Singen als "Friedensprozess"
Für Chorleiter Gotthilf Fischer dient Singen der Völkerverständigung. Nach jedem Krieg habe man gesehen, dass die Völker durch Musik wieder zusammengefunden hätten, sagte Fischer anlässlich der internationalen Chorolympiade in Graz. "Die Macht des Singens ist wohl die größte, die es gibt."
Jürgen König: "Singing together brings nations together", so lautet das Motto. Und warum das so ist, weiß wohl niemand besser als der Begründer der legendären Fischer-Chöre, Gotthilf Fischer, der vor zwei Jahren mit dem ersten Weltfriedenspreis der internationalen Chorolympiade ausgezeichnet wurde und auch in diesem Jahr mit seinem Chor in Graz wieder dabei ist. Guten Tag, Herr Fischer!
Gotthilf Fischer: Ich grüße Sie!
König: "Singing together brings nations together", das Motto der Chorolympiade in Graz. Inwiefern kann Chorsingen zur Völkerverständig beitragen?
Fischer: Singen ist die einfachste Norm, Frieden zu machen. Nach jedem Krieg war die Musik Nummer eins, die die Völker wieder zusammengeführt hat. Und beim Singen ist es so, du brauchst kein Instrument auspacken, da ist das Instrument eingebaut, so hat es der Herrgott gewollt. Und es ist erstaunlich, dass die Welt miteinander singt, obwohl sie ja in Unruhe ist. Also glaube ich, ist das gemeinsame Singen, wenn die ganze Welt singt, der größte Friedensprozess, den es überhaupt geben kann.
König: Die ganze Welt singt, das ist ja nun eher abstrakt. Inwieweit kommen diese Chöre aus 93 Ländern wirklich miteinander in Berührung, zum Beispiel in Graz?
Fischer: Man passt sehr auf, habe ich in China beobachtet. Ich habe beobachtet auch in Bremen, wie das vor sich geht. Sie dürfen sich in den Arm nehmen, Nordkorea und Südkorea. Aber dann nach fünf Minuten dürfen sie nicht mehr miteinander sprechen. Das ist schon schlimm genug. Aber in jedem Fall gibt es Örtchen und Ecken, wo sich die ganze Welt auch singend dann wiedertrifft, und da haben auch die Aufpasser keine Chance.
König: Sie haben schon als Jugendlicher Ihren ersten Chor gegründet, haben dann in Ihrem Leben ununterbrochen immer neue Chöre, neue Chorsänger zusammengeführt, wurden berühmt für die Fischer-Chöre. Warum hat Ihre Liebe zum Chorgesang ein Leben lang gehalten?
Fischer: Das ist eine geborene. Ich bin als kleines Kind, ich glaube, zwei Jahre oder zweieinhalb war ich, bin ich der Musik hinterhergerannt, habe so eine Blechtrommel gekriegt und habe mitgetrommelt. Was man mitgekriegt hat, kannst du nicht studieren. Ich habe dirigiert, da wusste ich noch gar nicht, was das ist. Ich kam dann ins Lehrerseminar und wir haben Hunger gehabt. Ja, und da haben wir gesungen. Dann mussten wir in den Westwald, da mussten da Schanzen und Gräben ausheben. Was haben wir gemacht? Wir haben gesungen. Und abends, wenn wir Hunger gehabt haben, sind wir rein ins Städtchen, haben gesungen und haben auch was zu essen gekriegt. Die Macht des Singens ist wohl die größte, die es gibt.
König: Gab es aber nie in Ihrem Leben Kräfte und Menschen, die gesagt haben, ich sage es mal ein bisschen salopp, Junge, lern mal was Anständiges?
Fischer: Doch, meine Mutter zum Beispiel.
König: Und was haben Sie geantwortet?
