Deutscher Chefdirigent mit Hang zur Freiheit
Das Nationale Sinfonieorchester des Polnischen Rundfunks ist das wichtigste Orchester des Landes - geleitet von einem Deutschen. Alexander Liebreichs Vertrag wurde sogar gerade bis 2019 verlängert, obwohl die Regierung deutsche Einflüsse begrenzen will. Wie frei ist er bei seiner Arbeit?
"Ich möchte Musik machen, wenn ich frei Musik machen kann. Das bedeutet: wo Qualität ist.
Ich kenne dieses Orchester seit über zehn Jahren, ich habe zwei Regierungen erlebt, und ich kenne Kattowitz seit 25 Jahren. Ich habe die letzten zehn Jahre dort mehr Freiheit im Musizieren gespürt, als oft in deutschen Rundfunkorchestern. Ich hab bis dato eine große Freiheit."
Alexander Liebreich sitzt im Konferenzraum eines Berliner Hotels. Vor der Tür, in der Hotel-Bar, perlt Jazz aus den Lautsprechern. Liebreich hat seine Winterjacke noch nicht ausgezogen, der schwarze Pelzkragen ist hochgeschlagen wie eine Rüstung. Als müsse er sich schützen vor Fragen. Er, der lieber Musik macht als zu sprechen.
Es hieß, es habe Widerstand gegeben in Warschau, innerhalb der polnischen Regierung, als es um die Vertragsverlängerung des Deutschen ging. Liebreich – weiß nichts davon.
"Nein. Mit mir hat niemand gesprochen."
Als Dirigent ist er in der ganzen Welt unterwegs. Zehn Jahre Holland, Rundfunkorchester. Gute fünf Jahre Korea, Nord und Süd. Viele Jahre Chefdirigent des Münchner Kammerorchesters. Seit 2012 auch Chefdirigent des Nationalen Sinfonieorchesters des Polnischen Rundfunks.
"Mich interessieren patriotische Punkte relativ wenig"
Liebreich kennt die kulturellen Gepflogenheiten einiger Länder. In den meisten, sagt er, pflege man sein kulturelles Erbe. Und in Polen sind neuerdings sogar Punkte für Patriotismus im Gespräch, nach denen Kulturprojekte gefördert werden.
Liebreich spielt Lutoslawsi, Szkimanoski, Penderecki, Zemlinsky. Alles Polen. Muss er – oder will er patriotische Punkte sammeln?
"Mich interessieren patriotische Punkte relativ wenig. Mich interessiert gute Musik! Im 20. Jahrhundert gibt es dort Leute, die überragend sind, auf dem Niveau eines Strawinsky, eines Bartók, die kennt man viel zu wenig. Außerdem: Die polnische Kultur hat jenseits von jedem System immer eine große Kraft entfaltet und entfalten können."
Sollte das eine Sprachregelung sein, damit er seine Stelle behalten kann, dann deckt sie sich mit Liebreichs Überzeugung. Man kann sich überhaupt schwer vorstellen, dass er sich verbiegen lässt. Liebreich, 1968 in Regensburg geboren, ist eigenwillig und ehrgeizig. Anders als die meisten Musiker hat er seine Berufung nicht geerbt. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater Beamter. Die Eltern sind skeptisch, als der Sohn mit neun Jahren vier Stunden lang am Stück am Klavier sitzt. Er aber bleibt bei der Musik. Studiert singen, studiert dirigieren.
Als Liebreich Anfang 30 ist, lädt ihn das berühmte Concertgebouw Orchester in Amsterdam ein. Er soll eine Sinfonie von Brahms dirigieren, aber der junge Mann stellt sich vor 120 traditionsbewusste Musiker und will, dass sie so klingen, wie er es sich vorstellt. Er sagte:
"Freunde, jetzt oder nie! Die haben gesagt: nie. Dann war ich draußen."
Kattowitz wurde zur UNESCO-Musikstadt gewählt
Später wird Liebreich trotzdem wieder eingeladen, hat gelernt, dass er sich auf manche Traditionen einlassen muss. Nur: nicht bis zur Selbstaufgabe.
Liebreich lebt mit Frau und Kind in München. Aber auf seine Stelle als Chefdirigent des wichtigsten Orchesters in Polen will er nicht verzichten. In Kattowitz, einer Bergarbeiter-Stadt. Der neue Konzertsaal wurde auf einer Grube gebaut, 1200 Meter geht es hinunter ins Gestein. Und wenn Liebreich an schönen Tagen auf den Förderturm fährt, kann er die Hohe Tatra sehen.
Liebreich ist in der Musik auf der Suche nach etwas, das er das Auratische nennt.
"Diese Bergbauern, weil die so tief drin sind, haben sie angefangen zu zeichnen, die Grubenarbeiter, ich habe so viele Mitarbeiter, die sagen, mein Vater war in der Grube, aber er hat auch Musik gemacht. Von daher kommt diese Musikkraft. Kattowitz wurde ja zur UNESCO-Musikstadt gewählt. Warum, ist doch ne Bergbauern-Stadt. Nein: Die waren immer wieder interessiert an der Musik. Da gibt es eine Spiritualität im Gestein, in der Erdphysis, das spüre ich extrem."
Als es endlich um Musik geht, heben sich die Herzen. Da zieht Liebreich doch seine Winterjacke aus. Das Nationale Sinfonieorchester, sagt er, kennt keine zeitlichen Grenzen. Es spielt nächtelang. Mit großen Jazzern. Und macht richtig gute Musik.
"Ich glaube, dass dieses Lebensgefühl gekommen ist und auch nicht so ohne weiteres vergeht."