"Wir können nicht permanent zufrieden sein"
Glück, Unglück und Verantwortung – das sind die Themen des Philosophen und Bestsellerautors Wilhelm Schmid. "Wir fühlen Sinn und uns sinnerfüllt, wenn wir in starken Beziehungen leben", sagt er im Tacheles-Interview.
Deutschlandradio Kultur: Professor Wilhelm Schmid ist Philosoph und Bestsellerautor. Herr Schmid, schön, dass Sie die Zeit zwischen den Jahren gefunden haben und zu uns gekommen sind. Herzlich willkommen.
Wilhelm Schmid: Sehr gerne.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schmid, Lebenskunstphilosophie, das ist Ihr zentrales Thema. Lebenskunstphilosophie hört sich irgendwie sehr bedeutend und schwer an, ganz anders als Dolce Vita oder Savoir vivre. Ist das was Deutsches, mit dem Sie sich beschäftigen?
Wilhelm Schmid: Auf jeden Fall natürlich was ganz Wichtiges und teilweise was Deutsches, insofern die Deutschen die Denker sind und auch die Grübler und insofern auch nicht so was Schweres, weil, letzten Endes soll es natürlich darum gehen, ein leichtes und reiches Leben zu ermöglichen.
Deutschlandradio Kultur: Aber schon ein Gesamtkunstwerk. Lebenskunstphilosophie, das ist das Ganze, das Große – oder nicht?
Wilhelm Schmid: Ja, ich hoffe, dass es was Großes ist. Ich arbeite seit Jahrzehnten daran und hoffentlich noch Jahrzehnte – einerseits etwas, was den einzelnen Menschen betrifft in seiner Lebenswirklichkeit, nicht wie wir sie erträumen, sondern wie wir sie vorfinden in ihrer Alltäglichkeit und mit all den Herausforderungen, die Beziehungen auch bieten, und andererseits, damit klingt schon an, nicht allein für sich, sondern in Beziehung mit anderen und letzten Endes natürlich noch darüber hinaus.
Deutschlandradio Kultur: Ob wir das alles schaffen in den nächsten 25 Minuten, das weiß ich nicht. Deshalb versuche ich noch mal kurz dazwischen zu gehen. Als ich ins Internet geschaut habe, einfach mal den Namen Wilhelm Schmid eingegeben habe, wissen Sie, was mir da passiert ist?
Wilhelm Schmid: Keine Ahnung.
Deutschlandradio Kultur: Da findet sich sofort: "Wilhelm Schmid: Glück, -- Kostenlose Lieferung ab 20 Euro". Da dachte ich, das ist ja relativ einfach.
Wilhelm Schmid: Also, kostenlose Lieferung kann ja nur die Bücher betreffen. Die liegen in der Regel auch unterhalb von 20 Euro.
Deutschlandradio Kultur: Die Bücher, die Sie geschrieben haben, gehen ja weiter. Es geht um Titel wie "Dem Leben einen Sinn geben“ oder "Die Liebe neu erfinden“. Und diese Bücher sind nicht nur, obwohl Sie sagten, Lebenskunstphilosophie wäre vielleicht auch was Deutsches, in deutscher Sprache erschienen. Ist die ganze Welt auf der Suche nach Glück? Sind wir irgendwie völlig aus den Fugen geraten?
Wilhelm Schmid: Wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass die Lebenswirklichkeit sehr vieler Menschen auf diesem Planeten eine ganz andere ist. Und Menschen, die um das Leben kämpfen und zusehen müssen, wovon sie ihre Familie ernähren, die werden nicht nach Glück fragen. Daher bin ich ja auch ein bisschen skeptisch gegenüber der Frage nach Glück. Es ist eine legitime Frage. Natürlich soll jeder Mensch so viel Glück in seinem Leben haben wie möglich. Aber es geht im Leben nicht allein nur um Glück. Es geht schon auch noch um ernstere Angelegenheiten. Und Lebenskunst möchte all das im Blick haben – das Glück, aber auch das Unglücklichsein und nach Möglichkeit die Verbesserung von Zuständen, die nicht nur der Einzelne für sich unternehmen kann, sondern für die wir eine Gemeinschaft brauchen.
