Böllern trotz Virus
21:21 Minuten
Auch im Coronajahr wird es in Australien ein Silvesterfeuerwerk geben. Im Hafen der Millionenmetropole Sydney soll das Lichtspektakel steigen. Doch das "weltweit begehrte Event der Extraklasse" wird eine Nummer kleiner sein als sonst.
Über den Dächern von Sydney: Im Gänsemarsch und am Brückengeländer angeseilt, steigt eine Gruppe Touristen über einen der geschwungenen Stahlbögen der Sydney Harbour Bridge auf das Dach.
Die Aussicht ist atemberaubend. Die Skyline des Geschäftsviertels, Circular Quay, das geschäftige An- und Ablegen der Hafenfähren und links die strahlend weiß gekachelten Betonsegel des Opernhauses. In 134 Metern Höhe liegt einem Sydney buchstäblich zu Füßen.
"Fantastisch. Das ist eine großartige Kletterpartie." – "Wo sonst kann man im Zentrum von Sydney stehen und hat einen freien Blick in alle Himmelsrichtungen? Einfach wundervoll."
Ein Kilometer lang, 50 Meter breit: Die Sydney Harbour Bridge ist eine stählerne Nabelschnur zwischen dem Stadtzentrum am Süd- und den Vororten am Nordufer des Hafens. Während ihres Baus galt die Brücke als Sydneys "eiserne Lunge", weil sie trotz Weltwirtschaftskrise 5000 Arbeitern Lohn und Brot gab.
Seit ihrer Eröffnung 1932 war die Brücke wie eine Bühne, noch mehr als die berühmte Oper in ihrem Schatten. Es gab Massendemonstrationen, Autorennen und sogar ein Picknick auf der Brücke – und alle Jahre wieder, an Silvester, spielt die Sydney Harbour Bridge die Hauptrolle in der größten Show der Welt.
Sydney in der Neujahrsnacht: Schlag zwölf Uhr Mitternacht explodiert der Himmel über dem Hafen. Das alljährliche Silvesterfeuerwerk taucht die City in ein Meer aus Licht und Farben. Sydneys Hafen ist wie ein riesiges, natürliches Freilichttheater.
"Ich wusste nicht, wo hinschauen"
Das Wasser spiegelt jede Explosion, jeden glühenden Raketenschweif wider. 100.000 pyrotechnische Effekte erhellen die Stadt, abgeschossen von Lastkähnen, Hochhausdächern und von der Hafenbrücke. Über eine Million Zuschauer staunen sich vom Ufer aus oder auf Ausflugsbooten ins neue Jahr.
"Es ist riesig. Es ist laut. Die ganze Brücke war hell erleuchtet. Beim Opera House links noch einmal was, rechts noch einmal was. Ich wusste gar nicht mehr, wo ich hinschauen soll die ganze Zeit. Es kam wirklich von überall. Es war beeindruckend." – "Ich bin gar nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen. Ich bin dagestanden und konnte es gar nicht glauben. Es war wirklich super."
"Das muss man gesehen haben"
Lukas Haas und Julian Fischer aus Landshut saßen vor fünf Jahren an Silvester auf einer Parkbank direkt neben der Harbour Bridge. Von sieben Uhr morgens bis nach Mitternacht, Hauptsache in der ersten Reihe. Mit Picknickdecke, Kühltasche und Sonnencreme. Lukas und Julian haben diesen Rutsch ins neue Jahr bis heute nicht vergessen. Ein Erlebnis auf ihrer Bucket Liste abgehakt.
"Wenn man live dabei ist, dann kommt alles so richtig rüber, die ganze Größe und die ganzen Leute, die feiern und sich freuen. Die Stimmung erlebt man im Fernsehen natürlich auch nicht mit. Eine Bombenstimmung war da. Die ganze Brücke ist voll Feuerwerk. Ich kann es fast nicht beschreiben, das muss man einfach gesehen haben."
Straßensperren, eigene Partyzonen, Putzkolonnen und ein Polizei-Großaufgebot, weit über eine Million Menschen um den Hafen: Sydneys Silvesterfeuerwerk ist der größte Event im australischen Veranstaltungskalender.
Die kostenlose globale Publicity ist unbezahlbar
Die Stadt lässt sich das Spektakel jedes Jahr fast vier Millionen Euro kosten. "Geld, das gut angelegt ist", glaubt Stephen Walters vom Schatzamt New South Wales, denn die kostenlose, globale Publicity sei unbezahlbar.
