Simon Strick: "Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus"
Transcript Verlag, Bielefeld 2021
477 Seiten, 33,99 Euro
Wie der "digitale Faschismus" Emotionen manipuliert
06:15 Minuten
Dumpfbacken mit Glatze und Springerstiefel – das Klischee des typischen Faschos. Medienforscher Simon Strick räumt mit dieser Vorstellung auf. Der "digitale Faschismus" der Gegenwart zielt auf die Breite der Gesellschaft und ihre Gefühle.
"Nie wieder Faschismus!" Der Spruch gehört zum eisernen Bestand aller Bewegungen gegen rechts. Wie hilflos die rituelle Formel inzwischen geworden ist, zeigt der Gender- und Medienforscher Simon Strick in einer spannenden Untersuchung.
Digitaler Kulturkampf
Denn der "reflexive Faschismus", den der Wissenschaftler und Begründer eines Performance-Kollektivs dort beschreibt, hat so gar nichts von dem Klischee der schwarz gekleideten Dumpfbacken, die man gemeinhin mit der Vokabel identifiziert. Darunter subsumiert Strick zwar auch militante und terroristische Aktionen von rechts. Er sieht die neuen Faschisten aber in erster Linie als kulturkämpferische Bewegung, die eine "neue ideologische Matrix" geschaffen habe.
Medium ihrer "Metapolitik" ist das Netz. Per Blogs, Memes oder YouTube werben sie für Rassenidentität, attackieren die Queer Theory oder die progressive "Meinungsdiktatur". Ihre "affektive Mikrorevolution" habe einen folgenreichen "Klimawandel" nach rechts bewirkt, so Strick. Zudem habe sie transnationale Netzwerke jenseits der geschlossenen Räume der Altnazis geknüpft.
Emotionale Ansprache an die Breite der Gesellschaft
In 15 faszinierenden "Screenshots" beschreibt der Medienforscher paradigmatische Strategien in diesen digitalen Echokammern. Als Initialzündung gilt das sogenannte GamerGate im Jahr 2013: Sexismusvorwürfe einer kanadischen Kommunikationswissenschaftlerin gegen Computerspiele auf YouTube konterte die männliche Community mit einem antifeministischen Backlash.
Der Tränenausbruch des US-Ethnofaschisten Christopher Cantwell 2017 im Netz ist charakteristisch für die emotionale Ansprache unterhalb ideologischer Großtheorien. Anhand individueller Schicksale suggerierten die Protagonistinnen und Protagonisten eine identifikationsfähige "Risikosituation für Mehrheiten": Weiße, Männer, Konservative, Heterosexuelle.
Ihren größten Erfolg erzielte diese Strategie bei der Berliner Anti-Corona-Demo am 29. August 2020. Mit rund 40.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gelang es nicht nur, ein einmaliges "Unterdrückungs- und gleichzeitig Befreiungserlebnis" zu konstruieren. Sie schafften es auch, ihre Botschaften "breitentauglich auszuformulieren".
Wie könnte eine "affektive Gegenbewegung" aussehen?
Angesichts dessen, wie vielgestaltig und ausdifferenziert der "reflexive Faschismus" inzwischen ist, spricht Strick zu Recht von einem "Überlastungsproblem". Seine 13-seitige Liste der von der Plattform "reddit" gelöschten Websites zeigt die Anforderungen an die Wahrnehmungsleistung eines neuen Antifaschismus.
Bei der Skizzierung einer Gegenstrategie bleibt Strick vage. Es mag sein, dass "linkes Denken" gegen den "reflexiven Faschismus" allein nicht mehr hilft. Doch was der Inhalt der "affektiven Gegenbewegung, die nachhaltige Gefühlswelten für viele Menschen und Situationen bereitstellt", sein soll, bleibt unklar. Zumal auch die "radikalen und vielfältigen Kollektive", die ihm als politische Subjekte eines neuen Antifaschismus und als Ingenieure demokratischer "Gegengefühle" vorschweben, nicht vor Irrationalismen gefeit sein dürften.
Das ändert nichts daran, dass Stricks geballte Ladung an Information, Deutung und Theorie die wohl intelligenteste und umfassendste Darstellung des zeitgenössischen Faschismus und seines fundamentalen Gestaltwandels darstellt. Pflichtlektüre für alle "Nie-Wieder"-Strategen!