Deutschlandradio Kultur: Aber um nochmal auf dieses Phänomen zurückzukommen: Fast jedes zehnte Buch, das vor und nach Weihnachten geschenkt oder getauscht wurde, beschäftigt sich irgendwie mit der Frage nach Sinn. Jedes zehnte Buch! Da kann man sich natürlich schon fragen: War das früher anders, als wir möglicherweise noch tiefer in Familien, in Religion, in Ideologien eingebunden waren und eher wussten, wo es langgeht? Leben wir heute in einer Zeit der Auflösung?
Wilhelm Schmid: Ja, natürlich hat das mit den Zeitumständen zu tun. Wir leben in moderner Zeit. Das tun nicht alle Menschen auf dem Planeten. Und wir kennen mittlerweile besser die Konsequenzen der Moderne. Moderne ist Entwicklung, ist Modernisierung, Verbesserung von Lebensumständen. Das hat in den letzten Jahrzehnten stattgefunden. Jetzt bemerken wir allerdings auch, dass Modernisierung mit Kosten verbunden ist. Und die Kosten sind Auflösung von verlässlichen Beziehungen, die einst durch Religion, durch Tradition, durch Konvention gewährleistet worden sind, sagen wir aber ruhig auch „erzwungen“ worden sind. Insofern erleben wir sehr viel mehr Freiheit. Die Freiheit bringt aber auch mit sich, dass wir viel mehr als jemals sagen müssen: Und warum, wozu lebe ich? – Und dann suchen Menschen Rat in Büchern.
Deutschlandradio Kultur: Viele Menschen leben in Singlehaushalten, wollen aber in Gemeinschaften sich erleben, Nähe empfinden und kriegen es nicht hin. Was kann man da tun?
Wilhelm Schmid: Das ist die große Frage, die ich in dem Buch behandelt habe "Dem Leben Sinn geben“. Und ich bin nicht ein Philosoph, der nur analysiert, sondern ich bin auch einer, der Vorschläge macht, möglichst lebenspraktische Vorschläge, erstmal zur Einsicht zu kommen. Sinn hat sehr viel mit Beziehung zu tun. Wir fühlen Sinn und uns sinnerfüllt, wenn wir in starken Beziehungen leben. Die gibt es allerdings heute nicht mehr von außen. Also, die werden nicht mehr von außen uns serviert, wie das mal der Fall war, sondern wir müssen uns selbst darum kümmern. – Ob wir wollen oder nicht, es ist so.
Bekennen wir uns besser dazu und eignen wir uns das Handwerkszeug an. Das Handwerkszeug heißt in dem Fall: Wenn du Freundschaft haben willst, dann hast du die nicht einfach so, sondern musst dich auch kümmern sie zu haben. Wenn du Familie haben willst, die kommt nicht mehr von selbst, sondern die kommt, wenn du dich drum kümmerst und sie dann auch so pflegst, dass sie auch bestehen bleibt. Beziehungen sind heute von allen Seiten bedroht.
Menschen lernen erst, wenn es ernst wird
Deutschlandradio Kultur: Also, wir sollten eher Beziehungsarbeit leisten und uns nicht darauf verlassen, dass das Glück irgendwann an der Tür anklopft.
Wilhelm Schmid: Es klopft vor allem dann an, wenn wir auf dem Sofa in aller Ruhe sitzen, eben genau dann nicht. Wir müssen uns selber drum kümmern. Aber viele Menschen verhalten sich noch so, setzen sich aufs Sofa und warten, dass das Glück anklopft.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir sagen, wir wollen uns wohlfühlen, wir wollen in einer Gemeinschaft leben. Wir wollen das im 21. Jahrhundert hier in Europa tun. Dann gibt es die eine Möglichkeit, dass der Einzelne sich darum kümmern muss. Wie viel kann er tun? Und wie viel ist es eigentlich auch eine Aufgabe des Gemeinwesens insgesamt, der Gemeinschaft, der Gesellschaft, um die Voraussetzung zu schaffen, damit das individuelle Glück oder Wohlfühlen oder diese Gemeinschaft wieder aufleben kann?
