Gewalt zum Jahreswechsel
Tausende Polizeikräfte waren in der Silvesternacht in Berlin im Einsatz. © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Lehren aus 2022: Wie die Silvesternacht 2023 in Berlin ablief
Aus Sorge vor gewaltsamen Ausschreitungen in der Silvesternacht zeigte die Polizei in diesem Jahr deutlich mehr Präsenz und verstärkte die Prävention. Auch wenn es mehr Festnahmen als im Vorjahr gab, fällt die Bilanz der Polizei positiv aus.
Eine erste Bilanz der Berliner Polizei und auch der Feuerwehr zur Silvesternacht 2023/24 fiel positiv aus. Das Einsatzkonzept sei aufgegangen, sagte die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik. Auch Jochen Kopelke, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), wertete den Polizeieinsatz zu Silvester als Erfolg, sieht aber Handlungsbedarf im Strafrecht.
Bis zum frühen Morgen des Neujahrstages 2024 wurden in Berlin 720 Ermittlungsverfahren eingeleitet, es gab mehr als 390 Festnahmen und andere freiheitsbeschränkende Maßnahmen, berichtete Deutschlandradio-Korrespondent Sebastian Engelbrecht. 50 Polizisten wurden verletzt. Es habe zwar auch wieder Angriffe auf Einsatz- und Rettungskräfte gegeben, aber nicht mit der Intensität wie 2022/23, so Polizei und Feuerwehr.
An Silvester 2022 hatte es in Berlin Angriffe auf Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter gegeben. Die Ereignisse lösten scharfe Kritik und kontroverse politische Debatten aus. Entsprechend groß war das öffentliche Interesse, wie Silvester 2023 in Berlin ablaufen würde.
Auch in vielen anderen Städten waren die Sicherheitsvorkehrungen aus Angst vor Anschlägen oder Krawallen deutlich verstärkt worden. Vielerorts galten Böllerverbote, allein in Berlin waren rund 4.500 Polizisten im Einsatz. Bundesweit war von einem weitgehend friedlichen Silvester die Rede.
Wie bereitete sich Berlin auf die Silvesternacht 2023/24 vor?
Die Stadt setzte unter anderem auf Polizeipräsenz. Über 4000 Beamte waren im Einsatz. Unterstützung kam von Polizei-Einheiten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und von der Bundespolizei. Auch die Justiz werde in der Silvesternacht in Bereitschaft sein, um Haftbefehle zu prüfen oder Nachermittlungen einzuleiten, hatte Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) angekündigt.
Drei Verbotszonen für Feuerwerk wurden eingerichtet: in der Sonnenallee in Neukölln, in Schöneberg im Steinmetzkiez und am Alexanderplatz. Dort fanden Absperrungen und Kontrollen statt. Außerdem galt ein neues Polizeigesetz, das der Polizei ein härteres Vorgehen gegen Gewalttäter erlaubt. Polizisten durften mit Bodycams filmen, wenn die Gefahr einer Eskalation besteht, und auch Elektroschockpistolen konnten eingesetzt werden, die sogenannten Taser. Außerdem durfte die Polizei potenzielle Täter fünf Tage in Präventivgewahrsam nehmen. Bisher war das nur für zwei Tage möglich.
Mit einem „Bündel aus Prävention und Repression“ wollten Polizei und Senat verhindern, dass sich Angriffe auf Einsatzkräfte wiederholen. Polizei und Feuerwehr hatten in den vergangenen Monaten beispielsweise Schülerinnen und Schüler zu Präventionsveranstaltungen eingeladen. Dabei ging es um einen respektvollen Umgang untereinander, mit Polizisten und Feuerwehrleuten. Auch im Netz warben die Einsatzkräfte für Rücksichtnahme.
Was passierte Silvester 2022/23 in Berlin?
In der Silvesternacht 2022/23 wurden Einsatzkräfte unter anderem mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sprach kurz nach den Vorkommnissen von mehr als 120 entsprechenden Vorfällen. Laut Polizeiangaben wurden über 40 Polizisten und 15 Feuerwehrleute verletzt. Wegen Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte hatte die Polizei 44 Verdächtige identifiziert. Viele der Tatverdächtigen waren sehr jung, ein Großteil noch nicht volljährig.
