Simon Hall: 1956 - Welt im Aufstand
Aus dem Englischen von Susanne Held
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2016
479 Seiten, 24,95 Euro, auch als E-Book
Ein Epochenjahr der Freiheitsgeschichte
Ungarn, Ägypten, Algerien, Ghana, Zypern, Kuba oder Südafrika: Der britische Historiker Simon Hall sieht diese Länder in seinem Buch "1956 - Welt im Aufstand" vereint im Freiheitskampf – jedenfalls in diesem einen Jahr.
Er fügt ein weiteres Epochenjahr in das 20. Jahrhundert ein. Nach 1918 und 1945, also nach den beiden Weltkriegen, und vor 1989, vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, sei das Jahr 1956 zum Kristallisations- und Wendepunkt der Weltgeschichte geworden, behauptet der junge Historiker Simon Hall.
"Im Jahr 1956 standen auf der ganzen Welt gewöhnliche Leute auf und erhoben ihre Stimme, sie gingen auf die Straßen und Plätze, riskierten Gefängnisstrafen, griffen zur Waffe, ja verloren ihr Leben bei dem Versuch, größere Freiheiten zu erkämpfen und eine gerechtere Welt aufzubauen.
Konfrontiert mit einer beispiellosen Herausforderung ihrer Macht, schlugen die Wächter der 'Alten Ordnung' in dem verzweifelten Versuch, ihre Autorität aufrechtzuerhalten, oftmals unbarmherzig zurück.
Es war ein monumentaler Kampf, der die Nachkriegswelt von Grund auf verändern sollte. Höchste Zeit also, die Geschichte dieses bemerkenswerten Jahres lückenlos zu erzählen."
Freiheitskampf gegen alte Mächte
Ob "lückenlos", sei dahingestellt, wohl aber mitreißend erzählt Simon Hall - sehr oft in bewegenden Episoden und Bildern. Er folgt dem Lauf der Jahreszeiten, ausgehend vom Winter, in dem die alte Ordnung Risse bekam, über das Erwachen der Sehnsucht nach Freiheit im Frühling, hin bis zu einem Sommer im Geist der Revolte, der in einen Herbst aus Revolution und Reaktion mündete.
Der west-östliche Konflikt der Supermächte wird ebenso zum Thema dieser Erzählung wie der erodierende Einfluss der ehemaligen Kolonialherrscher Großbritannien und Frankreich oder die Emanzipation der sogenannten "Dritten Welt", ob in Ägypten, Algerien oder Ghana, auf Zypern oder auf Kuba. Nicht zu vergessen der Kampf gegen den Rassismus der Weißen in den USA und das Apartheitsregime in Südafrika.
Indem er Freiheitsbewegungen und deren Gegenkräfte in verschiedenen Regionen der Welt betrachtet, entdeckt er zwischen ihnen Verbindungslinien, etwa zwischen der Diskriminierung schwarzer Amerikaner und dem Kalten Krieg oder zwischen dem osteuropäischen Aufbegehren gegen die Sowjetherrschaft und den antikolonialen Protesten des Südens.
So fühlten sich polnische Aufständische den Freiheitsaktivisten auf Zypern oder in Algerien verbunden, während Verteidiger der Rassentrennung in den USA vorgaben, sich mit Militanz gegen eine kommunistische Bedrohung schützen zu müssen.
Suez-Krieg, Ungarn-Aufstand, Algerien-Krieg
Im Zentrum des Buches stehen die großen weltpolitischen Ereignisse des Jahres 1956: Suez-Krieg und Ungarn-Aufstand. Simon Hall liest den Suez-Krieg als letztes gemeinsames Aufbäumen Englands und Frankreichs, um ihre Macht im Nahen Osten zu sichern. Es war ein haltloses Unterfangen, das ironischerweise von der Supermacht USA gestoppt wurde, um die Region nicht in ein Chaos versinken zu lassen, was nur sowjetischer Expansion dienlich gewesen wäre.
Den Ungarn-Aufstand begreift der britische Historiker als Reaktion auf Chruschtschows Entstalinisierungsrede während des 20. Parteitages der KPdSU. Sie habe sogleich wie ein Ventil für die Unzufriedenheit im Sowjetblock gewirkt.
Und das Beispiel Algerien zeigt ihm, wie ambivalent sich nationalistischer Freiheitsfuror auswirke, wenn er in eine Spirale immer weiter eskalierender Gewalt münde, die schließlich an ihrem Ende 1962 Hunderttausende von Toten zählte. Dazu nimmt er den Leser mit in die Hauptstadt Algier.
"Die drei attraktiven, hellhäutigen jungen Frauen legten ihren Schleier ab, färbten ihr Haar und zogen hübsche Sommerkleider an, um ungehindert die zahlreichen Kontrollpunkte in der Innenstadt passieren zu können. Sorgfältig verbargen sie ihre Ein-Kilogramm-Bomben, deren Zeitzünder auf 18:30 Uhr gestellt waren, in ihren Strandtaschen und bedeckten sie mit Handtüchern, Sonnencreme und Strandbekleidung.
Lakhdari steuerte die Caféteria in der schicken Rue Michelet an, ein Lokal, das bei Studenten aus Europa besonders beliebt war. Einige junge Paare tanzten bereits zu der Mambo-Musik, die aus der Jukebox dröhnte.
Gleichzeitig begab sich Drif in die Milchbar an der Place Bugeaud. Diese war gesteckt voll mit europäischen Familien, die sich nach einem Tag am Strand dort entspannten. Beim Anblick der kleinen Kinder, die an ihren Milchshakes nippten, zögerte Drif kurz, doch sie härtete sich innerlich mit der Erinnerung an die Kinder ab, die in den Trümmern der Rue de Thèbes zu Tode gekommen waren."
Epochenqualität eines Jahres als Erzählmethode
Genau genommen verdichtet Simon Hall. Historische Prozesse, die sich jahrzehntelang hinzogen, schreibt er dem einen Jahr 1956 zu, das sodann als Wendepunkt des Zeitenlaufs eine Epochenqualität erhält. Diese Methode ist solange zulässig, wie sie Einsicht und Erkenntnis vermehrt. Diesen Mehrwert erzielt er zweifellos, wie sein eigenes Fazit belegt.
"Viele derjenigen, die 1956 auf die Straße gingen oder Veränderungen forderten, aber auch jene, die den Status quo verteidigten, waren sich des globalen Kontexts bewusst, in dem sie agierten; einige spürten sogar sehr genau, dass sie Teil einer größeren, zusammenhängenden Geschichte waren."
Über sie berichtet Simon Hall in angelsächsischer Historiker-Tradition, indem er erzählerisch ausmalend Episode an Episode reiht. Zuweilen mag sich der Leser fragen, woher er die vielen Einzelheiten wohl weiß. Insgesamt jedoch schmälert das nicht die wissenschaftliche Leistung des Buches. Vielmehr bekommt der Autor das Geschehen rund um das Jahr 1956 überzeugend in den Griff.