Wilhelm Schmid: Erstmal ist mir sehr, sehr wichtig zu sagen, es geht im Leben nicht nur ums Wohlfühlen, sondern auch ums Unwohlgefühl und sehr häufig auch ums Unglücklichsein. Das kann ein Mensch sich nicht aussuchen. Und wir können auch nicht einfach da einen Lichtschalter umlegen, damit alles wieder reines Wohlgefühl ist. Menschen haben mit Krankheiten zu kämpfen und Menschen haben mit zerbrechenden Beziehungen zu kämpfen. Das macht sie nicht glücklich, sondern unglücklich.
Deutschlandradio Kultur: Sie lernen aber auch daraus, oder?
Wilhelm Schmid: Ja. Sicherlich ist es sinnvoll zu lernen, aber in aller Regel braucht man mindestens zwei, drei Anläufe bis man was lernt. Und eigentlich auch nur dann, wenn es ganz, ganz hart und ernst wird, dann beginnen Menschen zu lernen – und ja, gerade zum Beispiel auch beim Unglücklichsein.
Es ist gut, wenn wir dann in einer Gesellschaft leben, die einen Menschen nicht mit seinem Unglücklichsein allein lässt, wenn jemand beispielsweise arbeitslos wird, ihn nicht mit diesem Problem allein lässt, sondern Rahmenbedingungen schafft.
Das ist dann Sozialgesetzgebung und hoffentlich noch einiges darüber hinaus. Das ist, was Politik leisten kann. Da geht es nicht um Wohlgefühl. Das Wohlgefühl zu garantieren, wird niemand können, sondern Menschen vor schlimmen Risiken des Lebens halbwegs zu bewahren und sie aufzufangen.
Deutschlandradio Kultur: Aber irgendwie scheint doch der Zeitgeist etwas anders zu sein. Wenn ich Sie frage: Wie geht es Ihnen? Dann erwarte ich, dass Sie mir sagen, ja, mir geht’s ganz gut. Und was macht die Familie? Auch alles prima. – Ich brauche schon eine Intimität mit meinen Nächsten, damit ich sagen kann, nein, mir geht’s nicht gut, mir geht’s schlecht.
Wilhelm Schmid: Wir bräuchten vor allem eine Atmosphäre in der Gesellschaft, in der Menschen sich das auch wieder trauen zu sagen, mir geht’s gerade nicht gut. Denn die Atmosphäre gegenwärtig ist eher so, dass keiner sich das zu sagen traut. Denn dann sagt der andere, ah, der zieht mich ja runter, und verflüchtigt sich ganz schnell. Das geht nicht. In Gesellschaft zu leben, heißt für einander einzustehen, natürlich vor allem die Menschen, die sich kennen und sehr gut kennen. Aber ich hoffe das auch, dass wir das als Lebenskunst begreifen, ein offenes Ohr zu haben für Menschen, die wir gar nicht kennen, die aber trotzdem in Problemen sind, und dann nicht davonzulaufen.
Deutschlandradio Kultur: Also, wenn es beispielsweise die kleinen Dorfgemeinden von früher heute nicht mehr gibt und die das nicht mehr leisten können, wenn teilweise diese religiösen Bindungen oder die Bindungen in Vereinen sich auflösen, weil die Individualisierung immer mehr Raum nimmt – 40 Prozent der Deutschen leben in Singlehaushalten –, wie wollen Sie da wieder dieses Netz binden? Wer kann das tun?