Kurz nach den Angriffen war zunächst – aufgrund einer missverständlich geschriebenen Pressemitteilung der Polizei – von 145 Festgenommenen die Rede. Diese Zahl wurde wenige Tage später korrigiert.
Im Rückblick, sagt Polizeipräsidentin Barbara Slowik, sei die reine Zahl der Angriffe 2022 auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte nicht viel höher gewesen als in den Jahren vor Corona, 2018 und 2019. „Ähnlich viele Angriffe gab es auch schon früher. Allerdings war die Qualität der Angriffe im letzten Jahr neu, etwa wenn Rettungskräfte in mutmaßliche Hinterhalte gelockt und angegriffen wurden.“
Wie wurde über die Gewalt zu Silvester berichtet und debattiert?
Die Polizei hatte die Ereignisse der Silvesternacht 2022/23 am Neujahrsmorgen schnell und sehr deutlich eingeordnet. Wörtlich hieß es, die Polizei verzeichne „massive Angriffe auf Einsatz- und Rettungskräfte im gesamten Stadtgebiet, die in ihrer Intensität mit den Vorjahren nicht zu vergleichen sind“.
Es folgte eine scharfe Debatte über die migrantische Herkunft einiger der Täter, über gelungene oder gescheiterte Integration und Ursachen von Jugendgewalt: Von den 44 identifizierten Verdächtigen waren 18 Ausländer, 10 hatten eine ausländische und die deutsche Nationalität, 16 waren Deutsche.
„Es gibt natürlich immer so eine Wechselwirkung zwischen Politik und Polizei, und verschiedene Parteien versuchen, solche Themen für sich zu nutzen“, sagte der Jurist Tobias Singelnstein der Nachrichtenagentur edp.
CDU-Chef Friedrich Merz sprach in einer Talkshow von „kleinen Paschas“, deren Eltern sich Zurechtweisungen ihrer Söhne in der Schule verböten. Später relativierte er seine Aussage. Die Berliner CDU erfragte im Innenausschuss die Vornamen von Tatverdächtigen - auch von jenen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Es zeige sich, "dass wir es auch 2023 leider nicht schaffen, in unserem Einwanderungsland solche Themen zu diskutieren, ohne dabei rassistische Ressentiments zu bedienen", sagte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD) anlässlich der Debatte. „Wir müssen die Täter von Silvester nach ihren Taten beurteilen, nicht nach ihren Vornamen."
Welche Maßnahmen werden diskutiert und könnten helfen?
Kurz nach den Silvesterangriffen rief die damalige Regierende Bürgermeisterin Berlins Franziska Giffey (SPD) zum Jugendgipfel. Der dort erarbeitete Plan gegen Jugendgewalt sieht unter anderem vor, die außerschulische Jugendsozialarbeit auszubauen und neue Orte für Jugendliche zu schaffen.
Man wisse, dass „diese Jungs aus Kulturräumen kommen, die noch patriarchaler geprägt sind als die Mehrheitskultur in Deutschland“, sagte der Jurist Ademir Karamehmedovic (SPD) über das Milieu, aus dem die vorwiegend migrantischen Tatverdächtigen der Silvesternacht 2022/23 stammen. „Wir müssen uns dann die Frage stellen, was hat dazu geführt, dass diese Kulturräume für unsere Vorstellung von Gleichberechtigung und Gewaltlosigkeit nicht durchlässig genug sind.“
Zu den Ursachen für ein „Abrutschen“ in Gewalt zählt Karamehmedovic eine vielfach empfundene Perspektivlosigkeit. Bei Bewerbungen, Prüfungen oder auf dem Wohnungsmarkt hätten Menschen mit „migrantisierten Namen“ erwiesenermaßen statistisch schlechtere Chancen. Das alles führe nicht gerade dazu, dass sich „diese Kids zu Deutschland und zu unserem Rechtsstaat bekennen“.
Böllerverbot
Im Zuge der Debatte wurde auch ein Verbot des privaten Feuerwerks zu Silvester gefordert, darunter von der Gewerkschaft der Polizei, den Grünen im Bezirksparlament von Berlin-Neukölln und einem Bündnis von Umwelt- und Gesundheitsorganisationen. Auch 59 Prozent der Bevölkerung befürworten laut einer Umfrage der Verbraucherzentrale Brandenburg ein Böllerverbot. In einigen Städten gibt es bereits lokal beschränkte Verbotszonen, so beispielsweise in Berlin, Hamburg, München, Hannover, Bremen, Nürnberg, Trier, Weimar und Göttingen.