Fischer: Ja, es war ganz einfach so. Ich habe mich freiwillig gemeldet, ohne dass es meine Eltern wussten, auf der Lehrerhochschule und habe die Prüfung gemacht, weil die alle dagegen waren, dass ich was lerne. Und nach 14 Tagen kam ein Brief vom Seminar, Gotthilf Fischer hat die Prüfung bestanden auf die Lehrerhochschule. Mein Vater hat gegrinst und meine Mutter hat nach drei Minuten gesagt, ein Faulenzer bringen wir durch. Wenn du früher Musik gemacht hast, das war die größte, ja fast eine Schande. Da haben wir gearbeitet. Ich durfte auch nicht lernen tagsüber. Wenn es Nacht war, habe ich meine Hausaufgaben gemacht. Tagsüber wurde gearbeitet, fest mit der Hand.
König: Wenn Ihre Eltern doch hätten ahnen können, dass man Sie eines Tages den Herrn der singenden Heerscharen oder auch den Therapeuten der wunden Seelen nennen würde. Kommen Sie sich manchmal wie ein Therapeut vor?
Fischer: Nur als Mensch. Ich bin jeden Tag dankbar, wenn ich noch am Leben bleiben darf. Und ich habe mit meinen 80 Jahren überhaupt kein Problem, habe jeden Tag Termine und viele, viele Produktionen. Und da bin ich dankbar dem da oben, der uns da runtergeschickt hat und alles andere ist, glaube ich, Nebensache.
König: Apropos 80 Jahre. Wenn ich mir diese private Frage erlauben darf, wie schaffen Sie das physisch? Ich meine, schon einen Chor zu leiten, ist anstrengend.
Fischer: Das ist ganz einfach. Man freut sich von Termin zu Termin. Und man bildet sich auch was ein, dass alles schön ist, und vor allen Dingen, dem Streit aus dem Weg gehen, dummen Leuten aus dem Weg gehen, ist eine ganz wichtige Sache, was nicht ganz einfach ist, egal, wo man nun arbeitet. Aber ich bin der Meinung, dieses Geschenk, was ich mitgekriegt habe und gesund sein darf mit 80, das habe ich nur zu danken und da fällt die Arbeit leicht.
König: Sie haben ja mit Ihren Chören für die Verbreitung vor allem des deutschen Volkslieds in der Welt gesorgt. Woher kommt diese Liebe zum deutschen Lied?
Fischer: Wir als Kinder mussten am Tisch sitzen, der Papa hat die Konzertzitter genommen, da haben wir die alten Lieder gesungen, "Am Brunnen vor dem Tore", "Die Loreley". Wobei ich sagen muss, in Japan, die kommen ja auch mit einer starken Gruppe, mit mehreren Chören vielmehr, in Japan sind fünf deutsche Volkslieder Pflichtlieder. Die müssen die lernen in der Schule in deutscher Sprache.
König: Aha, welche?
Fischer: Zum Beispiel "Am Brunnen vor dem Tore", "Die Loreley".
König: Das ist Pflichtlied in Japan? Wahnsinn.
Fischer: Pflichtlied in Japan in deutscher Sprache.
König: Aha.
Fischer: Und dann das Heiligste von allen Liedern ist "Sah ein Knab ein Röslein stehen". Ich habe es in New York gemerkt, wir haben das angestimmt in einer Ecke, plötzlich standen die Japaner da, haben sich nicht mehr geregt und dann stürmischer Applaus und haben in Deutsch mitgesungen.
König: Das muss sehr bewegend gewesen sein.
Fischer: Ja, nicht nur das, sondern die zeigen uns, was das Volksliedwert ist.
König: Haben Sie mal darüber nachgedacht, das Repertoire zu erweitern, ich kam auf diese Frage als ich nachlas und mich dann noch erinnerte, dass Sie an der Berliner Loveparade im Technorhythmus Ihre Lieder unter die Leute gebracht haben.
Fischer: Ja, da war ich engagiert als Moderator und plötzlich war ich da im Mittelpunkt, ich konnte gar nichts dafür, und da habe ich gesagt, ich bin in Berlin, wir wohnen da, mein Freund Walter Scheel, der Bundespräsident, da singen wir mal da rein "Hoch auf dem gelben Wagen". Und ich habe es ein bisschen modern angepackt und die haben begeistert mitgemacht.
König: Aber dass Sie daraus jetzt noch weitere Taten folgen lassen würden, soweit ging die Liebe dann doch nicht?