Wilhelm Schmid: Das können Freundschaftskreise tun. Kein Singlehaushalt ohne starken Freundschaftskreis, das scheint mir so zu sein. Und das machen die Menschen ja auch gut so, wenn sie sich da selber drum kümmern und das als Lebenskunst zu begreifen. Und bitte auch, wenn es um die politische Dimension also der gesamten Gesellschaft geht, auch das als Lebenskunst zu begreifen, dass die politische Dimension in einer demokratischen Gesellschaft nicht vom Himmel fällt, sondern wir sind’s, die Wähler, die Bürger, die sich Gedanken um etwas machen und wenigstens unsere Stimme abgeben, die anzeigen soll, in welche Richtung meiner Meinung nach die Gesellschaft gehen soll, und damit einverstanden sind, dass nicht hundert Prozent der Gesellschaft genau dieselbe Richtung haben wollen.
Natürlich gibt es unterschiedliche Bestrebungen und auch gegensätzliche. Daher ist es sehr wohl eine Tugend, Kompromisse zu schließen, nicht das den Politikern immer vorwerfen und glauben, Politik ist auch so eine ganz leichte Tätigkeit. Wer das glaubt, dem möchte ich gerne anraten, gehe doch selber mal in so einen Ortsverein.
Deutschlandradio Kultur: Aber interessant wäre es ja, wenn man Ihren Gedanken weiterspinnt in Sachen Politik und man sagt, diese Individualisierung oder Vereinzelung im Negativen entgegen zu wirken, bedeutet auch, wir müssen, wenn wir eine alternde Gesellschaft sind, auch beispielsweise in der Architektur anders denken. Wir müssen Altersheime schaffen, wo wir vielleicht kommunikativer miteinander umgehen können – schon alleine auch von der Bausubstanz her, dass es kleine Gruppen sind, wo man sich kennt. Also, man könnte dann, wenn man dieses als Leitgedanken reinnimmt, als zentrale Aufgabe für die nächsten 20, 30 Jahre, müsste man das doch durchdeklinieren in viele Bereiche, die auch die Politik betrifft.
Wilhelm Schmid: Selbstverständlich, aber erstmal immer ansetzen bei sich selber. Das tun ja auch sehr, sehr viele Menschen. Deswegen ändert sich ja gerade auch die Architektur des Älterwerdens. Viele älter werdende Menschen kümmern sich darum, dass sie andere Gleichgesinnte finden und mit denen gemeinsam kleinere oder größere Wohnanlagen bauen, in denen entweder die Älteren unter sich oder auch Generationen wieder miteinander gemischt werden. Es wird immer häufiger, wenn Altenheime gebaut werden, dass auch mit geplant wird, einen Kindergarten da einzurichten.
Denn nichts ist für die älter Werdenden schöner, als mit Kindern wieder Umgang zu haben. Und nichts ist für Kinder schöner, als mit älter werdenden Menschen zu tun zu haben.
"Das Leben atmet"
Deutschlandradio Kultur: Also Glück, wenn wir auch nicht nur über Glück reden wollen, oder Zufriedenheit ist immer nur in Verbindung auch mit Menschen denkbar oder in der Regel so denkbar, Ihrer Meinung nach?
Wilhelm Schmid: Ich beharre darauf, es geht im Leben nicht nur um Zufriedenheit.
Deutschlandradio Kultur: Also, jetzt müssen wir noch mal genauer werden.
Wilhelm Schmid: Wir können nicht permanent zufrieden sein. Wir müssen auch mit den Zeiten der Unzufriedenheit zurechtkommen. Die sind normal. Das Leben atmet. Und ein Mensch muss atmen können auch in diesen Dingen, zwischen Zeiten der Zufriedenheit und Zeiten der Unzufriedenheit, zwischen Zeiten des Sich-glücklich-Fühlens und Zeiten des Sich-unglücklich-Fühlens.
Deutschlandradio Kultur: Also ist es eine Bewusstseinsfrage. Wenn ich mir darüber im klaren bin, dass es beide Seiten der Medaille gibt in meinem Leben und ich nicht immer irgendwas hinterher renne, was ich sowieso nicht erreichen kann, dann geht’s mir besser? Ist das der Punkt?