„Diese Verbotsdiskussion hilft überhaupt nicht weiter“, sagt dagegen der Konfliktforscher Andreas Zick. Verbotsdiskussionen würden von vielen, die eine „große Party“ wollten, sofort als Einengung der Freiheit uminterpretiert. „Sie werden versuchen, die Freiheit wiederherzustellen.“
Alternativen und andere Räume schaffen
Zick plädiert stattdessen dafür, über andere Feierkulturen zu Silvester nachzudenken. Ein Beispiel könnte Frankreich sein. Dort wird der Jahreswechsel mit sehr viel weniger privatem Feuerwerk begangen.
Alternativen zu schaffen und Räume neu aufzustellen, könnte ebenfalls helfen, Gewalt und Angriffe zu vermeiden. „Viele Menschen machen da ja mit, weil sie an Plätze gehen, eine Silvesterparty erleben wollen, und diese Party findet gar nicht statt. Da ist keine Musik zu hören, sondern da wird wahnsinnig rumgeböllert – und diese Räume können anders gestaltet, anders genutzt werden.“
So macht es zum Beispiel die Stadt Wittstock in Brandenburg: Hier gibt es seit 2005 ein großes öffentliches Feuerwerk, das mehrere Tausende Zuschauer besuchen.
Handlungsbedarf im Strafrecht
GdP-Chef Jochen Kopelke fordert im Deutschlandfunk mehr Handlungsbedarf im Strafrecht. "Wir müssen über den Straftatbestand Landfriedensbruch sprechen, weil er im Moment nicht das abbildet, was die Realität abbildet", sagt Kopelke. Um den Landfriedensbruch als Straftatbestand anwenden zu können, sei eine große Menge an Menschen nötig. Gerade an Silvester seien es aber meist nicht große Menschenmengen, sondern eher Kleinstgruppen junger alkoholisierter Männer mit Pyrotechnik, die Polizisten und Rettungskräfte angreifen.
"Wir sehen, je schneller sich die Polizei diesen Gruppen widmet, Rädelsführer rausgreift, präventiv in Gewahrsam nimmt, desto schneller bekommt man solche Einsatzlagen und ein friedliches Silvester hin", so Kopelke.
Härtere Strafen und schnellere Strafverfolgung
Um Krawalle und Angriffe auf Einsatzkräfte zu vermeiden, hält jeder Zweite harte Strafen für das Mittel der Wahl. Das hat eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Nachrichtenagentur dpa ergeben. Dieser Auffassung widerspricht der Kriminalpsychologe Thomas Bliesener: „Wir haben international eine Fülle von Studien, die diesen Zusammenhang untersucht haben, und die sind sehr übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht die Höhe der Strafe ist, die eine präventive, verhütende Wirkung hat.“
Entscheidend wäre eher das subjektiv wahrgenommene Risiko, erwischt oder bestraft zu werden. Doch die meisten Straftäter dächten überhaupt nicht über die Folgen ihres Tuns nach, zumal oft noch Alkohol im Spiel sei.
Die Verfahren aus der Silvesternacht müssten außerdem schneller zur Anklage kommen, betont GdP-Chef Kopelke. Hier bestehe noch Aufholbedarf.
Ob schnelle Bestrafungen entscheidend sind beim Umgang mit jugendlichen Straftätern, da sind die Experten geteilter Ansicht. Während der Kriminalpsychologe Thomas Bliesener davon ausgeht, dass dieses Kriterium nicht wirklich ausschlaggebend ist, hat Sven Frische von der Integrationshilfe des Evangelischen Jugendfürsorgewerks in Berlin andere Erfahrungen gemacht. „Es ist schwieriger, wenn die Tat schon ein oder zwei Jahre her ist. Dann steht der Jugendliche oft an einem anderen Punkt“, erläutert er. Schließlich sind ein oder zwei Jahre für junge Menschen ein anderer Entwicklungszeitraum als für ältere Erwachsene.
So oder so sind schnellere Verfahren in Fällen wie zu Silvester 2022/23 in Berlin oft gar nicht möglich: Die Geschehnisse vor Ort sind unübersichtlich und verworren. Das macht die Ermittlungen schwierig und langwierig. Allein die Auswertung des Videomaterials der Silvesterangriffe dauerte Wochen.
lkn