Glosse
Ein Festessen zu Weihnachten in Krisenzeiten? Unbedingt, findet Autor Ijoma Mangold. © picture alliance / Shotshop / manaemedia
Schlemmen ohne Reue: Ein Aufruf zur sündigen Völlerei

Die Deutschen sind nicht gerade als große Genießer bekannt. Literaturkritiker und Autor Ijoma Mangold bedauert das und empfiehlt, sich den Sinnesfreuden am Neujahrsabend ohne Wenn und Aber hinzugeben.
Es ist traditionell und seit je die Aufgabe des Bundespräsidenten, in seiner Weihnachtsansprache auf die Krisenhaftigkeit der Zeitläufe und das Unheil in der Welt hinzuweisen. In brennender Sorge und mit bestürzter Stimme bringt er den moralischen Ernst der Lage zum Ausdruck, um dann jedoch im nächsten Zug wie in einem überraschenden Akt der Nachsicht seinen Schäfchen doch noch die Lizenz zum Feiern zu gewähren.
Die Kerzen am Weihnachtsbaum dürfen brennen, die Champagnerkorken dürfen knallen, die Gans darf im Ofenrohr knusprig werden, der Hummer darf lebendigen Leibs ins kochende Wasser gelassen werden – solange wir uns nur des Leids anderer Menschen und unserer eigenen Privilegiertheit bewusst bleiben. Sagen wir so: Es ist ein fairer Deal, auf den sich die meisten Menschen in unseren Breitengraden gerne einlassen.
Wer jedoch die Augen vor dem Elend verschließt und frei von Zerknirschung sich dem Genuss hingibt, der gilt als frivol. Das schlechte Gewissen steht immer mit auf dem Speiseplan. Diese pietistische Tradition ist uns Deutschen tief eingeimpft. So wird der Genuss zwischen den Jahren immer als ein "Trotzdem" adressiert: Trotz der schlimmen Weltzustände erlauben wir uns ein wenig Genuss. Aber nicht zu viel, das wäre Luxus, das wäre maßlos.
Luxusprodukte sind die nachhaltigen
Nun lässt sich aber eine überraschende dialektische Volte im Genuss von Luxus beobachten. Während sonst die Reichen überproportional viel CO2 emittieren und also besonders viel auf dem Kerbholz haben, ist es in der Welt der Kulinarik umgekehrt: Gerade die teuren Luxusprodukte sind die nachhaltigen. Und zwar weil sie das Ergebnis von kompromissloser Handwerklichkeit sind. Handwerklichkeit hat etwas mit Zeit zu tun. Zeit wiederum ist heutzutage – auch das ist schon fast eine Phrase – der größte Luxus, weil das kostbarste Gut, denn sie/es ist unerbittlich endlich: Man kann Zeit nicht kaufen, man kann sie nicht vermehren. Anders gesagt: Handwerklichkeit ist nicht skalierbar.
Werden wir konkret: Im Frischeparadies zum Beispiel kann auch der Laienkoch die Produktqualitäten der Spitzengastronomie erwerben. Nicht nur zur Weihnachtszeit gibt es hier bei Seezunge und Wolfsbarsch den mit dem Angelhaken gefangenen Fisch. Beim üblichen Wildfang drücken die neu einströmenden Fische die bereits im Netz gefangenen über lange Zeiträume hinweg platt und senken damit die Fleischqualität. Diese edelste Kategorie des Fisches wird hingegen einzeln am Angelhaken aus dem Meer gezogen. Wie zum Beweis dieses individuellen, nicht-skalierbaren Vorgangs steckt dem Branzino im Frischeparadies deshalb noch der Angelhaken im Maul – und der halb hingerissene, halb skeptische Kunde fragt sich, ob das wirklich der Originalhaken ist, mit dem auch auf hoher See gearbeitet wurde.
Sündige Völlerei als Refugium der Frivolität
Oder der Weinhändler des Vertrauens, der seiner Kundschaft teure Festtagstropfen ans Herz legt, große Gewächse und Jahrgangschampagner. Ob von der Mosel oder aus dem Priorat: Die aufregendsten Weine kommen oft von Lagen, die so steil sind, dass kein Traktor mehr zum Einsatz kommen kann und der Winzer deshalb ein Pony vor den Pflug spannen muss. Auch hier: nicht-skalierbare Handwerklichkeit.
Oder, drittes Beispiel, der Rehrücken, ein klassisches Festtagsgericht. Wer Massentierhaltung ablehnt, kann immer noch mit gutem Gewissen einen Rehrücken verzehren, denn das Reh wurde in freier Wildbahn erlegt – auch das ein Vorgang der Handarbeit, der sich nicht skalieren lässt.
Nur für die Gänsestopfleber gilt diese rettende Dialektik, die aus einem Luxusprodukt ein moralisches Vorzeigeobjekt macht, nicht. Stürzen wir uns also auf sie in sündiger Völlerei als dem letzten Refugium der Frivolität!