Fischer: Nein, aber wo Menschen sind, wird gesungen. Und ich habe noch nie so viele fröhliche Menschen gesehen wie da. Die Randerscheinungen kommen halt, aber wie gesagt. Die Jugend weiß, da ist mal wieder was los wie auch bei der EM. Schauen wir hin, die singen sonst überhaupt nicht, aber da singen sie, bis sie umfallen.
König: Manche Kritiker werfen Ihnen vor, nur die heile Welt zu besingen. Was würden Sie antworten?
Fischer: Da würde ich antworten, Gott sei Dank, gibt es noch eine.
König: Da würden aber viele sagen, das ist ja durchaus nicht mehr so, das sei nur noch ein klischeehaftes Idyll, das da besungen wird und das letztendlich eine Illusion ist und dass es doch gewichtiger sei, auch mal wirklich auf die Schwierigkeiten hinzuweisen mit den Mitteln des Gesangs und eben gerade mit dieser großen Friedfertigkeit, die daraus spricht.
Fischer: Ich habe da ein schönes Beispiel gehabt. Wir haben bei einem Rocker in der Kirche zur Hochzeit gesungen.
König: Aha.
Fischer: Das war wirklich ein Schläger, der jedem eine drauf gehauen hat. Und wir haben einen Choral gesungen, der hat geheult wie ein kleines Kind. Nun frage ich mich, hat er keine Musik im Bauch oder liebt er die Musik, der liebt sie sehr, der tut nur so, als ob er sie nicht liebt. Die einfachen Melodien sind die stärksten. Es gibt Opern, da geht es ohne das Volkslied überhaupt nicht. Alles andere ist doch klar. Die Jugend geht ihren Weg, und ist alles gut. Aber das deutsche Volkslied, und das darf ich vielleicht noch sagen …
König: Bitte, bitte.
Fischer: Wie entsteht ein Volkslied? Alles ist zunächst nur eine Melodie. Und wenn sie lange gesungen wird, ist es ein Evergreen. Und wenn es vom Volk angenommen wurde, ist es ein Volkslied geworden. Man kann kein Volkslied schreiben, es kann ein Volkslied werden. Und das ist unsterblich.
König: Singen Sie eigentlich selber?
Fischer: Wenn es geht, nicht.
König: Warum das denn nicht?
Fischer: Nein.
König: Jetzt haben wir schon so viel auch die heilende Kraft des Singens, wie soll ich sagen, anklingen lassen. Auch nicht unter der Dusche, morgens, wenn keiner Sie hört?
Fischer: Nein, nein. Um Gottes willen. Ich habe einmal am Staatstheater vorgesungen.
König: Oh!
Fischer: Ja.
König: Das heißt, Sie waren schon mal ambitioniert?
Fischer: Ja fast. Und dann haben die gemeint, Sie singen so schön, sie brauchen nimmer kommen.
König: Kommen wir zurück auf die Chöre-Olympiade jetzt in Graz. 441 Chöre aus 93 Ländern werden teilnehmen. Auch Sie sind mit Ihrem Chor dabei. Wie kann man unter so vielen Chören überhaupt auffallen, wie eigene Akzente setzen?
Fischer: Ich bin ja praktisch mit der Friedensmesse, die wir damals bei Jimmy Carter uraufgeführt haben in Washington und mehrfach im Petersdom in Rom gesungen haben, bin ich mit meinen Chören mit einem ungarischen Orchester und Gastchören, singen wir die Friedensmesse. Und das ist außer dem Programm eigentlich. Das ist ein Sonderkonzert und wo mich am meisten drüber freue, wir gehen anschließend auf den Hauptplatz, auf den Riesenplatz, und laden die ganze Welt ein, um mit denen singe ich eine Stunde die schönsten Lieder der Welt.
König: Apropos Welt. Es werden China, Russland, Österreich und Deutschland mit über 170 Gruppen die meisten Chöre stellen. Danach kommt das Trio Indonesien, Ungarn und Kroatien mit je fast 90 Chören. Woher kommt das, dass manche Völker offenbar zum Chorgesang mehr neigen als andere, oder vielleicht stimmt das auch gar nicht? Wie sehen Sie das?
