Silvesterkrawalle in Berlin

Wie missverständliche Polizeidaten eine Migrationsdebatte lostraten

07:39 Minuten
Polizeibeamte stehen in der Silvesternacht in Berlin hinter explodierendem Feuerwerk.
Unbestritten wurden in der Silvesternacht Polizisten und Einsatzkräfte in Berlin von Personen angegriffen. Die zunächst von der Polizei genannte hohe Zahl an Tatverdächtigen ist aber falsch. Die Zahl ist viel geringer. © picture alliance / dpa / TNN / Julius-Christian Schreiner
Von Ann-Kathrin Jeske · 24.01.2023
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Schnell wurden nach den Angriffen in der Berliner Silvesternacht junge, migrantische Männer als Verursacher ausgemacht. Inzwischen ist klar, die Zahl der Festgenommenen ist wenig aussagekräftig. Verantwortung für die unklare Faktenlage trägt die Polizei.
Beate Ostertag ist um ihren neuen Job nicht gerade zu beneiden. Seit Oktober ist sie Pressesprecherin der Berliner Polizei. Die Silvesternacht vor drei Wochen – ihr erstes kommunikatives Großereignis. Noch immer arbeitet sie jeden Tag neue Presseanfragen ab und muss auch erklären, wie sich die Kommunikation der Berliner Polizei verzettelte.
„Ich habe jetzt hier mir noch mal auf den Tisch gelegt unsere erste Pressemitteilung zum Einsatz zum Jahreswechsel.“
Denn mit dieser Pressemitteilung fing alles an. Sehr schnell ordnete die Polizei die Ereignisse der Silvesternacht am Neujahrsmorgen sehr deutlich ein. Wörtlich hieß es, die Polizei verzeichne – Zitat: „massive Angriffe auf Einsatz- und Rettungskräfte im gesamten Stadtgebiet, die in ihrer Intensität mit den Vorjahren nicht zu vergleichen sind“.
Direkt darunter: 18 Beamte seien verletzt worden, 103 Personen zwischenzeitlich festgenommen. Der Rahmen für die mediale Berichterstattung war gesetzt. Pressesprecherin Ostertag aber mag nicht erkennen, warum die Presse die Zahl der Festgenommenen mit den Ausschreitungen in der Silvesternacht in Verbindung brachte:
„Wir haben zumindest in den ersten Pressemitteilungen und auch bei Auskunfteien immer darüber geredet, dass es sich um Straftaten im Rahmen dieses gesamten Einsatzes handelt.“

Nicht alle Festgenommenen hatten mit Krawallen zu tun

Was bedeutet, dass die in der Nacht Festgenommenen nicht unbedingt etwas mit der Gewalt zu tun gehabt haben müssen. Unter den zwischenzeitlich Festgenommenen können auch mutmaßliche Drogendealer gewesen sein, die in der Silvesternacht mit Betäubungsmitteln erwischt wurden.
In der Öffentlichkeit aber entstand durch die Zahl der Festgenommenen, die in der Pressemitteilung direkt unter der Anzahl verletzter Einsatzkräfte stand, der Eindruck, an ihr lasse sich das Ausmaß der spezifischen Gewalt in der Silvesternacht festmachen – denn die hatte es schließlich gegeben; Videos davon kursierten am Neujahrsmorgen längst im Internet: Junge Männer, die Barrikaden errichteten, Raketen in offene Fenster schossen oder Krankenwagen mit Böllern bewarfen.
Verantwortlich dafür seien überwiegend ausländische junge Männer. Diesen öffentlichen Eindruck verstärkte die Polizei, als sie auf Nachfrage der Bild-Zeitung am 4. Januar die Staatsangehörigkeit der Festgenommenen bekannt gab, von denen zwei Drittel einen ausländischen Pass hatten.
Was die Polizei aber nicht einordnete: Die Festgenommenen – inzwischen war die Zahl auf 145 Personen gestiegen – waren gar nicht die Gruppe, mit der sich die Gewalt in der Nacht erklären ließ.

