Sind wir im Krieg?

Von Werner Sonne |
Fangen wir ruhig mit Clausewitz an. Der wichtigste Grundsatz des preußischen Militärtheoretikers gilt bis heute fort. Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbeziehung anderer Mittel - mit anderen Worten: Was immer das Militär tut, es bleibt der Politik untergeordnet.
Clausewitz sagt damit etwas, was der deutsche Politiker ja ganz besonders gerne hört, nämlich, dass die Politik zu bestimmen hat, wo es lang geht. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee; nicht nur die Regierung, auch der Bundestag mischt sich also sehr direkt ein, wenn es um den Afghanistan-Einsatz geht.

Nun besteht das umfassende Werk von Clausewitz, das auch heute noch weltweit an den Militärakademien gelehrt wird, nicht nur aus diesem einen Satz. Clausewitz sagt auch, solange man den Gegner nicht bezwungen hat, besteht die Gefahr, selbst bezwungen zu werden.

Die Wahrheit dieser Erkenntnis kann man gegenwärtig in Afghanistan mustergültig studieren. Die Taliban, die man als besiegt angesehen hatte, kehren zurück, und sie suchen sehr bewusst die militärische Auseinandersetzung. Im Mai gab es erstmals mehr Tote unter den westlichen Truppen als im Irak. In einem großen Teil des Landes herrscht Krieg, darüber kann es keinen Zweifel geben.

Was bedeutet das für den Einsatz der Deutschen? Es ist zwar richtig, dass nur zwei Prozent aller Vorfälle im Norden registriert werden, also im Bereich der Bundeswehr, und das wiederholen unsere Politiker gebetsmühlenartig. Aber was heißt das schon?

In dieser Woche wurde das Bundeswehrlager in Kundus wieder mit Raketen beschossen, die deutschen Soldaten beschreiben ihren Alltag zunehmend auch als Krieg. Verteidigungsminister Jung, soeben aus Afghanistan zurückgekehrt, bleibt aber tapfer dabei, der Bundeswehreinsatz sei kein Kampfeinsatz, er diene der Stabilisierung des Landes.

Auch das ist nicht falsch, das politisch vorgegebene Ziel ist der Schutz des Aufbaus des Landes, und das muss, damit hier kein Missverständnis aufkommt, auch so bleiben. Lange, zu lange führte das zu dem Image, dass der deutsche Soldat eigentlich nur ein bewaffneter Entwicklungshelfer ist. Das aber stand schon von Beginn an im Widerspruch zur inneren Begründung dieses Einsatzes. Immerhin war es der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, der sagte, deutsche Interessen würden auch am Hindukusch verteidigt. Afghanistan war damals das Basislager des internationalen Terrorismus, und in der Tat war und bleibt es auch im deutschen Interesse, dort keine neuen Terrorcamps mehr zuzulassen.

Rund um Kundus wohnen viele Paschtunen, unter ihnen haben die Taliban ihre Anhänger. Und die Taliban wissen, dass im fernen Berlin im Oktober die Verlängerung des Bundeswehrmandats im Bundestag ansteht. Sie verfolgen sehr genau die Stimmungslage bei uns, eine Stimmungslage, in der die große Mehrheit der Bevölkerung gegen den Afghanistaneinsatz ist. Das, zusammen mit den Interessen lokaler Drogenbarone, führt zu einer unheilvollen Gemengelage, die die deutschen Soldaten zunehmend zu spüren bekommen.

Es ist an der Zeit, einige Wahrheiten klar auszusprechen. Im Vordergrund muss in Afghanistan weiter der Versuch stehen, das Land aufzubauen. Darüber sind sich in Wahrheit auch alle Parteien einig. Das kann aber nur glaubwürdig gelingen, wenn dahinter auch der Wille steht, für Sicherheit zu sorgen. Die Formel ist also ganz einfach: ohne militärische Sicherheit kein Erfolg beim zivilen Aufbau.

Nun müssen wir noch einmal Clausewitz bemühen, auch wenn an dieser Stelle mancher Politiker ins Schwitzen geraten wird. Er sagt nämlich, dass es darum gehe, dem Gegner unseren Willen aufzuzwingen. Wenn es also der deutsche Wille ist, den Aufbau abzusichern, dann muss das auch durchgesetzt werden, und zwar, wenn nötig, mit militärischer Gewalt gegen einen Angreifer, der das unbedingt verhindern will. Will heißen: Die Bundeswehr muss bereit sein, diesen Angreifer zu stellen. Es kann nicht länger so sein, dass selbst bekannte Attentäter frei herumlaufen, ohne dass die deutschen Soldaten eingreifen.

Tatsächlich hat die Bundeswehr die Rolle des bewaffneten Entwicklungshelfers längst verlassen. Seit Anfang Juli haben deutsche Soldaten die schnelle Eingreiftruppe übernommen, das ist ein Kampfverband, nichts anderes.

Letztlich ist es im Übrigen egal, ob man von einem Krieg spricht oder nicht. Klar muss sein, dass die Gewalt wächst, und dass die deutschen Soldaten sich dieser Gewalt stellen müssen - am liebsten selbstverständlich Seite an Seite mit afghanischen Streitkräften.

Was wir nicht brauchen, ist ein Krieg der Worte über die Frage, ob dies nun ein Krieg ist oder nicht. Es genügt, wenn wir uns zur Wahrheit bekennen, und die Wahrheit ist: Die Zeit der Beschwichtigung zur Lage in Afghanistan ist vorbei.


Werner Sonne, 1947 in Riedenburg geboren, arbeitete zunächst beim Kölner Stadt-Anzeiger, war dann Korrespondent für United Press International in Bonn und ging 1968 zum Westdeutschen Rundfunk. Er absolvierte Studienaufenthalte am Salzburg Seminar for American Studies sowie an der Harvard University. Unter anderem war er Hörfunk-Korrespondent in den ARD-Studios Bonn und Washington. 1981 wechselte Werner Sonne zum Fernsehen, war unter anderem ARD-Studioleiter in Warschau, Korrespondent in Bonn und Washington und im ARD-Hauptstadtstudio Berlin sowie Moderator der Sendung "Schwerpunkt" im ARD/ZDF-Informationskanal Phoenix.

Derzeit arbeitet er als Berliner Korrespondent für das ARD-Morgenmagazin. Werner Sonne ist Co-Autor der Romane: "Es war einmal in Deutschland" (1998), "Allahs Rache" (1999), "Quotenspiel" (1999) und "Tödliche Ehre" (2001).
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