Die Politik der schnellen Antworten
Nie um eine Antwort verlegen, volksnah und leidenschaftlich – so geben sich Politiker wie Sigmar Gabriel. Doch wer scheinbar immer gleich weiß, wo es langgeht, hat oft keine Ahnung, meint der Journalist und Psychologe Martin Tschechne.
Zwei Dinge, um die man den Mann beneiden möchte: Er hat, erstens, ein kerngesundes Ego und scheint, zweitens, zu jedem Problem die passende Lösung zu wissen. Sigmar "Mit-mir-nicht!" Gabriel verkörpert den Typus Politiker, in dem das Wahlvolk die eigenen Ressentiments wiedererkennt: den impulsiven Tatmenschen, den erklärten Antagonisten zum Politikstil des vorsichtigen Lavierens, wie er einer großen Koalition im Allgemeinen und ihren aktuellen Vertretern im Speziellen zu eigen ist.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Es handelt sich hier um einen Typus. Je größer die Koalition, desto wahrscheinlicher ist es, dass er auftritt und sich Gehör verschafft. Als Kontrastprogramm. Die abwartende, auf Ausgleich bedachte Diplomatie jedenfalls ist seine Sache nicht. Einer wie Gabriel krempelt die Ärmel auf und liefert alle paar Tage neue Bestätigung, dass da doch so etwas wie Leben blüht in einer Politik, deren typisches Muster eher in Unterlassung und Einlenken zu liegen scheint als in vorschneller Hitzigkeit. Der Kleinmut gegenüber den Amerikanern zum Beispiel, die frech genug sind, den deutschen Nachrichtendienst für ihre eigenen Zwecke einzuspannen: Wer sehnt sich nicht manchmal nach einem, der da auf den Tisch haut?
Gabriels Lieblingsprojekt: die Vorratsdatenspeicherung
Gabriel tut es. Immer in verlässlicher Herzhaftigkeit. Beim Gekungel der Geheimdienste aber scheint er vor lauter Empörung ganz zu vergessen, dass er selber Vizekanzler der Regierung ist, die er nun öffentlich zur Räson ruft. Die Freunde aus Griechenland muntert er auf mit einem niedersächsisch-fröhlichen "Jetzt aber mal Schluss mit den Spielchen!" und bietet an, die Auslandskonten ihrer steuersäumigen Milliardäre mal eben einzufrieren. Als hätte er als deutscher Wirtschaftsminister auch schon das Mandat der Polen oder Portugiesen. Und wo Gewalt den Rest der Welt vor den Kopf stößt, ist Gabriel gern der erste, der die Fassung wieder findet. Und sogleich seine liebste Lösung präsentiert: die Vorratsdatenspeicherung.
Die Mordserie des rechtsradikalen NSU, so behauptet er, hätte früher beendet, der Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris verhindert werden können, wenn Vorratsdaten verfügbar gewesen wären. Und der Norweger Anders Breivik konnte nach seinem Amoklauf nur dank solcher Daten so schnell dingfest gemacht werden. Leider ist das alles falsch! Breivik wurde auf frischer Tat festgenommen; eine flächendeckende Speicherung persönlicher Daten nach dem Grundsatz "bis zum Beweis des Gegenteils gilt jeder als verdächtig" gab es nicht in Norwegen. Dem Geheimdienst war der Mann auch so bekannt – wie auch die Neonazis des NSU und die Mörder von Paris längst im Visier der jeweils zuständigen Behörden waren. Nur haben die trotzdem nicht verhindert, was dann geschah. Ob das dem Minister für den Moment entfallen war?
Nachdenklichkeit muss keine Schwäche sein
Der Bamberger Psychologe Dietrich Dörner hat vor rund 25 Jahren ein Buch über politisches Handeln geschrieben, das die verblüffende Eigenschaft hat, mit jedem Tag ein bisschen aktueller zu werden. Es heißt "Die Logik des Misslingens" – und der Titel sagt schon eine Menge über die Ernüchterung, die es hinterlässt. Dörner hat in seinen Experimenten ganz normalen Menschen – Volksvertretern – die Herrschaft über das Städtchen Lohhausen oder das ostafrikanische Tanaland übertragen, die beide, Gottlob!, nur als Simulationen im Computer existierten. Und hat dann mit gemischten Gefühlen dabei zugesehen, wie diese Politiker ihr Gemeinwesen in unbeirrbarer Konsequenz vor die Wand fuhren. Am schnellsten und am gründlichsten passierte das bei denen, die immer gleich eine Lösung hatten. Die jede Nachdenklichkeit für Schwäche hielten, alle Kritik blockierten und nur Bestätigung zu sich durchdringen ließen. Kurz: bei denen, die immer ganz genau wussten, wo’s lang geht. Und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig.
Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Als promovierter Psychologe weiß er, wie problematisch es sein kann, wenn man was zu wissen glaubt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie DGPs zeichnete ihn kürzlich mit ihrem Preis für Wissenschaftspublizistik aus. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).