Wilhelm Schmid: Ich spreche ja gerne vom Glück der Fülle, wenn es um die Frage geht, was ist eigentlich Glück. Glück kann sehr vieles sein. Aber das, was heute ganz wenig in Betracht gezogen wird, ist das Glück der Fülle. Ich meine mit der Fülle die Fülle des Lebens, die sich zwischen Gegensätzen spannt. Kein Leben existiert nur auf der positiven Seite, immer nur gesund, immer nur Erfolg, immer nur Spaß. Es gibt immer auch die andere Seite. Und das größte Glück resultiert daraus, einverstanden sein zu können mit dem gesamten Leben. – Dieses Glück ist nicht mehr bedroht. Denn dann kann ich auch die negativen Seiten integrieren ins Leben, hoffentlich gemeinsam mit anderen.
Deutschlandradio Kultur: Die Fülle des Lebens kommt wahrscheinlich von alleine, wie Sie es beschrieben haben. So funktioniert das Leben nun einmal. Das ist die Frage von philosophischer Seite aus, wie nimmt man dieses dann an, aber auch die Frage, welche Orientierung, welchen Sinn gibt man sich insgesamt auf diesem Weg. Denn nur die Fülle anzunehmen, das ist dann diese Beliebigkeit wie im Warenhaus. Dann kommt es halt so und dann gibt’s mal schlechte Bananen und dann ist es irgendwie auch egal.
Wilhelm Schmid: Menschen, die negative Dinge erfahren, denen ist gar nichts egal. Insofern hat diese Fülle nicht mit irgendwelcher Beliebigkeit zu tun, sondern mit der Härte des Lebens, die wir nicht ausschalten können. Den Traum träumen sehr viele moderne Menschen, denn es ist doch alles technisch machbar, glauben die Menschen. Aber es wird mit aller Technik der Welt nicht möglich sein, diese Dinge restlos abzuschaffen.
Die entscheidende Frage ist dann: Kann ich das akzeptieren? Ich muss auch nicht alles akzeptieren. In einer Beziehung geht es zum Beispiel darum zu akzeptieren, dass es Ärger gibt. Ich muss aber nicht jeden Ärger akzeptieren, nicht den Ärger, der mich entwürdigt und das auf Dauer.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, ich muss meinen eigenen Kompass finden und die Geschwindigkeit gehen, die mir entspricht.
Wilhelm Schmid: Dem Leben Sinn geben, heißt sicherlich immer auch, sich für sich selber klar zu werden, warum und wozu zum Beispiel Beziehung. Ist das eine Beziehung, weil mir nichts Besseres eingefallen ist? Oder ist das eine Beziehung, weil ich zu der Meinung gekommen bin, das ist der richtige Mensch, mit dem ich zusammenbleiben möchte? Und dann tue ich auch sehr viel für diese Beziehung. Dann nehme ich eventuell auch mehr Ärger in Kauf als bei so einer flüchtigen Beziehung.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schmid, es gibt Glücksforscher, die sagen Nelson Mandela beispielsweise sei ein glücklicher Mensch gewesen, obwohl er Schicksalsschläge hatte, die enorm waren – lange Jahre im Gefängnis. Und der Grund sei der, dass er mit Optimismus und Lebensfreude durchs Leben gegangen ist.
"Menschen wollen sich zugehörig fühlen"
Wilhelm Schmid: Wenn ich den Berichten trauen darf, die ich nun gelesen habe, ist er auch nicht jeden Tag mit Optimismus und Lebensfreude und auch nicht immer sehr freundlich mit seinen Mitmenschen umgegangen. Natürlich, auch dieses Leben musste atmen können. Und offenbar konnte er so gut atmen, dass er auch diese stark negative Erfahrung, die er im Gefängnis gemacht hat, integrieren konnte in sein Leben.
Das ist eine Frage der geistigen Haltung eines Menschen, die sicherlich – ich vermute – bei Mandela sehr stark von seiner Herkunft bestimmt war, die aber ein Mensch sich auch überlegen und aneignen kann. Mit Übung sich etwas anzueignen, das ist ein Bestandteil von Lebenskunst.
