Simone de Beauvoir: "Die Unzertrennlichen"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
167 Seiten, 22 Euro
Der mörderische Geist des Konformismus
05:32 Minuten
Simone de Beauvoirs lange unveröffentlichte Erzählung über ihre Jugendliebe Zaza ist eine erschütternde Anklage gegen die erstickende Strenge im französischen Bürgertum der 20er-Jahre. Die Erfahrung war prägend für die Schriftstellerin.
Warum genau Simone de Beauvoir diesen kurzen Roman 1954, nachdem sie ihn beendet hatte, nicht veröffentlicht hat, ist unklar. Sylvie Le Bon de Beauvoir, Adoptivtochter und Erbin der Ikone des Feminismus, gibt in ihrem Vorwort keine weitere Erklärung dafür. Allgemein wird angenommen, Jean-Paul Sartre habe seiner Lebensgefährtin abgeraten, nach dem Prix Goncourt für "Die Mandarine von Paris" im selben Jahr einen derart intimen Text herauszubringen.
"Die Unzertrennlichen" - der Titel stammt von der Nachlassverwalterin - galt nach der Veröffentlichung in Frankreich im Herbst 2020 als Beleg für eine lesbische Orientierung der Schriftstellerin. Zu der hatte sie sich bis zu ihrem Tod 1986 nie direkt geäußert - und das, obwohl sie in ihrem Werk der Nachwelt ihr Leben fast minutengetreu mitgeteilt hat.
Ist es Liebe?
Im Roman begehrt das Mädchen Sylvie ihre fast gleichaltrige Klassenkameradin Andrée; die Icherzählerin nennt die Freundschaft explizit "Liebe". Die beiden sind etwas zehn Jahre alt, als sie sich erstmals begegnen. Sylvie bewundert Andrée wegen ihrer geistigen Unabhängigkeit und ihres Freiheitsdrangs, obwohl sie aus einer ultra-konservativen, streng katholischen Familie kommt.
Ob die Gefühle der Heranwachsenden tatsächlich sexueller Natur sind, lässt sich aus dem jetzt veröffentlichten Text nicht ganz so eindeutig herauslesen, wie manche Kritik in Frankreich sowie auch das Vorwort es nahelegen. Aus literarischer Perspektive ist die sexuelle Orientierung der Autorin letztlich auch eher uninteressant.
Bleierner Konservativismus
Denn entscheidend ist die finstere, jede Emotion einschnürende Atmosphäre, die de Beauvoir in diesem stark autobiografischen Roman skizziert: Der bleierne Konservatismus der bürgerlichen Welt der 20er-Jahre unterdrückt alle Freiheitsgefühle der jungen Frau.
Obwohl Andrées Vater eine führende Stellung bei Citroën bekleidet, also Teil einer den Fortschritt repräsentierenden Industrie ist, sind die moralischen Grundsätze der Familie tief in der Vergangenheit verankert. Monsieur Gallard ist Vorsitzender des Verbands der kinderreichen Familien und schon von daher ein knallharter Verfechter traditioneller Werte.
Während die Eltern der Icherzählerin Sylvie religiös eher undogmatisch eingestellt sind, verkörpert die Familie Gallard einen autoritären Katholizismus, der alle Lebensbereiche durchdringt. Der Beichtvater ist omnipräsent, die Angst vor sündigen Gedanken wird jungen Menschen erbarmungslos eingetrichtert.
Liebesheiraten sind suspekt, das Einheiraten in "ordentliche" Kreise hat Priorität. Obwohl auch Andrées Mutter sich selbst zweimal geweigert hatte, den von der Familie bestimmen Bräutigam zu ehelichen, bevor ihr Wille gebrochen wurde, setzt sie bei ihren eigenen Töchtern die brutale Tradition mit derselben Strenge fort. Man wähnt sich tief im 19. Jahrhundert und nicht in der Aufbruchsphase nach dem Ersten Weltkrieg.
Rebellion gegen die Wohlanständigkeit
Das reale Vorbild für Andrée Gallard war Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, mit der Simone de Beauvoir über lange Zeit eine enge Freundschaft pflegte. Zaza starb im Alter von knapp 22 Jahren an einer Virusinfektion. Manche Interpreten - so auch Sylvie le Bon de Beauvoir im Vorwort - legen nahe, dass der gesellschaftliche Konformitätsdruck die Widerstandskräfte der jungen Frau stark geschwächt und damit zu ihrem Tod mit beigetragen habe.
Zaza darf als Vorbild für Simone de Beauvoir gelten. Von ihr hat sie das unabhängige Denken und die Rebellion gegen die Ketten der sogenannten Wohlanständigkeit gelernt. Die Freundschaft mit ihr war ungemein prägend für die intellektuelle Entwicklung der Schriftstellerin.
Die Unterdrückung der weiblichen Entwicklung, die sie bei Zaza hautnah miterlebt hat, haben sie erst recht dazu gebracht, sich mit den Fragen nach der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Das mündete in ihren berühmt gewordenen Satz: Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.