Sinn und Unsinn von Statistik

Mit der schweigenden Mehrheit ist nicht zu rechnen

Symbolfoto zur Statistik, aufgenommen an der Universität Jena.
Das am häufigsten verwendete Substantiv im Alltag der deutschen Sprache ist das Wort "Prozent", so Martin Tschechne. © dpa / picture alliance / Universität Jena
Von Martin Tschechne · 11.03.2016
Die Mehrheit der AfD-Anhänger ist gegen ein NPD-Verbot. 100 Prozent der deutschen Bundeskanzlerinnen sehen sich nicht verantwortlich für ein Erstarken der AfD. Mit Statistiken lässt sich viel belegen, wenn man kreativ mit der Bezugsgröße umgeht, meint der Publizist und Psychologe Martin Tschechne.
Haus und Hof, die Kanzlerin, Mittagspause oder Fußball: alles gut und schön. Aber das am häufigsten verwendete Substantiv im Alltag der deutschen Sprache ist das Wort "Prozent". Kein Scherz! Manchmal erzählt eben Statistik eine ganze Kulturgeschichte – über die Sehnsucht nach Gewissheit. Über die Autorität einer zahlenverliebten Wissenschaft. Und über die Rolle der Experten, die dem Wahlvolk die Zeichen der Zeit deuten wie einst die Schamanen.

Einfache Frage – falsche Antwort

Prozentpunkte und Mengenverhältnisse sind der Stoff, aus dem die Zeitungen ihre Nachrichten aufbauen, der Politiker frohlocken oder verzweifeln lässt, und über den die Leute auf der Straße die Köpfe schütteln. Erstaunlich dabei ist nur, wie viele derer, die sich von solchen Zahlen beeindrucken lassen, die ihre Entscheidungen darauf aufbauen und sich als Staatsbürger oder Konsumenten nach den angegebenen Werten richten – wie viele von ihnen beim Umgang mit Prozentzahlen so schnell ins Schleudern geraten.
Kleine Kostprobe gefällig? Einer von tausend: Wie viel ist das in Prozent? Die Risikoforschung – ein Gebiet, auf dem Mathematik und Psychologie einander begegnen – hat die scheinbar einfache Frage einer großen Zahl von Menschen gestellt. Und gibt das Resultat, wie es nun mal üblich ist, in Prozentwerten an: Nur 46 Prozent der Befragten in Deutschland wussten die richtige Antwort: Einer von tausend entspricht nullkommaeins Prozent. Klar. Sie und ich haben das gewusst. Aber mehr als die Hälfte lag daneben. Manche zuckten mit den Schultern, manche vermuteten: eine Person gleich ein Prozent. Und manche boten sogar zehn.

Mit Statistik Stimmung machen

Wer nun das kleine Beispiel nur einen Schritt weiter denkt, der landet mitten in der aktuellen Politik: zunächst bei den Umfragen, den Wahlprognosen und am Sonntag dann beim Resultat. Wenn nämlich in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Sachsen-Anhalt einer von tausend eine Partei wählt, die Sie oder ich vielleicht nicht gewählt hätten, dann entspricht das – wir erinnern uns – nullkommaeins Prozent. Wenn dieser eine Depp nur einer von hundert wäre, die sich auf den Weg ins Wahllokal gemacht haben, dann hätte seine eine Stimme ein viel höheres Gewicht, nämlich ein Prozent.
Die Bezugsgröße macht den Unterschied. Denn Statistik ist immer ein Vergleich: derer, die dafür sind, mit denen, die dagegen sind, vorher mit nachher oder – im Falle der Wahlen – der Vergleich einer Teilgruppe mit der Gesamtmenge. Bevor die Zahlen alle Einwände plattwalzen, sollte also immer gefragt werden, was da womit verglichen wird. Wie sich die Gesamtmenge zusammensetzt, wie groß sie ist, und ob der Vergleich überhaupt zulässig ist. Das ist besonders wichtig, wenn in der Zeit vor den Wahlen die Statistik dazu benutzt wird, einen Trend zu belegen, eine Stimmung wiederzugeben - und damit Stimmung zu machen.

Die schweigende Mehrheit

Gerade in Zeiten von Unsicherheit und Entscheidung bleibt es deshalb eine gute Idee, sich von der Flut der Zahlen nicht fortreißen zu lassen. Angela Merkel wankt – oder steht wie ein Fels in der Brandung. Die AfD drängt an die Macht – oder wird sich demnächst selber zerbröseln. Alles lässt sich mit denselben Zahlen belegen, so lange die Bezugsgröße im Unklaren bleibt. Denn natürlich klingt "67 Prozent aller Deutschen" viel großartiger als: "67 von hundert Hanseln, die am Dienstagvormittag nichts Besseres zu tun hatten, als zu Hause am Telefon zu warten, bis einer unserer Mitarbeiter sie nach ihrer Meinung fragte".
Die spannendste Zahl am Wahlabend wird also die Bezugsgröße sein: die Wahlbeteiligung. Denn wie es das Beispiel mit dem Einen von tausend gegenüber Einem von hundert schon zeigte: Wenn kaum einer zur Wahl geht, dann werden die wenigen, die es dennoch tun, ein relativ hohes Gewicht bekommen. Also: hohe Prozentwerte und viele Sitze im Parlament. Für radikale Parteien war das immer ein Vorteil; wer einfache Wahrheiten verspricht, der setzt seine Leute in Gang. Die anderen bleiben zu Hause und grübeln. Die schweigende Mehrheit. Die, mit denen nicht zu rechnen ist.

Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Als promovierter Psychologe weiß er, wie leicht sich Statistik missbrauchen lässt, um Ursachen vorzutäuschen oder tatsächliche Zusammenhänge zu verwischen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie DGPs zeichnete ihn mit ihrem Preis für Wissenschaftspublizistik aus. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).

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