Fischer: Das stimmt ganz einfach, weil dort natürlich der Wohlstand nicht so groß ist wie bei uns. Es gibt Leute, die haben außer dem Singen gar nichts und die setzen sich jeden Abend auf die Bank und singen. Singen ist mit das Wichtigste, dass man sich wiederfindet. Und gerade die Länder, die Sie genannt haben, da wird wirklich am meisten gesungen. Und ich muss sagen, da haben wir viel, viel verloren durch unsere Möglichkeit, durch unseren Wohlstand, der nun mal da ist und noch mal möchte ich was sagen. Wir haben über 60 Jahre keinen Krieg, gab es noch niemals vorher in Deutschland. Wir haben nur dankbar zu sein.
König: Was unterscheidet einen chinesischen Chor von einem deutschen?
Fischer: Ganz einfach. Die passen viel mehr auf. Und ich habe mit ihnen einstudiert, wo ich unten war, "Freude schöner Götterfunken", und das hört sich dann so an: "Fleude flöner Flöterfunken". Aber die Melodie stimmt, was wollen mir mehr.
König: Gibt es noch andere internationale Spielarten, sagen wir mal, des Chorgesanges, die irgendwie hier sehr fremd wären?
Fischer: Ja, zum Beispiel wenn die Afrikaner singen, Kapstadt, der Chor, der hat ein Gewitter nachgemacht, aber so was von sensationell.
König: Machen Sie mal nach. Wie klang das?
Fischer: Das geht das "Humwumdungdungdungdedededungguwuwuwu" und dann kommt der Blitz und zack und so, dann wieder so, als ein richtiges Gewitter nachgezeichnet und das hat sich wieder verloren, verloren, verloren. Wir waren fasziniert. Die zeichnen die Natur nach im Gesang.
König: Und noch ein anderes Beispiel? Vielleicht ein südamerikanischer Chor?
Fischer: Die sind meistens verschlampt.
König: Verschlampt? Das ist aber grob. Ich bitte, das müssen Sie uns erklären, allen Südamerikanern, die uns jetzt zuhören.
Fischer: Die nehmen es zu lässig. Da gibt es die Profis, die sind grandios. Aber wenn man dort ein deutsches Lied anstimmt, auch bei den Deutschen, da muss man Geduld haben, und da geht es nur darum, dass man überhaupt singt.
König: Aber man muss sie doch aber daran messen, wie sie ihre eigenen Lieder singen?
Fischer: Ja schon, aber die passen auch auf, wenn man sie im Griff hat. Aber die nehmen es lässiger, die nehmen das gar nicht so wichtig. Abgesehen natürlich von den Berufschören, von den Kammerchören, von den Kirchenchören, die sind schon klasse dort. Aber das übrige Volk legt halt los und singt, hat auch was für sich.
König: Gibt es eigentlich ein Chorprojekt, Herr Fischer, dass Sie noch für sich wirklich, Sie, der Sie so viel gemacht haben, noch verwirklichen wollen?
Fischer: Einen großen Wunsch habe ich und Danke, dass Sie es mich fragen. Ich möchte am Heiligen Abend, egal, ob es dort neun Uhr ist früh oder abends acht Uhr, möchte ich "Stille Nacht, heilige Nacht" weltweit über die Medien dirigieren. Das wäre noch mein Wunsch in meinem Leben.
König: Und arbeiten Sie schon daran, Sie, der Sie doch immer sehr aktiv war?
Fischer: Ja, wir suchen schon, wo die Brücken sind und wie wir es machen können. Da sind wir schon eine ganze Weile dran. Und das mache ich auch noch, da weiß ich bestimmt. "Stille Nacht, heilige Nacht" singt die ganze Welt gleichzeitig.
König: Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen auf diesem Weg und gutes Gelingen jetzt in Graz. Man sagt, das sei vielleicht schon der größte Wettbewerb in der Geschichte der Chormusik, die fünften "World Choir Games Graz 2008", so heißt der Wettbewerb offiziell. Wie finden Sie diesen Namen?
Fischer: Sehr gut. Man muss ja ein bisschen international denken, man tritt ja auch international auf. Und bei Ihnen möchte ich mich sehr, sehr herzlich bedanken. Es hat mir viel Spaß gemacht, mit Ihnen zu sprechen.