Deutschlandradio Kultur: Könnte es auch sein, dass jemand diesen Optimismus hat, wenn er ein Ziel hat, wenn er weiß, was er tut und warum. Beispielsweise für Mandela war es lange Zeit, er will diese Rassendiskriminierung aufheben.
Wilhelm Schmid: Ja, ohne jeden Zweifel, ein großes Lebensziel sich zurechtzulegen, das hilft vieles durchzustehen an Schwierigkeiten und problematischen Erfahrungen. Was habe ich für eine Idee von meinem Leben? Was habe ich für eine Idee vom gemeinsamen gesellschaftlichen Leben? Ich persönlich habe die Idee, dass unsere Gesellschaft eine ökologische Gesellschaft werden sollte, in Eins damit auch eine sozialere Gesellschaft als es gegenwärtig ist. – Da können Sie natürlich sagen, das ist nun keine absolut umstürzende Idee. Ja, das ist richtig, aber ich sehe uns bisher auch noch nicht auf dem besten Weg dazu.
Deutschlandradio Kultur: Dann können wir mal vielleicht noch auf die Frage eingehen: Diese Sinnsuche ist das eine. Das andere ist Mitbestimmung, mit dabei zu sein. Wenn wir diese Mitgliederbefragung der Sozialdemokraten zum Koalitionsvertrag nehmen und die Berichterstattung, dann konnte man von der Basis von vielen Stimmen hören, dass die richtig stolz und zufrieden waren, dass sie gefragt wurden.
Ist das ein Element, das auch für Wohlbefinden – wenn wir mal Glück weglassen – elementar ist?
Wilhelm Schmid: Das ist sicherlich was, was die nächsten Jahre und Jahrzehnte noch viel mehr an Bedeutung gewinnen wird. Menschen wollen sich zugehörig fühlen. Menschen wollen sich ernst genommen fühlen. Das beginnt übrigens nicht erst in einer Partei, sondern das beginnt schon zu Hause. Da möchten die Kinder sich auch zugehörig fühlen und wollen mal gehört werden. Was sollen wir am Sonntagnachmittag machen? Da haben die Kinder oft eine sehr gute Idee.
Und dann geht das weiter. Dann betrifft das das Viertel, in dem wir leben, oder das Dorf, in dem wir leben. Ich fühle mich stärker zugehörig, wenn ich da auch mal gefragt werde, was soll mit dieser Straße gemacht werden, sollen da Blumen gepflanzt werden, sollen da Bäume gepflanzt werden, und auch gefragt werde: Was kann ich dafür tun? Ich habe auch eine Baumspende mittlerweile gemacht und laufe dann an Straßenbäumen vorbei und kann mir sagen, ich habe was dafür getan, dass diese Stadt lebenswerter wird.
Deutschlandradio Kultur: Nun gibt es im Bhutan, das ist dieses kleine Königreich im Himalaja, eine nationale Verfassung. Und im Artikel 9 Absatz 2 steht: „Der Staat bemüht sich die Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Bruttoinlandsglück ermöglichen.“ Da wurden Leute befragt und die haben einfach gesagt, was sie haben möchten von guter Bildung, von Infrastruktur, von Natur, dass sie sich wohl fühlen. Und das ist die Messlatte für gutes Regieren. – Hätte man sowas vielleicht auch mal bei uns irgendwann in den Koalitionsvertrag reinschreiben können?
Wilhelm Schmid: Für mich ist die Messlatte für gutes Regieren in Bhutan: Wie geht’s eigentlich den nepalesischen Einwanderern dort? Gilt für die auch dieses Glück? Soweit ich weiß, nein. Die müssen die Nationaltracht von Bhutan anziehen, die ihrer Tradition nicht entgegenkommt. Also, insofern verhält sich das auch in Bhutan anders. Ich halte das eher für einen tollen Reklametrick und der scheint auch sehr gut zu funktionieren. Jetzt fliegen alle von hier dorthin, um sich dieses lebendige Glück anzusehen. Und kaum einer denkt darüber nach, was ist das eigentlich für ein Glück. Das ist das buddhistische Glück. Und nichts davon ist im Westen in der Moderne realisierbar. Denn das würde zum Beispiel heißen: unendliche Hinnahmefähigkeit gegenüber negativen Dingen. – Das ist genau das, was westliche Menschen gar nicht akzeptieren wollen.
