Sinthujan Varatharajah: „an alle orte, die hinter uns liegen“
© Hanser
Eine furiose Kritik am Eurozentrismus
Sinthujan Varatharajah
an alle orte, die hinter uns liegenhanserblau, München 2022352 Seiten
24,00 Euro
Kolonialismus, Rassismus, Krieg gegen Pflanzen und Tiere: Sinthujan Varatharajah stößt in einem Familienfoto auf die Spuren der Geschichte von Unterdrückung und geht ihnen nach. Ein lesenswertes Debüt zwischen Sachbuch, Essay, Memoir und Roman.
Am Anfang steht eine Fotografie: Sinthujan Varatharajahs Mutter, eine junge Asylsuchende in den Neunzigern, vor einem kargen Gehege mit drei Elefanten im Münchener Zoo. Ein Foto, das Varatharajah diskursiv daraufhin seziert, wie die weiße Gewaltgeschichte noch heute im deutschen Alltag präsent ist – das deutet der Buchtitel an.
So hebt eine Diskursgeschichte der westlichen Unterwerfungslogik anhand unterschiedlicher beteiligter Objekte und Themen an, zusammengebunden durch einen Erzähler, der noch weitere Fotos aus dem Familienschrank zieht.
Diskursgeschichte der Weltunterwerfung
Die Kamera entpuppt sich als koloniales Instrument zur Dokumentation und Zurschaustellung nichteuropäischer Völker, Zoos als lebendige Trophäensammlungen und Weltausstellungen mit Quartieren der Kolonisierten als entwürdigende Menschenzoos. An eingesperrten, gar abgeschlachteten Elefanten zeigt sich die blutige Naturunterjochung; ebenso in einer Landschaft voller Ausbeutung, Brandrodung, Abholzung, Monokultur.
Diese Gemengelage spürte damals offenbar auch Varatharajahs Mutter: So deplatziert wie die Elefanten in einer künstlichen Natur, so entrissen fühlt sich auch die Mutter in Deutschland. Mitte der Achtziger floh die Familie vor Pogromen gegen Tamilen aus Sri Lanka und wird Jahre in der unsicheren Duldung verbringen. Ein Konflikt, dessen hierzulande unbekannte Aspekte Varatharajah nüchtern nacherzählt: etwa, wie Helmut Kohls „Tamilenregulierung“ es fast unmöglich machte, dass Menschen wie Varatharajah weiterhin in die Bundesrepublik flüchten konnten.
Eurozentrismuskritik, die weh tut
Varatharajas Eurozentrismuskritik tut weh, etwa wenn nicht Guernica als Beginn des Bombenkriegs aus der Luft, sondern seine Generalprobe, der italienische Überfall auf Abessinien beschrieben wird.
Auch sprachlich soll der Eurozentrismus überwunden werden, ein nachvollziehbares Projekt, das mal mehr, mal weniger im Buch gelingt. Varatharajah setzt deshalb viele Worte kursiv: "Norden", "zivilisierte Menschen", "Weltkrieg", "Fremde", aber auch "Vergangenheit" - Symptome eines Blicks, der andere Kulturen als gestrig abwertet.
Problematischer ist die Bezeichnung Amerikas als „Abya Yala“, einem vorkolonialen Begriff von begrenzter geografischer Weite. Und vernebelt die gegenderte „Herr*innenschaft“ nicht gerade den „weißen Mann“ im Kolonialismus? Auch über gegenderte „Elefant*innen“ lässt sich streiten.
Schade, das alles wird am Ende nur angedeutet: Worin die „imperiale Syntax“ des Deutschen besteht, die verhindere, dass Sinthujan Varatharajah* Gedanken adäquat ausdrücken kann, bleibt vage. Diskutabel ist auch, wie weiß oder wie allgemein menschlich die Unterwerfung der Natur am Ende ist. Mit klarem Blick benennt Varatharajah immerhin auch die Gelüste nichtweißer Imperien, etwa Japans.
Eindeutiges Erzähltalent
Mal weitschweifig, mal fragend, mal lyrisch oder verzweifelt: Varatharajah beherrscht viele Tonlagen und beweist Erzähltalent. Dem Stoff nach ein politisches Sachbuch, dem Gefühl nach ein Roman, tastend wie ein Essay und persönlich wie ein Memoir. Ein lesenswertes Lehrstück in jedem Fall.
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine Angabe zur persönlichen Identität korrigiert. Diesbezüglich haben wir auch das Audio entfernt.