König: Ein Gespräch mit dem Chorleiter Gotthilf Fischer über die fünfte Olympiade der Chöre in Graz. Vielen Dank, Herr Fischer!
Fischer: Auch so.
Das Gespräch mit Gotthilf Fischer können Sie bis zum 11. Dezember 2008 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio
Gotthilf Fischer: Ich grüße Sie!
König: "Singing together brings nations together", das Motto der Chorolympiade in Graz. Inwiefern kann Chorsingen zur Völkerverständig beitragen?
Fischer: Singen ist die einfachste Norm, Frieden zu machen. Nach jedem Krieg war die Musik Nummer eins, die die Völker wieder zusammengeführt hat. Und beim Singen ist es so, du brauchst kein Instrument auspacken, da ist das Instrument eingebaut, so hat es der Herrgott gewollt. Und es ist erstaunlich, dass die Welt miteinander singt, obwohl sie ja in Unruhe ist. Also glaube ich, ist das gemeinsame Singen, wenn die ganze Welt singt, der größte Friedensprozess, den es überhaupt geben kann.
König: Die ganze Welt singt, das ist ja nun eher abstrakt. Inwieweit kommen diese Chöre aus 93 Ländern wirklich miteinander in Berührung, zum Beispiel in Graz?
Fischer: Man passt sehr auf, habe ich in China beobachtet. Ich habe beobachtet auch in Bremen, wie das vor sich geht. Sie dürfen sich in den Arm nehmen, Nordkorea und Südkorea. Aber dann nach fünf Minuten dürfen sie nicht mehr miteinander sprechen. Das ist schon schlimm genug. Aber in jedem Fall gibt es Örtchen und Ecken, wo sich die ganze Welt auch singend dann wiedertrifft, und da haben auch die Aufpasser keine Chance.
König: Sie haben schon als Jugendlicher Ihren ersten Chor gegründet, haben dann in Ihrem Leben ununterbrochen immer neue Chöre, neue Chorsänger zusammengeführt, wurden berühmt für die Fischer-Chöre. Warum hat Ihre Liebe zum Chorgesang ein Leben lang gehalten?
Fischer: Das ist eine geborene. Ich bin als kleines Kind, ich glaube, zwei Jahre oder zweieinhalb war ich, bin ich der Musik hinterhergerannt, habe so eine Blechtrommel gekriegt und habe mitgetrommelt. Was man mitgekriegt hat, kannst du nicht studieren. Ich habe dirigiert, da wusste ich noch gar nicht, was das ist. Ich kam dann ins Lehrerseminar und wir haben Hunger gehabt. Ja, und da haben wir gesungen. Dann mussten wir in den Westwald, da mussten da Schanzen und Gräben ausheben. Was haben wir gemacht? Wir haben gesungen. Und abends, wenn wir Hunger gehabt haben, sind wir rein ins Städtchen, haben gesungen und haben auch was zu essen gekriegt. Die Macht des Singens ist wohl die größte, die es gibt.
König: Gab es aber nie in Ihrem Leben Kräfte und Menschen, die gesagt haben, ich sage es mal ein bisschen salopp, Junge, lern mal was Anständiges?
Fischer: Doch, meine Mutter zum Beispiel.
König: Und was haben Sie geantwortet?
Fischer: Ja, es war ganz einfach so. Ich habe mich freiwillig gemeldet, ohne dass es meine Eltern wussten, auf der Lehrerhochschule und habe die Prüfung gemacht, weil die alle dagegen waren, dass ich was lerne. Und nach 14 Tagen kam ein Brief vom Seminar, Gotthilf Fischer hat die Prüfung bestanden auf die Lehrerhochschule. Mein Vater hat gegrinst und meine Mutter hat nach drei Minuten gesagt, ein Faulenzer bringen wir durch. Wenn du früher Musik gemacht hast, das war die größte, ja fast eine Schande. Da haben wir gearbeitet. Ich durfte auch nicht lernen tagsüber. Wenn es Nacht war, habe ich meine Hausaufgaben gemacht. Tagsüber wurde gearbeitet, fest mit der Hand.