Mehrheit der mutmaßlichen Gewalttäter waren Deutsche

Heute ist klar, dass man sich der Gewalt in der Silvesternacht mit einer anderen Zahl besser nähern kann. Auch sie ist vorläufig und kann sich noch ändern, denn die Ermittlungen laufen noch. Dennoch ist sie viel kleiner: 43 Personen sind tatverdächtig, Polizei- und Rettungskräfte angegriffen zu haben.
Auch, was die Herkunft der Tatverdächtigen angeht, zeichnet sie ein anderes Bild: 60 Prozent der mutmaßlichen Angreifer sind Deutsche. Zahlen, mit denen sich öffentlich nicht so leicht erzählen lasst, dass Migranten für die Krawalle verantwortlich seien. Sie aber veröffentlichte die Pressestelle der Polizei erst, nachdem eine ähnliche Zahl dem Tagesspiegel durchgestochen worden war.   
Wie sieht man all das bei der Berliner Polizei? Würde die Pressestelle noch einmal genauso handeln?
„Kann ich antizipieren, was die Medien aus den Informationen, die zur Verfügung stellen, machen? Mit der Erfahrung des jetzigen Einsatzes und der Berichterstattung dazu lohnt es sich wahrscheinlich mehr, um die Ecke zu denken. Das ist jetzt rein so ein, so ein Gefühl.“

Schwierige Situation für die Berliner Polizei

Fakt ist: Vorenthalten darf die Polizei auf Anfrage Daten über die Staatsangehörigkeit nicht. Nach dem Pressegesetz ist sie zur Herausgabe verpflichtet. Der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Universität Frankfurt sieht deshalb durchaus, dass die Berliner Polizei in einer schwierigen Situation war:
„Weil auf der einen Seite, wenn so was passiert, dann wird eben viel nachgefragt, auch von den Medien und sind sie quasi in so einer Drucksituation auch Informationen zu liefern. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass die Polizei in einer ganz besonderen Verantwortung steht, wenn sie Öffentlichkeitsarbeit macht, wenn sie Informationen herausgibt. Das heißt, diese Informationen müssen nicht nur belastbar sein, sondern die Polizei muss sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch so präsentieren und einordnen, dass sie, dass sie von den Medien, aber auch von der interessierten Öffentlichkeit möglichst zutreffend aufgefasst und verstanden werden.“
Eben diese Einordnung – worüber sagt die Anzahl der Festgenommenen eigentlich etwas aus? Was hat sie mit den Angriffen in der Silvesternacht zu tun? – fehlte aber; und zwar sowohl in den ersten Pressemitteilungen der Polizei, als auch später, als die Frage nach der Staatsangehörigkeit hinzukam.

Kritik an Datenerhebung

Den Kriminologen aber stört an dem Fall noch etwas ganz anderes. Er legt offen, welche Daten die Polizei erheben und herausgeben muss. Die Staatsangehörigkeit gehört beispielsweise deshalb dazu, weil die Polizei bestimmte Informationen über Ermittlungsverfahren an die Ausländerbehörden weiterleiten muss.
„Aus kriminologischer Sicht muss man sagen, dass es hochproblematisch, weil in der öffentlichen Debatte so natürlich der Eindruck entsteht, als würde Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Migrationshintergrund irgendwas aussagen über Kriminalitätsbelastung. Und da kann man ganz klar aus kriminologischen Forschungen sagen: Das ist nicht der Fall, sondern Straftaten, abweichendes Verhalten entsteht aufgrund von Lebensumständen, aufgrund von sozialen Situationen. Und wenn wir schon über Ursachen, über Entstehungszusammenhänge von Kriminalität reden wollen, dann müssen wir über diese sozialen Kontexte reden.“

Die Ermittlungen laufen noch

Solche Daten erhebt die Polizei aber nicht. Aus Sicht von Pressesprecherin Ostertag wäre das wohl auch nicht zielführend – schließlich sollen die Beamtinnen und Beamten ermitteln und nicht in Dokumentation versinken.
Dennoch hat die Silvesternacht in Berlin einen Grundkonflikt offengelegt: Schnell informieren auf der einen Seite und gesicherte, einordnende Informationen auf der anderen zu liefern geht nicht immer zusammen. Die Frage, wie massiv die Gewalt gegen Polizei- und Rettungskräfte in der Silvesternacht war, beantwortet die Berliner Polizei drei Wochen später jedenfalls weniger eindeutig als noch in der Neujahrsnacht:
„Denn diese Hindernisse, die brennend auf die Straße verbracht wurden, haben ja auch den Individualverkehr und den öffentlichen Nahverkehr letzten Endes behindert. Und das ist Teil unserer Ermittlungen herauszufinden: Gab es möglicherweise tatsächlich Hinterhalte gezielt für Polizei und Feuerwehr, weil das noch mal eine andere kriminelle Energie bedeutet?“
Diese Ermittlungen laufen nun erst einmal. Bis sie abgeschlossen sind und sich ein umfassenderes Bild zeichnen lässt, werden nach Schätzung der Polizei noch Wochen vergehen.

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