Ich bin nicht glücklich darüber, dass das Glück nun unbedingt in die Politik einziehen muss. Ich halte das für zynisch geradezu, solange es Menschen gibt, die keine Arbeitsstelle haben. Und solange es auf der Welt Menschen gibt, die Hunger leiden, reden wir von Glück in der Politik? Das kann ja wohl nicht der Sinn der Sache sein.
Glück braucht grundsätzliche Lebensbedingungen
Deutschlandradio Kultur: Dann waren Sie sicherlich auch nicht so besonders glücklich darüber, dass die Vereinten Nationen zum ersten Mal am 20. März dieses Jahres den Welttag des Glücks ausgerufen haben. Da könnte man auch sagen, also, brauchen wir den?
Wilhelm Schmid: Ist jeder Tag im Jahr mittlerweile zehnfach besetzt? Jeder Tag ist irgendein besonderer Tag. Ich schätze mehr den Tag der Philosophie, der auch einer dieser Welttage ist, bemerke aber, dass nicht sonderlich viele Menschen an diesem Tag dann philosophischer werden und mal in sich gehen und nachdenken über ein paar wichtige Dinge in ihrem Leben.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem können Sie sich vielleicht freuen, denn die Vereinten Nationen sagten, mit diesem Welttag des Glücks wollen sie eigentlich darauf hinweisen, dass man zur Zufriedenheit mehr braucht als nur Wachstum und Umsatz. Da wären wir ja bei Ihrer Nachhaltigkeit und Ökologie, wo Sie sagen, das ist ein zentrales Element, das für Zufriedenheit und Wohlbefinden notwendig ist.
Wilhelm Schmid: Ich setze mehr darauf, die SOS-Kinderdörfer zu unterstützen, die tausende von Kindern auf dieser Welt auffangen in schwierigster Lage, wenn sie ihre Eltern verloren haben oder wenn sie unter schlimmen Bedingungen groß werden müssen. Da geht’s zuerst mal nicht so groß um Glück und Zufriedenheit, sondern darum, die grundsätzlichen Lebensbedingungen zu schaffen.
Deutschlandradio Kultur: So ein bisschen hört sich das ja auch religiös an, finde ich. Man hat so das Gefühl, wenn ich Ihnen zuhöre, dass man sagt: Naja, wenn wir teilen, dann werden wir mehr selbst auch bekommen als wenn wir alles für uns behalten.
Wilhelm Schmid: Ich bin ein tief religiöser Mensch, ich gehöre nur keiner Glaubensgemeinschaft zu. Aber ich bin überzeugt davon, dass das Wesentliche des Menschen, das, das uns allen gemeinsam ist, ist eine Energie, die unser Leben trägt, die auch übrig bleibt, wenn der Körper und die Person stirbt. Und dann können wir uns im Leben auch stärker daran orientieren. Die anderen Menschen und sicherlich auch die anderen Wesen, mit denen wir leben, die sind nicht total unterschiedlich zu uns, sondern wir sind solidarisch miteinander. Und genau dann können wir diese Energie auch stärker erfahren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schmid, dann gibt es noch ein Buch von Ihnen, das – wie ich finde – ganz interessant ist. Das ist die Geschichte mit der Liebe, mit der Sehnsucht. Da stellt sich auch nochmal die Frage: Ist das denn so ein Dauerbrenner, diese Sehnsucht, die in Wellen in Gesellschaften rauf und runter geht? Oder warum ist sie im Moment so ausgeprägt? – Es gibt die Internetbörsen. Es gibt den Versuch, überall sozusagen diese Liebe zu finden, ohne dass, glaube ich, keiner so genau weiß, was er eigentlich mit dieser Liebe verbindet.
