Für Ihre Musikalität sind sie berühmt, doch, dass Sinti und Roma auch eine eigene Literatur haben, ist der lesenden Weltöffentlichkeit – wie auch den meisten Literaturwissenschaftler:innen – kaum bewusst. Der Begriff „Weltöffentlichkeit“ ist hier keineswegs zu hoch gegriffen, denn das Phänomen, dass Sinti und Roma nahezu im Verborgenen schreiben und publizieren, ist international.
Django Reinhardt 1946: für ihre Musik sind Sinti und Roma berühmt, die Literatur ist hingegen kaum bekannt.© imago / Cinema Publishers Collection / William P. Gottli
"Verdammter Zigeuner": ein Welterfolg
1971 erschien mit "Goddam Gypsy" des Kanadiers Ronald Lee der erste Roman eines Roma-Schriftstellers, der ein Welterfolg wurde. Die Presse feierte ihn als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der kanadischen Literatur. Er wurde in viele Sprachen übersetzt. Auf Deutsch kam er jedoch erst 16 Jahre später unter dem Titel „Verdammter Zigeuner“ auf den Markt.
Ronald Lee wurde 1934 in Montreal geboren und starb 2020 in Toronto. „Verdammter Zigeuner“ spielt in der Zeit zwischen 1958 und 1967, als die Zukunftsperspektiven nicht nur für Roma, sondern für alle kanadischen Minderheiten düster und die Lebensbedingungen besonders hart waren.
Die Hauptfigur Yanko wird von sogenannten „Gadje“ – das heißt: Nicht-Roma – großgezogen. Doch die kanadische Mehrheitsgesellschaft bleibt ihm fremd. Und so beschließt er, zu Seinesgleichen zurückzukehren.
Yanko solidarisiert sich mit anderen Außenseitergruppen – Frankokanadiern, Linken, Ureinwohnern, Schwarzen und Ausländern –, die ebenfalls für ihre Rechte kämpfen. Seine Triebfeder ist das „lebendige Feuer“, das auch vor Gewalt nicht zurückschreckt.
So eskaliert die Aggression der Unterdrückten und Ausgegrenzten schließlich in einer brutalen Schlägerei, die sie in einer Kneipe gegen wohlhabende, etablierte Anglokanadier anzetteln.
Auf den Leichen von Sklaven lässt sich ein Turm erbauen, doch eines Tages wird der Blitz einschlagen, der Turm wird einstürzen und den arroganten Bauherrn zu seinem Verderben in den Schmutz und das Elend schleudern, das er geschaffen hat.
Ronald Lee
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Jovan Nikolić wurde 1955 bei Čačak geboren, einer Stadt im ehemaligen Jugoslawien. Seine Mutter war Serbin und gehörte dem gehobenen Bürgertum an, bis sie ausgestoßen wurde, weil sie sich in einen Rom verliebte, der als Altsaxofonist eine Kapelle leitete.
1977 veröffentlicht Nikolić erste Gedichte und erhält im Laufe der Jahre mehrere nationale und internationale Literaturpreise. Er taucht in die Belgrader Theater- und Filmszene ein, schreibt Texte - unter anderem für den Film "Schwarze Katze, weißer Kater" des Kult-Regisseurs Emir Kusturica - und arbeitet als Journalist.
Jovan Nikolić arbeitete am Kultfilm "Schwarze Katze, weißer Kater" mit.© imago / United Archives
Als er die serbischen Großmachtambitionen von Slobodan Milošević kritisiert, wird ihm das zum Verhängnis. Nikolić muss das Land verlassen und erhält als verfolgter Schriftsteller Asyl in Deutschland. Das Exil erlebt er als einen fundamentalen Bruch, der über alle ethnischen oder nationalen Zuschreibungen hinausgeht.
Die „innere Heimat“, aus der heraus Jovan Nikolić schreibt, ist kein sicherer Hort. Die Stimmung in Jovan Nikolić’ Lyrik und Prosa variiert zwischen bedrohlich und unbeschwert. Nichts hat Bestand, weder Ängste noch Hoffnungen. Worte und Gedanken behalten keinesfalls auf Dauer ihren Sinn. "Kognitive Verwirrung" nennt er diese Gratwanderung zwischen Traum und Wirklichkeit, Fakt und Fiktion.
Wenn Frauen das Schweigen brechen
In jahrelanger Spurensuche, die sich über drei Kontinente erstreckte, haben Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki 354 Gedichte von 149 Autoren und Autorinnen aus 24 Ländern zusammengetragen, die aus 20 Sprachen übersetzt wurden. Darunter finden sich Ikonen der Romani-Literaturen wie Bronisława Wajs. Sie gehörte zur Gruppe der Tiefland-Roma, die seit über 500 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Polen leben.
Auf Romanes wurde sie „Papusza“ genannt, zu Deutsch „Puppe“. Sie war die erste Romni, deren Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurde.
Papuszas Gedicht „Blutige Tränen“ aus dem Jahr 1952 erzählt balladenartig von der Flucht ihres Clans vor der deutschen Wehrmacht und einheimischen Faschisten während des Zweiten Weltkriegs. Von Erdlöchern, in denen sie sich verkrochen, und von Wäldern, die ihnen Obhut gaben, um nicht nach „Assfiz“, wie Auschwitz auf Romanes genannt wird, deportiert zu werden.
