Lesen in Zeiten von Corona
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In der Corona-Krise haben viele Menschen den Weg aus der Einöde des Alltags in die Welt der Imaginationen angetreten. Sie lesen wieder mehr. Denn Lesen ist ungefährlich, sagt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Interview.
Andrea Gerk: Heute ist der Welttag des Buches. Aus diesem Anlass hat der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein klares Bekenntnis zur Literatur gefordert - unter dem Motto: Bücher sind nicht nur Unterhaltung, sie fördern die demokratische Grundhaltung zu einem hohen Anteil mit. Aber ob das jetzt alles ist, was die Corona-Krise an Lehrstoff für den Buchmarkt mit sich bringt und ob wir irgendwas übersehen haben an entscheidenden Reformchancen für den Buch- und Literaturmarkt, das weiß die Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Demokratieförderung und Unterhaltung, sind das tatsächlich die besten und überzeugendsten Argumente fürs Bücherlesen?
Löffler: Na ja, ich verstehe die Dringlichkeit dieses Appells, weil die Notlage der Autorinnen und Autoren wirklich alarmierend ist. Aber wenn man die Bedeutung des Buches betonen will, dann ist der Hinweis, dass Bücher angeblich die demokratische Grundhaltung fördern, kein sehr triftiges Argument. Genauso wenig überzeugend ist die Abwertung der Unterhaltung, denn gute Bücher sind ja immer auch unterhaltend. Es gibt eine Reihe von guten Argumenten für das Buch und überhaupt für die Kulturtechnik des Lesens. Warum lesen die Leute? Sie lesen zum Vergnügen, sie lesen zur geistigen Selbstintensivierung, sie lesen zur Erweiterung ihrer Kenntnisse, zur Selbstverständigung über die Welt, aus Lust am Surfen in Gegenwelten, zum Zeitvertreib, zum sozialen Distinktionsgewinn - all das sind gute Gründe. Aber die Förderung einer demokratischen Grundhaltung, die gehört wohl eher nicht zu den Motiven, warum die Menschen zum Buch greifen.
Gerk: Macht nicht so richtig Lust, ein neues Buch aufzuschlagen. Jetzt wäre es aber notwendig, dass wir alle viel lesen, denn der Lockdown hat den Buchmarkt extrem getroffen: 30 Prozent Umsatzeinbußen waren es im März und im April schaut es auch nicht viel besser aus. Aber ist das schon das ganze Bild ?
Löffler: Nein, keineswegs. Man muss nämlich auch in Betracht ziehen, dass der Onlinehandel Zuwächse meldet. Berliner Buchhändler durften sich überhaupt freuen, weil ihre Buchläden ja als lebensnotwendig eingestuft wurden. Das hat ihnen ein Verkaufsgeschäft wie vor Weihnachten beschert - das hat jedenfalls ein euphorischer Buchhändler gemeldet. Und der illegale Download von urheberrechtlich geschützten Buchdateien, der ist ja angeblich weltweit sogar um 33 Prozent gestiegen.
Lesen ist technisch anspruchslos
Gerk: Sie haben es schon gesagt und ich habe auch von meinem Buchhändler gehört, dass mehr gekauft wurde. Offenbar wurde auch mehr gelesen - erwiesenermaßen auch, wenn die Buchläden zu waren. Wie erklären Sie sich das? Nur aus Langeweile wird es ja auch nicht gewesen sein?
Löffler: Es liegt, glaube ich, auf der Hand. Wir sollen nicht verreisen, wir sollen daheim bleiben, und da empfiehlt es sich natürlich zu lesen, und das Lesen ist ungefährlich. Es ist technisch anspruchslos. Es braucht keine Stadien, es braucht keine Ausstellungsräume, keine Theater- und Konzertsäle, um vonstatten gehen zu können. Und oft benötigt man dafür nicht einmal einen Laptop. Das Lesen verursacht auch keine Luftverschmutzung, es macht keinen Verkehrsstau, keinen Anstieg der CO2-Werte, und in seiner häufigsten Nutzungsform benötigt man dafür ja nicht einmal Strom – jetzt mal allenfalls abgesehen vom Nachttischlämpchen für nächtliche Leseratten.
Gerk: Jetzt haben viele Kommentatoren schon prophezeit, die Welt wäre eine andere nach Corona: Also die Krise sozusagen als heilsamer Schock, der uns dazu bringt, mal über das wirklich Wesentliche nachzudenken, auch zum Beispiel, ob wir so weiterwirtschaften dürfen wie bisher. Das wird ja längst von vielen infrage gestellt. Wäre das zum Beispiel auch eine Option für den Buchmarkt? Da hört man ja, dass Leser und vor allem Buchhändler auch schon länger stöhnen, dass eigentlich viel zu viel rauskommt.