"Philosophieren ist nicht nur das Eigentum von Philosophen"
Wilhelm Schmid: Nein, wissen können wir das nicht, aber erfahren können wir da einiges. Wenn wir in Liebe sind in irgendwelcher Weise, es gibt tausendfältige Lieben, dann erfahren wir in hohem Maße diese Energie, von der ich gerade gesprochen habe. Das ist die natürliche menschliche Erfahrung von Energie, von – wie wir in solchen Momenten dann ja auch gerne sagen – göttlicher Energie.
Insofern hat diese Energie etwas mit Religion auch zu tun. Wir müssen nicht zwingend in die Kirche gehen, um religiös zu sein. Wir können auch einem anderen Menschen sehr nahe sein und empfinden uns dann als religiös.
Deutschlandradio Kultur: Uns wird ständig eingetrichtert, dass wir freie Menschen sind, dass wir unabhängig sind, dass wir flexibel sein sollen, dass wir jederzeit das machen können und dürfen, was wir wollen – sofern wir das Geld haben und die materiellen Voraussetzungen. Und andererseits träumen wir von etwas, das sich eher auf Sich-Zürücknehmen konzentriert, auch dem anderen was geben, mal einen Schritt zurückgehen und sagen, im Gemeinsamen ist es mehr. – Das geht für viele schwer zusammen.
Wilhelm Schmid: In der Liebesbeziehung wird ein Grundproblem der Moderne am deutlichsten erfahrbar. Wir werden sicherlich in diesem Jahrhundert noch bessere Lösungen finden müssen für den Konflikt, der sich da anbahnt in fast jedem Leben, in jedem modernen Leben. – Einerseits dieses Bedürfnis nach Freiheit, nach Autonomie, nach Selbstbestimmung, andererseits aber kann es eine Liebesbeziehung schwerlich geben, Beziehungen überhaupt, wenn wir nicht auch ein wenig auf Freiheit verzichten, möglicherweise sogar etwas einschneidender auf Freiheit verzichten. Wenn wir uns in einer Beziehung gebärden, als könnten wir machen, was wir wollen, dann wird diese Beziehung sehr schnell wieder zu Ende sein.
Immerhin sind wir ausreichend frei, dass wir die Einschränkung der Freiheit frei selbst wählen können.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schmid, Philosophen gab's in allen Gesellschaften soweit wir zurückdenken können, die sich immer Gedanken über das Große und Ganze gemacht haben. Welche Aufgaben haben Philosophen im 21. Jahrhundert? Sind die anders als die der Antike oder des Mittelalters?
Wilhelm Schmid: Philosophen denken einfach immer nach. Und das tun sie immer, ob sie dafür bezahlt werden oder nicht, ob sie ihr eigenes Vermögen dafür einsetzen, wie zum Beispiel ein Sokrates, oder ganz arm einfach nur so dahinleben wie in der Antike Diogenes. Philosophen gibt es immer. Und Philosophieren vor allem gibt es immer. Philosophieren ist nicht nur das Eigentum von Philosophen, sondern im Grunde von jedem Menschen. Das scheint die Eigenart dieses Wesens Mensch zu sein, immer wieder sich mal etwas zurückzuziehen und dann zu reflektieren, nachzudenken: Was bin ich dabei zu tun? Ist das klug das zu tun? Sollte ich das besser lassen? Wohin sollte ich mich orientieren? Soweit wir sehen, ist das im gesamten Tierreich einzigartig.
Und ich denke, wir sollten das noch weiter ausbauen. Philosophen haben ein wunderbares Instrumentarium. Sie lernen geordnet zu denken und können daher vielleicht sinnvolle Unterscheidungen treffen, wo andere nur einen Brei von Gedanken sehen. Und sie können auch Vorschläge machen.
Deutschlandradio Kultur: Ganz herzlichen Dank, dass Sie hier im Studio bei uns waren. Ihnen allen noch einen schönen Samstagnachmittag und – sagen wir mal so – viel Lebensglück im Neuen Jahr.