"Diese Art der Vermarktung wirkt sich enorm positiv auf unsere Wirtschaft aus – nicht nur für die Stadt, auch für ganz Australien. Dadurch wollen Touristen zu uns kommen. Aber wir locken auch Auslandsstudenten an. Wir zeigen der Welt unsere ungezwungene Lebensart. Davon profitieren wir kurz- und langfristig, weil wir in der Neujahrsnacht Sydney und den ganzen Bundesstaat promoten."
Umgerechnet 80 Millionen Euro ist Silvester unmittelbar für Sydney wert, die Gratiswerbung durch internationale Medienberichterstattung nicht eingerechnet. Australiens Zeitzone liegt dicht an der Datumsgrenze. Nach Auckland in Neuseeland rutscht Sydney als erste Mehr-Millionen-Metropole ins neue Jahr – und die ganze Welt schaut zu: über eine Milliarde Menschen vor dem Fernseher und im Internet.
In ihren 16 Jahren als amtierende Oberbürgermeisterin von Sydney hat Clover Moore das Feuerwerk noch nie abgesagt. Nicht als es Terrordrohungen gab, nicht nach 250.000 Protestschreiben wegen der verheerenden Buschfeuer letztes Jahr – und jetzt auch nicht wegen Corona.
"Seit ich den Job habe, wäge ich jedes Jahr meine Bedenken ab und versuche zu berücksichtigen, was überall auf der Welt passiert. Aber wir sehen unser Feuerwerk symbolisch als Zeichen der Hoffnung, dass Dinge wieder besser werden, auch wenn sie im Argen liegen. Wir wollen der Welt zeigen, dass es einen positiven Neuanfang geben kann. Als ich Oberbürgermeisterin von Sydney wurde, habe ich nur einen einzigen Rat bekommen: Denke nicht im Traum daran, jemals das Silvesterfeuerwerk abzusagen."
Die Schulen, Geschäfte, Kulturbetriebe, Hotels, Restaurants, Cafés und Kneipen sind wieder geöffnet, genauso wie die meisten inneraustralischen Staatsgrenzen. Je nach Bundesland gelten verschiedene Höchstgrenzen für öffentliche Versammlungen, Privatveranstaltungen, Besuche und den Sportbetrieb.
Ein kleineres und kürzeres Feuerwerk
Australien ist in der Nach-Corona-Zeit, das gesellschaftliche Leben auf dem Weg zurück zur alten Normalität. Im Oktober gab es Rugbyspiele mit mehr als je 50.000 Zuschauern. Aber Neujahr in Sydney ist eine völlig andere Hausnummer. Kontaktbeschränkungen, Abstands- und Hygienevorschriften wären außer Kontrolle. Deshalb hat Gladys Berejiklian, die Premierministerin von New South Wales, das diesjährige Silvester in Sydney zur Chefsache erklärt.
"Das wird eine Neujahrsnacht, wie wir sie noch nie erlebt haben. Die meisten von uns werden das Feuerwerk zu Hause im Fernsehen ansehen müssen. In die Stadt darf nur eine streng begrenzte Zahl an medizinischem Personal, Ärzten und Krankenpflegern, Polizisten, Busfahrern – Menschen, bei denen wir uns bedanken wollen, wie sehr sie sich für uns alle während der Coronakrise eingesetzt haben. Die Zahlen werden überschaubar sein, denn meine Regierung wird nichts zulassen, das nicht den Gesundheitsverordnungen entspricht."
Jahreswechsel in Sydney 2020, die Covid-19-Ausgabe: Das traditionelle 21-Uhr-Feuerwerk für Kinder wurde bereits gestrichen, die Hauptattraktion um Mitternacht von sonst 15 auf diesmal nur sieben Minuten halbiert. Aber auch wenn es kürzer und kleiner sein wird als sonst: Sydneys Silvesterfeuerwerk bleibt in der Familie. In einer italienischen Einwandererfamilie mit Schwarzpulver im Blut.
Eine Familie mit Schwarzpulver im Blut
Raketentest bei Foti Fireworks auf einer Farm bei Marulan, etwa zwei Autostunden südwestlich von Sydney. Der ferngesteuerte Zünder und der Beschleuniger funktionieren. Fortunato Foti ist zufrieden. In der Welt von Feuerwerken darf nichts dem Zufall überlassen werden.
