondern auch die Flüchtlinge. Es ist ansonsten ein ungedeckter Scheck. Denn wir werden die Arbeit leisten müssen. Und wir wollen das aber auch – als Kirche, als Zivilgesellschaft. Es ist so viel guter Wille. Der darf aber auch nicht verbraucht werden.
Und wir brauchen auch staatliche Strukturen, die das eben mit tragen und unterstützen und begreifen, das wir in einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung sind, die nur mit zivilgesellschaftlicher Kraft geleistet werden kann. Politik alleine kann es nicht, aber Politik muss alles tun, damit Zivilgesellschaft eben auch stark sein kann für und eben auch mit Flüchtlingen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wilm, ich freue mich sehr, dass wir mit Tacheles zu Ihnen in die St.-Pauli-Kirche nach Hamburg kommen durften. Vielen Dank.
Sieghard Wilm: Gerne.