Simoné Goldschmidt-Lechner (SGL): "Messer, Zungen"
© Matthes & Seitz Berlin
Die Waffe der Sprache
32:32 Minuten
Simoné Goldschmidt-Lechner
Messer, ZungenMatthes und Seitz , Berlin 2022198 Seiten
20,00 Euro
Wortkunst als gesellschaftliche Intervention - in ihrem Roman "Messer, Zungen" wetzt die Autorin das Instrumentarium der Sprache und setzt es ein für mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Aufmerksamkeit für diejenigen, denen bisher nicht zugehört wurde.
"Wann ist der Moment, in dem Lüge Wahrheit wird?" Simoné Goldschmidt-Lechner - auf dem Cover nur kurz "SGL" - stellt in ihrem Romandebüt "Messer, Zungen" grundsätzliche Fragen. Dabei wird eine Familiengeschichte rekonstruiert, aber auch fragmentiert. Vor allem aber ist es die Sprache selbst, der hier mit Mitteln der Sprache auf den Grund gegangen wird, nicht als art pur l´art, sondern – und das macht die Sache interessant – als Mittel des Aufbegehrens, der gesellschaftlichen Intervention.
„Wir erinnern uns, aber nicht wie Elefanten, die auf Friedhöfe zurückkehren, denn unsere Erinnerungen passen nicht zwischen Buchrücken, zwischen Vor- und Abspann.“ Gleich auf der ersten Seite wird darauf verwiesen, dass Bücher und Filme die Reflexion strukturieren. Sie stiften Sprache und ermöglichen Erinnerung. „Das Mädchen sitzt lesend unter der Bettdecke, streicht jeden Namen von Figuren an, die ihr ähneln könnten.“ Aber das Mädchen findet keine. Und der Bruder lernt seine Sprache nicht wirklich. „Die Sprachen vermischen sich, sie verwirren ihn. Vielleicht weil Mutter eine Sprache zu sprechen versucht, die sie selbst niemals beherrschen wird.“
Familie und Sprache sind gesellschaftliche Konstrukte
Familie und Sprache sind die beiden großen gesellschaftlichen Konstrukte, die den Text tragen, einschließlich neologistischer Kapitelüberschriften wie „Ermutterung“, „Vatergeländer“, „Verbrüderlichkeiten“.
Die Beschreibung isolierter Details schlägt um in allgemeinmenschliche Schlüsse. Das erinnert als Prinzip eher an verdichtende lyrische Verfahren als an die Erzählweise eines Romans. Das gilt auch für rhythmische Wiederholungen, das Spiel mit dem Schriftbild, den Umgang mit Satzzeichen, den Wechsel zwischen Sprachen.
Der Text reflektiert seinen Status zwischen Erzählung und Verdichtung: "Die Frauen verwalten alle Geschichten. Sie weben Legenden auf ihren Zungen und Lügen. Sie geben weiter und entscheiden, was vergessen wird. Alles wird Symbol."
Referenzen von Celan bis Coetzee
Die Entscheidung, was weitergegeben, was vergessen wird, ist das zentrale Moment, um das die fiktive Familiengeschichte kreist, die den Bogen vom von der Apartheid geprägten Südafrika in ein seine Erinnerungskulturen in Frage stellendes Deutschland schlägt. – „Wir schreiben Briefe“ (und Romane?), „bis uns die Tinte ausgeht. Wir versuchen nach vorne zu schauen und werden immer mehr zurückgedrängt, ganz sanft von den gewaltvollsten Wellen im Meer.“ Eingewoben sind literarische Referenzen von Celan bis Coetzee: „Sie ist gleichzeitig Margarete und Sulamith, das weiß sie, und sie verabscheut gleichzeitig Sulamith und Margarete, verbringt Jahre damit, beide zu leugnen und sich nach beiden zu sehnen.“
"Für alle, die nie sprechen durften"
Sprache ermöglicht Erinnerung, Sprachlosigkeit perpetuiert Gewalt. Ganz am Ende, im Anschluss an den Dank, erklärt die Autorin in Form zweier Widmungen, in welchen Kampf sie als SGL zieht: „Für alle, die nie sprechen durften, und besonders für diejenigen, die es immer noch nicht können.“ Und: „Für den Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung."
Für ihren Kampf wetzt SGL in "Messer, Zungen" die Waffe der Sprache selbst, also das Messer, das die Zunge ist. Sie tut es mit Selbstbewusstsein, Sicherheit und Konsequenz und spiegelt dabei eine zur Erinnerung endlich genötigte und jetzt um ihre Sprache ringende Gesellschaft.