Fortunato Foti ist ein Hüne von Mann, gute 1,90 Meter groß, kräftig, pechschwarze Haare, angegrauter Vollbart und Hände, die genau wissen, was harte Arbeit ist. Fortunato ist 55 Jahre alt, die letzten 23 war er für Sydneys Silvester-Feuerwerk verantwortlich, so wie sein Vater und sein Großvater vor ihm. Denn Raketen und Böller sind mehr als nur ein Geschäft für die Fotis, sie sind eine Familientradition: seit Ende des 18. Jahrhunderts.
"Unsere Familie geht zurück bis ins Jahr 1793. Solange machen und veranstalten wir jetzt schon Feuerwerke. Ich bin ein Foti in siebter Generation und meine Kinder arbeiten auch schon mit. Mein Vater kam Anfang der Siebziger nach Australien. Gut 20 Cousins sind Feuerwerker in Italien, ein anderer mischt Schießpulver in Argentinien. Irgendwie scheint uns das im Blut zu liegen."
Die Fotis jagen ständig etwas in die Luft
Er würde ja gerne sagen, dass er Raketentechnik studiert habe, witzelt Fortunato, dabei schaute er einfach seinem alten Herren über die Schulter: wie er aus Salpeter, Holzkohle und Schwefel ein Pulver mischte, es in eine Hülle mit Salzen füllte, anzündete und die Rakete in den Himmel schoss.
Von da an wusste Fortunato, was er werden wollte. Heute haben die Fotis Büros und Lagerstätten in Sydney, Melbourne, Brisbane und Hongkong, aber die 80-Hektar-Farm in Marulan ist ihre Heimbasis, ihr Testgelände und ihre Feuerwerksfabrik. Hier auf dem flachen Land beschweren sich die Nachbarn auch nicht, wenn die Fotis ständig irgendetwas in die Luft jagen.
"Wir haben 37 Gebäude hier, die alle mindestens 25 bis 30 Meter voneinander entfernt sind. Das ist eine reine Sicherheitsmaßnahme. Denn: Fliegt eines in die Luft, dann sollen die anderen nicht unbedingt mit hochgehen. – Willkommen bei Fotis Feuerwerke!"
In einem turnhallengroßen Depot am Ende des Geländes lagern hüfthohe, silberne Blechtonnen mit allen Zutaten, die man für Feuerwerksraketen braucht: Kaliumnitrat, Schwefel und gemahlene Holzkohle für den Schwarzpulver-Antrieb, dazu Strontium-, Barium-, Magnesium- und Kupfersalze für ihre bunte Farbigkeit.
Das Mischverhältnis der Chemikalien für jede Art von Rakete steht, handgeschrieben, auf abgegriffenen DIN-A-5 großen Karteikarten. Fortunatos Bruder Toni nennt sie "die Familienrezepte", die sich seit Generationen bewährt hätten.
"All dieses Wissen wurde als Tradition immer weitergegeben, so wie das in Familienbetrieben üblich ist. Wir Fotis hatten schon immer einen Knall. Seit den Neunzigern lassen wir auch in China produzieren. Aber der Großteil unseres Feuerwerks wird von uns selbst und von Hand gemacht. Wir haben zwar 50 Mitarbeiter, aber jeder in der Familie packt mit an."
Pyro-Kunst mit der Präzision eines Computers
Egal, in welcher Größe: Die Zusammensetzung und das Herstellen von Feuerwerkskörpern hat sich seit Jahrhunderten kaum geändert. Aber um zu choreografieren, was Fortunato Foti "Pyro-Kunst" nennt, dazu braucht es die Präzision eines Computers.
Am Anfang ist immer Musik. Die Stadt Sydney gibt den Fotis einen Soundtrack, alles andere wird ihnen überlassen. Jeder in der Familie macht Vorschläge. Fortunato programmiert dann die Abschusssignale von etwa 100.000 Raketen und Effekten, passend zur Musik, in einen Steuerungscomputer.
Sich das alles am Bildschirm auszudenken ist eine Sache. Dann aber auch vor Ort dafür zu sorgen, vollautomatisch Tonnen von echtem Feuerwerk, wie geplant, auf die hundertstel Sekunde genau abzuschießen, ist eine völlig andere.
"Es geht darum, das Feuerwerk umzusetzen, das wir angekündigt haben – von A bis Z. Wir haben nur eine Chance, es richtig zu machen. Silvester findet nicht zwei- oder dreimal im Jahr statt, deshalb bereiten wir uns über Monate vor und überlassen nichts dem Zufall. Das war schon das Motto meines Großvaters: Uns ist nichts wichtiger, als das zu halten, was wir versprechen."
