Sigrid Damm: "Sommerregen der Liebe"

Was Goethe sein Leben lang verschwiegen hat

Die Grabstelle von Charlotte von Stein auf dem Historischen Friedhof in Weimar
Über die Lebensphase mit Charlotte von Stein hat sich Johann Wolfgang von Goethe ein Leben lang in Schweigen gehüllt. © dpa/ picture-alliance/ Soeren Stache
Von Elke Schlinsog |
Biografin Sigrid Damm hat die weit über tausend Briefe Johann Wolfgang von Goethes an seine Geliebte Charlotte von Stein akribisch ausgewertet. Entstanden ist ein feinsinniges Porträt, das den jungen Goethe und von Stein in neuem Licht zeigt.
Ehrlich liebesrasend, ganz ohne Kalkül und in schöner Einfachheit verfasst: Selten hat Goethe sich in seinen Gefühlen so enthüllt wie in den Botschaften an Charlotte von Stein. Unbestritten gehören seine Briefe an die sieben Jahre ältere Geliebte zu den zärtlichsten Liebeszeugnissen der Literatur: Persönliche Notizen, kurze Nachrichten, oft nur wenige Zeilen, "Zettelgen" wie Goethe sie nennt, im wilden Gestus von Glück und Verzweiflung gehalten, mit betörenden Versicherungen und Versprechungen ihrer gemeinsamen Liebe. Zu Recht liest Sigrid Damm diese Goethe-Briefe wie einen Lebens- und Liebesroman.
Die Biografin und preisgekrönte Schriftstellerin zieht den Kreis um Goethe wieder etwas enger. Sie hat bereits der Goethe-Schwester Cornelia und Goethe-Gemahlin Christiane ein glaubhaftes Gesicht gegeben, ebenso ist sie den Lebensspuren von Schiller und Lenz gefolgt. Nun hat Sigrid Damm die weit über tausend Briefe Goethes an Charlotte von Stein neu gelesen, wie stets akribisch recherchiert und Erstaunliches herausgefunden. Mögen die Goethe-Briefe bekannt sein, was Sigrid Damm daraus macht und wie sie diese liest, ergibt viele neue Geschichten um die Lichtgestalt der deutschen Klassik. Entstanden ist ein einzigartiges Porträt, das Innenleben des jungen Goethe um sein 30. Jahr herum liegt ausgebreitet vor uns.
Sigrid Damm bringt dem Leser Goethe ganz nah
In der Briefauswahl und den rund 200 Seiten, in denen Sigrid Damm den Lebensweg der beiden Liebenden nachzeichnet, erlebt man nun ihr Kennenlernen, Verlieben und "Herzteilen" ganz nah, mit all den Liebesschwüren und Zerwürfnissen, dem Angezogen- und Abgestossenwerden. Wie rückhaltlos Goethe seiner Geliebten all seine Zweifel und Ängste anvertraut, von Erfolgen und Misserfolgen im Schreiben und seiner politischen Arbeit am Weimarer Fürstentum berichtet. Aber vor allem transportieren die Briefe seine Leidenschaft für die unerreichbare Frau. Vom stürmischen Anfang bis zur zunehmend anstrengend platonischen Beziehung.
Wenn Goethes Dauerwerben wieder brüsk zurückgewiesen wird, findet die Biografin eine schlüssige Quintessenz: Goethes "Herz stand unter Frau von Steins Regierung". Immer wieder leuchtet Sigrid Damm die Hintergründe dieser ungewöhnlichen Liebe aus – und lässt sich ab und an den Spaß nicht nehmen, das kindisch eifersüchtige Verhalten Goethes bei der Rückkehr seiner Geliebten zu kommentieren: "Man stelle sich vor, der in ganz Europa gefeierte Dichter des "Werther", das Mitglied der Weimarer Regierung, hockt am Straßenrand im Gebüsch, um die geliebte Frau in der Kutsche vorüberkommen zu sehen."
Feinsinniges Porträt auch über Charlotte von Stein
Spekulationen sind ihre Sache nicht. Ganz im Gegenteil: Sigrid Damm berichtet eher so konkret wie möglich und folgt den Wortspuren - sorgsam, distanziert - und hinterfragt. Warum zum Beispiel Goethe dieses Weimarer Jahrzehnt auch in seinen autobiografischen Schriften so völlig ausgespart hat. Ob ihm seine große Liebe zu rätselhaft war, beantwortet der Dichter in seinen Briefen: Im Gegensatz zum Werk seien ihm die "Lebenswerke nie recht gelungen".
Mit diesem feinsinnigen Portrait des jungen Goethe kann Sigrid Damm nicht nur das Innenleben des Dichters präzise nachzeichnen, sondern auch die Gedankenwelt seiner Geliebten Charlotte von Stein spiegeln und ihr endlich die notwendige Farbe geben – jener Lebensphase, über die Goethe sich lebenslang in Schweigen gehüllt hat.

Sigrid Damm: Sommerregen der Liebe - Goethe und Frau von Stein
Suhrkamp/Insel Verlag, Berlin 2015
405 Seiten, 22,95 Euro