König: Wenn Ihre Eltern doch hätten ahnen können, dass man Sie eines Tages den Herrn der singenden Heerscharen oder auch den Therapeuten der wunden Seelen nennen würde. Kommen Sie sich manchmal wie ein Therapeut vor?
Fischer: Nur als Mensch. Ich bin jeden Tag dankbar, wenn ich noch am Leben bleiben darf. Und ich habe mit meinen 80 Jahren überhaupt kein Problem, habe jeden Tag Termine und viele, viele Produktionen. Und da bin ich dankbar dem da oben, der uns da runtergeschickt hat und alles andere ist, glaube ich, Nebensache.
König: Apropos 80 Jahre. Wenn ich mir diese private Frage erlauben darf, wie schaffen Sie das physisch? Ich meine, schon einen Chor zu leiten, ist anstrengend.
Fischer: Das ist ganz einfach. Man freut sich von Termin zu Termin. Und man bildet sich auch was ein, dass alles schön ist, und vor allen Dingen, dem Streit aus dem Weg gehen, dummen Leuten aus dem Weg gehen, ist eine ganz wichtige Sache, was nicht ganz einfach ist, egal, wo man nun arbeitet. Aber ich bin der Meinung, dieses Geschenk, was ich mitgekriegt habe und gesund sein darf mit 80, das habe ich nur zu danken und da fällt die Arbeit leicht.
König: Sie haben ja mit Ihren Chören für die Verbreitung vor allem des deutschen Volkslieds in der Welt gesorgt. Woher kommt diese Liebe zum deutschen Lied?
Fischer: Wir als Kinder mussten am Tisch sitzen, der Papa hat die Konzertzitter genommen, da haben wir die alten Lieder gesungen, "Am Brunnen vor dem Tore", "Die Loreley". Wobei ich sagen muss, in Japan, die kommen ja auch mit einer starken Gruppe, mit mehreren Chören vielmehr, in Japan sind fünf deutsche Volkslieder Pflichtlieder. Die müssen die lernen in der Schule in deutscher Sprache.
König: Aha, welche?
Fischer: Zum Beispiel "Am Brunnen vor dem Tore", "Die Loreley".
König: Das ist Pflichtlied in Japan? Wahnsinn.
Fischer: Pflichtlied in Japan in deutscher Sprache.
König: Aha.
Fischer: Und dann das Heiligste von allen Liedern ist "Sah ein Knab ein Röslein stehen". Ich habe es in New York gemerkt, wir haben das angestimmt in einer Ecke, plötzlich standen die Japaner da, haben sich nicht mehr geregt und dann stürmischer Applaus und haben in Deutsch mitgesungen.
König: Das muss sehr bewegend gewesen sein.
Fischer: Ja, nicht nur das, sondern die zeigen uns, was das Volksliedwert ist.
König: Haben Sie mal darüber nachgedacht, das Repertoire zu erweitern, ich kam auf diese Frage als ich nachlas und mich dann noch erinnerte, dass Sie an der Berliner Loveparade im Technorhythmus Ihre Lieder unter die Leute gebracht haben.
Fischer: Ja, da war ich engagiert als Moderator und plötzlich war ich da im Mittelpunkt, ich konnte gar nichts dafür, und da habe ich gesagt, ich bin in Berlin, wir wohnen da, mein Freund Walter Scheel, der Bundespräsident, da singen wir mal da rein "Hoch auf dem gelben Wagen". Und ich habe es ein bisschen modern angepackt und die haben begeistert mitgemacht.
König: Aber dass Sie daraus jetzt noch weitere Taten folgen lassen würden, soweit ging die Liebe dann doch nicht?
Fischer: Nein, aber wo Menschen sind, wird gesungen. Und ich habe noch nie so viele fröhliche Menschen gesehen wie da. Die Randerscheinungen kommen halt, aber wie gesagt. Die Jugend weiß, da ist mal wieder was los wie auch bei der EM. Schauen wir hin, die singen sonst überhaupt nicht, aber da singen sie, bis sie umfallen.
König: Manche Kritiker werfen Ihnen vor, nur die heile Welt zu besingen. Was würden Sie antworten?