Erinnerung an ein einmaliges Erlebnis
Der Begriff Pyrotechnik bedeutet soviel wie "die Kunst des Feuermachens". Zündler aber hätten in seinem Beruf nichts verloren, meint Fortunato Foti. Pyromanen machten schlechte Pyrotechniker. Die einen wollten nur etwas zerstören, die anderen aber etwas kreieren.
Von dreidimensionalen, mehrfarbigen Bildern und Symbolen, die sich selbst entzünden, bis zu herabregnenden Glitterschauern: immer ausgefallenere, kompliziertere Effekte, die den Himmel explodieren lassen. Was Fortunato reizt, ist nicht allein die Technik oder das Spiel mit dem Feuer, sondern die Poesie des Augenblicks. Ein Feuerwerk ist vergänglich. Aber was bleiben soll, ist die Erinnerung an ein einmaliges Erlebnis.
"Wir wollen nicht jedes Jahr einfach nur ein noch größeres Feuerwerk machen als das Jahr zuvor. Wir möchten, dass es immer anders aussieht: mit Effekten, die niemand zuvor gesehen hat, an die sich die Leute auch erinnern. Die Zuschauer sollen hinterher sagen: Diesmal war es noch besser als letztes Jahr."
"Ich habe den schönsten Beruf der Welt"
Rot-weißes Flatterband und Verbotsschilder: Wo am Hafen von Sydney sonst Tausende schon Tage vorher in Parks und auf Gehwegen für die beste Aussicht auf die Harbour Bridge zelten, ist alles abgesperrt. Für das Covid-19-Silvester wird es dieses Jahr nur ein großes Fernsehpublikum geben. "Es ist gut, dass das Feuerwerk in Sydney überhaupt stattfindet", meint Fortunato Foti: als bunter Hoffnungsschimmer, der die Menschen daran erinnern könne, wie es vor Corona war – und wie es irgendwann auch wieder sein könnte.
"Es gibt wenige Jobs, mit denen man so vielen Menschen jeden Alters eine Freude machen kann. Ich habe den schönsten Beruf der Welt. Wenn ein Feuerwerk abbrennt, dann vergessen die Leute alle ihre Sorgen. Im Grunde sind wir Entertainer. Wir unterhalten die Massen – und jeder sitzt dabei in der ersten Reihe."
Die silvesterverrückteste Böllerhochburg der Welt
Hongkong, Singapur und London, Tonga oder Kapstadt: Die Fotis haben schon überall auf der Welt "gefeuerwerkt". Nirgendwo aber ist ihre Bühne größer als zu Silvester in Sydney. Als der britische Chirurg John White im Jahr 1788 von Bord eines der ersten Sträflingsschiffe ging, soll er geschwärmt haben: "Dies ist der herrlichste Hafen des Universums."
Für Mark Strong von der Stadtverwaltung lag White nicht weit daneben. "Wir lieben unseren Hafen", sagt er. "Für uns ist er der schönste der Welt." 15 Monate lang arbeiten Mark und ein 60-köpfiges Team daran, Sydneys Aushängeschild für eine Nacht in eine Diva zu verwandeln: mit Raketen, die den Himmel verzaubern, Licht und Farben, mit Silberschweifen und Goldregen.
"Wir wollen den Ruf behalten, dass man am 31. Dezember nirgendwo auf der Welt besser ins neue Jahr feiern kann als in Sydney. Wir wollen die Leute sprachlos machen, sie begeistern und staunen lassen. Wir sind stolz darauf, dass uns das immer wieder gelingt."
Nur Minuten nachdem die letzte Rakete des Feuerwerks verglüht ist, öffnet die Sydney Harbour Bridge wieder für den Auto- und Zugverkehr. Die Crew von Foti Fireworks ist dann schon beim Aufräumen. Kilometer von Kabel werden eingerollt, die Steuerungscomputer weggepackt und ausgebrannte Abschussrampen von den Lastkähnen im Hafen und von Hochhausdächern in der City geholt.
Über Funk wünscht Fortunato Foti, wie immer, seiner Truppe einen guten Rutsch. Aber sobald die Rauchschwaden über dem Hafen verzogen sind, beginnt für ihn bereits der Countdown für das nächste Jahr. Für Sydney 2021: ein noch spektakuläreres Neujahrsfeuerwerk in der silvesterverrücktesten Böllerhochburg der Welt.