Löffler: Ja, es wäre wünschenswert, dass sich da etwas ändert. Stellen wir uns mal spaßeshalber vor, wie ein qualitätsbewussterer und nachhaltigerer Buchmarkt aussehen könnte, wenn die richtigen Lehren aus der Corona-Krise gezogen würden, wenn die Buchverlage endlich die Überproduktion von unnötigen Büchern einstellen würden in Zukunft. Brauchen wir denn wirklich so viele Fibeln zum Thema "Räum dein Leben auf"? Könnten wir nicht auch mit weniger Finanzratgebern auskommen, mit weniger Psycho-Lebenshilfe, mit weniger Esoterik-Gesäusel? Und brauchen wir wirklich noch einen Dorfroman und noch eine lauwarme Lovestory zwischen einem Webdesigner und einer Influencerin? Und haben wir all diesen Ökokitsch nicht ohnehin längst satt, all diese Bücher über Wald-Wellness und übers Bäume-Umarmen?
Es ist Zeit, aufzuräumen
Gerk: Es ist also Zeit, im Bücherregal aufzuräumen, wenn auch nicht nach Aufräumratgeberrezepten. Das gilt ja vielleicht auch für die Globalisierung, die uns jetzt drei Jahrzehnte beherrscht hat, in eine Überdynamisierungskrise sei sie geraten und endgültig kollabiert. Ist das auch jetzt etwas, das sich für die Literatur überholt hat?
Löffler: Die Globalisierung gilt ja als entlarvte Grundübel unserer Zeit, die schuld ist an allen Fehlentwicklungen. So geht jetzt die Diskussion. Aber die Frage ist, gilt das auch für die Literatur? Ich glaube, für die Gegenwartsliteratur trifft das ganz und gar nicht zu, ganz im Gegenteil. Die Globalisierung hat die Literatur auf eine ganz ungeahnte Weise bereichert. Die Globalisierung der Literatur ist sogar eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Bedenken Sie, der Atlas der Literaturlandschaften hat sich verschoben - weg vom Eurozentrismus hin zu einer globalen Literatur. Die Literaturen aus Europa und Nordamerika stehen längst nicht mehr im Mittelpunkt. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt zunehmend auf außereuropäischen, auf nicht westlichen Literaturen. Die Literatur hat sich also globalisiert, und sie wächst dabei rasant und findet auch weltweit immer mehr Leser. Damit einher geht natürlich auch die Öffnung der zeitgenössischen Literatur für die bedrängenden Themen unserer Zeit und der ganzen Welt - also die Themen: weltweite Migration, Landflucht infolge von Klimawandel, Verstädterung im Weltmaßstab. Das sind die großen Themen der Zeit, und damit sind das auch die großen Themen dieser neuen Weltliteratur. Das lässt sich gar nicht überschätzen.
Gerk: Haben Sie auch persönlich festgestellt, dass es einige Bücher in Ihrer Bibliothek gibt, die Sie nicht mehr brauchen oder die Sie jetzt, wo Sie vielleicht doch auch noch mehr Zeit zum Lesen hatten, gar nicht mehr interessiert haben?
Löffler: Ja, ich merke natürlich, dass der Ernst dieser Krise schon auch durchschlägt auf die Wahl der Bücher, die ich jetzt lese. Meine Lektüre ist deutlich anspruchsvoller geworden, und sehr viel von dem, was ich vielleicht früher auch noch an Neuerscheinungen gelesen hätte, finde ich jetzt einfach abgeschmackt und lau und uninteressant und lese es gar nicht. Es geht mir schon auch um die wesentlichen Bücher, und da bin ich ziemlich streng geworden in meiner Auswahl.
Gerk: Wollen Sie uns verraten, was ein wesentliches Buch ist? Was hat Ihnen denn jetzt gerade in den letzten vier, fünf Wochen besonders Freude gemacht oder etwas gegeben?
Löffler: Ich finde, dass der neue Roman von Lutz Seiler "Stern 111", für den er ja auch in Leipzig den Buchpreis bekommen hat, tatsächlich ein bedeutendes Werk ist, das auch Bestand haben wird und triftig ist und plausibel für die Zukunft. Und wenn man sich unterhalten will - und Unterhaltung ist ja auch unglaublich wichtig -, dann würde ich schon die große Tudor-Trilogie von Hilary Mantel empfehlen. Der dritte Band ist ja jetzt endlich nach acht Jahren Warten erschienen – ein wunderbares Buch. Es hat über tausend Seiten, hält uns einige Wochen beschäftigt und lohnt sich auf jeden Fall.
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