Fischer: Da würde ich antworten, Gott sei Dank, gibt es noch eine.
König: Da würden aber viele sagen, das ist ja durchaus nicht mehr so, das sei nur noch ein klischeehaftes Idyll, das da besungen wird und das letztendlich eine Illusion ist und dass es doch gewichtiger sei, auch mal wirklich auf die Schwierigkeiten hinzuweisen mit den Mitteln des Gesangs und eben gerade mit dieser großen Friedfertigkeit, die daraus spricht.
Fischer: Ich habe da ein schönes Beispiel gehabt. Wir haben bei einem Rocker in der Kirche zur Hochzeit gesungen.
König: Aha.
Fischer: Das war wirklich ein Schläger, der jedem eine drauf gehauen hat. Und wir haben einen Choral gesungen, der hat geheult wie ein kleines Kind. Nun frage ich mich, hat er keine Musik im Bauch oder liebt er die Musik, der liebt sie sehr, der tut nur so, als ob er sie nicht liebt. Die einfachen Melodien sind die stärksten. Es gibt Opern, da geht es ohne das Volkslied überhaupt nicht. Alles andere ist doch klar. Die Jugend geht ihren Weg, und ist alles gut. Aber das deutsche Volkslied, und das darf ich vielleicht noch sagen …
König: Bitte, bitte.
Fischer: Wie entsteht ein Volkslied? Alles ist zunächst nur eine Melodie. Und wenn sie lange gesungen wird, ist es ein Evergreen. Und wenn es vom Volk angenommen wurde, ist es ein Volkslied geworden. Man kann kein Volkslied schreiben, es kann ein Volkslied werden. Und das ist unsterblich.
König: Singen Sie eigentlich selber?
Fischer: Wenn es geht, nicht.
König: Warum das denn nicht?
Fischer: Nein.
König: Jetzt haben wir schon so viel auch die heilende Kraft des Singens, wie soll ich sagen, anklingen lassen. Auch nicht unter der Dusche, morgens, wenn keiner Sie hört?
Fischer: Nein, nein. Um Gottes willen. Ich habe einmal am Staatstheater vorgesungen.
König: Oh!
Fischer: Ja.
König: Das heißt, Sie waren schon mal ambitioniert?
Fischer: Ja fast. Und dann haben die gemeint, Sie singen so schön, sie brauchen nimmer kommen.
König: Kommen wir zurück auf die Chöre-Olympiade jetzt in Graz. 441 Chöre aus 93 Ländern werden teilnehmen. Auch Sie sind mit Ihrem Chor dabei. Wie kann man unter so vielen Chören überhaupt auffallen, wie eigene Akzente setzen?
Fischer: Ich bin ja praktisch mit der Friedensmesse, die wir damals bei Jimmy Carter uraufgeführt haben in Washington und mehrfach im Petersdom in Rom gesungen haben, bin ich mit meinen Chören mit einem ungarischen Orchester und Gastchören, singen wir die Friedensmesse. Und das ist außer dem Programm eigentlich. Das ist ein Sonderkonzert und wo mich am meisten drüber freue, wir gehen anschließend auf den Hauptplatz, auf den Riesenplatz, und laden die ganze Welt ein, um mit denen singe ich eine Stunde die schönsten Lieder der Welt.
König: Apropos Welt. Es werden China, Russland, Österreich und Deutschland mit über 170 Gruppen die meisten Chöre stellen. Danach kommt das Trio Indonesien, Ungarn und Kroatien mit je fast 90 Chören. Woher kommt das, dass manche Völker offenbar zum Chorgesang mehr neigen als andere, oder vielleicht stimmt das auch gar nicht? Wie sehen Sie das?
Fischer: Das stimmt ganz einfach, weil dort natürlich der Wohlstand nicht so groß ist wie bei uns. Es gibt Leute, die haben außer dem Singen gar nichts und die setzen sich jeden Abend auf die Bank und singen. Singen ist mit das Wichtigste, dass man sich wiederfindet. Und gerade die Länder, die Sie genannt haben, da wird wirklich am meisten gesungen. Und ich muss sagen, da haben wir viel, viel verloren durch unsere Möglichkeit, durch unseren Wohlstand, der nun mal da ist und noch mal möchte ich was sagen. Wir haben über 60 Jahre keinen Krieg, gab es noch niemals vorher in Deutschland. Wir haben nur dankbar zu sein.
