"Es sieht so aus, als ob Peking keine Kompromisse eingehen möchte"
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Die Sinologin Kristin Shi-Kupfer glaubt, dass die chinesische Führung die Proteste in Hongkong aussitzen will. Auch kämen mehr Gewalt und die Unterwanderung der Bewegung mit Polizisten zum Einsatz, um die friedlichen Demonstranten abzuschrecken.
Ute Welty: Der letzte britische Gouverneur von Hongkong befürchtet eine Katastrophe. Chris Patten hat 1997 die Kronkolonie in China übergeben, und heute warnt der frühere Diplomat, Hongkong stehe kurz vor dem Abgrund: "Es ist, um es sehr, sehr höflich zu sagen, kontraproduktiv von der chinesischen Regierung, den Eindruck zu erwecken, dass man über andere Methoden nachdenkt, wenn das nicht bald aufhört. Wir kennen diese anderen Methoden, ich war selbst damals in Peking, kurz vor den Ereignissen auf dem Tian’anmen-Platz." Soweit Chris Patten. Kristin Shi-Kupfer ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin, sie leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien für das Mercator Institute for China Studies. Was meinen Sie, wie lange schaut Peking noch zu, was da in Hongkong passiert?
Shi-Kupfer: Die Zeichen mehren sich, dass Peking versucht, Druck aufzubauen, vor allen Dingen noch rhetorisch. Über die parteistaatlichen Medienwörter wie Farbenrevolution fallen Wörter wie Unruhestifter, Wörter wie jetzt auch terroristische Anzeichen, die sie finden unter den Demonstrationen. Es spricht viel dafür - auch über entsprechende Propagandavideos von Mobilisierung der Militärpolizei - dass Peking noch mal den Druck verstärken will, um den Großteil der Demonstrierenden abzuschrecken und von der Straße zu bringen.
Posts in sozialen Medien veschwinden einfach
Welty: Welche Rolle spielt die öffentliche Meinung, dass Peking eben versucht, die Demonstrierenden zu diskreditieren?
Shi-Kupfer: Das ist natürlich ein Narrativ, was vor allen Dingen an die eigene Bevölkerung, auch an die eigenen politischen und wirtschaftlichen Eliten gerichtet ist vonseiten Pekings. Um ein möglicherweise dann eben härteres Durchgreifen zu rechtfertigen. Man findet solche unterstützenden Töne auch in Chinas sozialen Medien, man findet auch viel Zensur, soweit ich das beurteilen kann. Posts verschwinden teilweise.
Es gibt Forscher, die das in Hongkong genauer beobachten. Diese Rhetorik findet einen gewissen Anklang innerhalb der Internetbevölkerung in China, aber es gibt durchaus auch Stimmen, die durchkommen, die das kritisieren und eine gewisse Solidarität oder Sympathie mit den Menschen in Hongkong zeigen.
Welty: Wir haben in den vergangenen Tagen gehört, dass auch der Druck wächst auf die Mitarbeiter der Fluggesellschaft von Hongkong. Ist vorstellbar, dass Peking vor allem hinter den Kulissen Maßnahmen vorbereitet und ergreift?
Undercover-Polizisten, psychologische Kriegsführung
Shi-Kupfer: Das ist ein wichtiges Maßnahmenpaket, gerade was hinter den Kulissen passiert. Und es ist sicherlich das ganze Spektrum von teilweise eben auch Berichten, die sich mehren: von Undercover-Polizisten, die eingeschleust werden, auch in die Protestbewegung. Das ist eine klassische Maßnahme, die Peking auch anwendet, wenn es zu Protesten auf dem Festland selbst kommt. Und es gibt Versuche, über Medienberichte gezielt die Stimmung zu verunsichern, eine Art psychologische Kriegsführung, bis hin zu konkret Druck ausüben auf Unternehmen, aktiv zu werden, wenn sich dort Unterstützung für die Sache der Demonstranten zeigt.
Welty: Inwieweit ist man überhaupt in Peking bereit, einen Kompromiss mit den Demonstrierenden zu erzielen? Gibt es da irgendwo eine Linie, auf die man sich einigen könnte?
Shi-Kupfer: Bislang sieht es so aus, als ob man überhaupt keine Kompromisse eingehen möchte. Das Einzige, was man bislang getan hat, ist, dieses gesetzliche Vorhaben auf Eis zu legen. Eine der Forderungen der Demonstrierenden war konkret, das ganz von der legislativen Agenda zu nehmen, auch …
Welty: Das Auslieferungsgesetz war das.
Shi-Kupfer: Das Auslieferungsgesetz, richtig, was eben dann Hongkong vorgeschrieben hätte oder gesetzlich ermöglicht hätte, Menschen an die Volksrepublik auszuliefern. Zum Beispiel solche, die gesucht werden in China - manchmal unter dem Deckmantel von wirtschaftlichen Verbrechen, aber eben auch politisch unliebsame, kritische Köpfe. Das ist nur auf Eis gelegt worden, nicht komplett von der Agenda genommen. Und auch auf alle anderen Forderungen - eine unabhängige Kommission zur Untersuchung der Polizeigewalt beispielsweise - ist die Regierung bislang mit keinerlei Signal eingegangen.
Wirtschaft beobachtet Proteste mit Sorge
Welty: Was bedeuten die Proteste für den Wirtschafts- und Finanzstandort Hongkong? Peking kann ja kein Interesse daran haben, den dauerhaft zu schwächen.
Shi-Kupfer: Sicherlich ist das etwas, was mit Sorge beobachtet wird. Etwa von ausländischen Unternehmen oder auch chinesischen, für die Hongkong ein wichtiger Standort ist, um Kapital aufzunehmen, ausländisches Kapital an den Börsen. Ich glaube, Peking setzt im Moment darauf, dass das dann eine kurzfristigere Erschütterung sein wird, die man vielleicht aus Sicht von Wirtschaftsakteuren wieder vergessen hat. Aber sicherlich ist die Frage zu stellen, ob das generelle Rechtssystem, das ganze Thema Rechtssicherheit jetzt durch die Proteste mehr infrage gestellt wird von ausländischen Unternehmen. Und man sich nach Alternativen umsieht.
Welty: Das heißt aber doch im Umkehrschluss, dass die Tage von Hongkong als Sonderverwaltungszone gezählt sind, oder?
Shi-Kupfer: Zumindest steht dahinter ein sehr großes Fragezeichen. Viel wird jetzt darauf ankommen, ob es Peking gelingt, diese Proteste in irgendeiner Art und Weise noch einigermaßen friedlich beizulegen. Vielleicht doch durch weitergehende Kompromisse. Allerdings sieht es im Moment nicht danach aus. Die Taktik der chinesischen Regierung scheint zu sein, das auszusitzen, auf Abschreckung zu setzen und rhetorisch möglicherweise auch ein stärkeres, gewaltsames Durchgreifen vorzubereiten, gepaart mit verschiedenen Taktiken im Hintergrund – Zermürbung, psychologische Kriegsführung. Und anzunehmen, dass dadurch die Proteste zum Erliegen kommen.
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