König: Was unterscheidet einen chinesischen Chor von einem deutschen?
Fischer: Ganz einfach. Die passen viel mehr auf. Und ich habe mit ihnen einstudiert, wo ich unten war, "Freude schöner Götterfunken", und das hört sich dann so an: "Fleude flöner Flöterfunken". Aber die Melodie stimmt, was wollen mir mehr.
König: Gibt es noch andere internationale Spielarten, sagen wir mal, des Chorgesanges, die irgendwie hier sehr fremd wären?
Fischer: Ja, zum Beispiel wenn die Afrikaner singen, Kapstadt, der Chor, der hat ein Gewitter nachgemacht, aber so was von sensationell.
König: Machen Sie mal nach. Wie klang das?
Fischer: Das geht das "Humwumdungdungdungdedededungguwuwuwu" und dann kommt der Blitz und zack und so, dann wieder so, als ein richtiges Gewitter nachgezeichnet und das hat sich wieder verloren, verloren, verloren. Wir waren fasziniert. Die zeichnen die Natur nach im Gesang.
König: Und noch ein anderes Beispiel? Vielleicht ein südamerikanischer Chor?
Fischer: Die sind meistens verschlampt.
König: Verschlampt? Das ist aber grob. Ich bitte, das müssen Sie uns erklären, allen Südamerikanern, die uns jetzt zuhören.
Fischer: Die nehmen es zu lässig. Da gibt es die Profis, die sind grandios. Aber wenn man dort ein deutsches Lied anstimmt, auch bei den Deutschen, da muss man Geduld haben, und da geht es nur darum, dass man überhaupt singt.
König: Aber man muss sie doch aber daran messen, wie sie ihre eigenen Lieder singen?
Fischer: Ja schon, aber die passen auch auf, wenn man sie im Griff hat. Aber die nehmen es lässiger, die nehmen das gar nicht so wichtig. Abgesehen natürlich von den Berufschören, von den Kammerchören, von den Kirchenchören, die sind schon klasse dort. Aber das übrige Volk legt halt los und singt, hat auch was für sich.
König: Gibt es eigentlich ein Chorprojekt, Herr Fischer, dass Sie noch für sich wirklich, Sie, der Sie so viel gemacht haben, noch verwirklichen wollen?
Fischer: Einen großen Wunsch habe ich und Danke, dass Sie es mich fragen. Ich möchte am Heiligen Abend, egal, ob es dort neun Uhr ist früh oder abends acht Uhr, möchte ich "Stille Nacht, heilige Nacht" weltweit über die Medien dirigieren. Das wäre noch mein Wunsch in meinem Leben.
König: Und arbeiten Sie schon daran, Sie, der Sie doch immer sehr aktiv war?
Fischer: Ja, wir suchen schon, wo die Brücken sind und wie wir es machen können. Da sind wir schon eine ganze Weile dran. Und das mache ich auch noch, da weiß ich bestimmt. "Stille Nacht, heilige Nacht" singt die ganze Welt gleichzeitig.
König: Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen auf diesem Weg und gutes Gelingen jetzt in Graz. Man sagt, das sei vielleicht schon der größte Wettbewerb in der Geschichte der Chormusik, die fünften "World Choir Games Graz 2008", so heißt der Wettbewerb offiziell. Wie finden Sie diesen Namen?
Fischer: Sehr gut. Man muss ja ein bisschen international denken, man tritt ja auch international auf. Und bei Ihnen möchte ich mich sehr, sehr herzlich bedanken. Es hat mir viel Spaß gemacht, mit Ihnen zu sprechen.
König: Ein Gespräch mit dem Chorleiter Gotthilf Fischer über die fünfte Olympiade der Chöre in Graz. Vielen Dank, Herr Fischer!
Fischer: Auch so.
Das Gespräch mit Gotthilf Fischer können Sie bis zum 11. Dezember 2008 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören. MP3-Audio