Papusza wurde 1908 geboren, vielleicht auch 1909 oder 1910 – so genau weiß das keiner. Lesen und schreiben lernte sie von Kindern, die sie vor einer Schule abpasste, und von einer jüdischen Ladenbesitzerin. Sie liebte es, selbst gedichtete Verse zur Musik ihrer Sippe zu singen.
In den 1950er-Jahren übersetzte der polnische Schriftsteller und Ethnologe Jerzy Ficowski diese Lieder mit Hilfe des Lyrikers Julian Tuwim ins Polnische und gab sie 1956 heraus. Papusza wurde schlagartig berühmt und 1962 in den Verband polnischer Schriftsteller aufgenommen. Doch ihr Ruhm erwies sich bald als Fluch. Schon die Fähigkeit des Lesens und Schreibens war von ihrer Sippe kritisch beäugt worden; jetzt aber galt sie als Verräterin und wurde als „unrein“ verstoßen. Ihr Leben war zerstört. Erst in den 1970er-Jahren verfasste sie noch einmal einige Gedichte.
Wettlauf gegen den Tod: Philomena Franz
Philomena Franz wurde im Juli 1922 in Biberach an der Riß geboren. Mit sieben Geschwistern wuchs sie in einer angesehenen Theater- und Musikerfamilie auf.
Sie ist 21 Jahre alt, als sie am 27. März 1943 um acht Uhr morgens abgeholt und einen Monat später nach Auschwitz deportiert wird. Nach zwei Monaten harter Arbeit wird sie nach Ravensbrück transportiert. Sie flieht, wird geschnappt und bestraft.
Nach Auschwitz deportiert: Philomena Franz.© imago / McPhoto / Luhr
Sie überlebt das nächste Lager, Oranienburg, wird zurück nach Auschwitz und anschließend in ein Lager bei Wittenberge an der Elbe gebracht. Im April 1945 unternimmt sie einen erneuten Fluchtversuch und schafft es, ans rettende Ufer zu schwimmen:
Der Wettlauf gegen Tod und Wahnsinn geht weiter.
Es öffnet sich die Tür.
Ein Schrei der Verzweiflung. Es ist stockdunkel.
Keine Sterne am Himmel.
Philomena Franz
Ihr Buch „Zwischen Liebe und Haß“ erscheint 1985. Es ist eine Pionierarbeit, denn Philomena Franz ist die erste Frau unter Sinti und Roma, die über ihre Erfahrungen in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches schreibt – und das zu einer Zeit, als die Geschichte der Sinti und Roma und insbesondere ihre Leiden während des Holocaust öffentlich kaum wahrgenommen, wenn nicht sogar bewusst ignoriert werden. Auffallend in „Zwischen Liebe und Haß“ ist das Fehlen jeglicher Aggressivität. Sie hat sich bewusst gegen Hass und für die Liebe entschieden.
Ceija Stojka nimmt sich Redefreiheit
1988 erscheint unter dem Titel „Wir leben im Verborgenen“ die Biografie von Ceija Stojka, es ist das erste schriftliche Zeugnis einer österreichischen Romni. Sich Redefreiheit nehmen: Das ist ein ganz großer Kampf, eine ganz große Schwierigkeit. „Menschen, die der Mehrheitsgesellschaft angehören und diesen Kampf nicht führen müssen, haben gar keine Ahnung, was das heißt“, konstatiert die Vergleichende Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin Beate Eder-Jordan.
Stojkas Outing machte vielen Sinti und Roma Mut, ihre Identität nicht mehr zu verstecken und sich für ihre Volksgruppe einzusetzen. Es ist nicht zuletzt ihrem Engagement zu verdanken, dass Sinti und Roma 1993 in Österreich als Volksgruppe anerkannt wurden.
Anders als Philomena Franz erhielt sie allerdings nicht nur als engagierte Zeitzeugin und Menschenrechtsaktivistin Preise, sondern wurde auch als Schriftstellerin und Künstlerin vielfach ausgezeichnet. Ceija Stojka starb im Januar 2013.
Ein Grundrauschen von Diskriminierung
Gianni Jovanovic wurde 1978 in Rüsselsheim geboren und wuchs in einer großen, traditionellen Roma-Familie auf. Diskriminierungen und offener Rassismus bestimmten wie ein Grundrauschen sein Leben. Mit 14 Jahren wird er mit einem gleichaltrigen Mädchen verheiratet, mit 17 ist er bereits zweifacher Vater.
Er hat keine andere Wahl. Doch für Jovanovic ist etwas Anderes weitaus problematischer: die Entdeckung, dass er homosexuell ist. Er beginnt ein Doppelleben, geht während der Woche arbeiten und kümmert sich um die Familie; am Wochenende dann zieht er durch einschlägige Clubs und Bars.
Doch der innere Druck ist schließlich zu groß. Mit Anfang 20 outet er sich:
Meine Familie und meine Frau saßen im Wohnzimmer. Was dann passierte, war wie ein tragikomisches Theaterstück. Meine Mamo bekam einen gekünstelten Ohnmachtsanfall nach dem anderen. Im Nachhinein war es Comedy pur. Das war meine Familie, wie ich sie kannte. Tränen, Drama, Theatralik. Alle heulten, und mein Vater schaltete in den Leugnungsmodus. 'Du bist nicht schwul', rief er. Er reichte mir eine Zigarette und zündete sich selbst eine an, obwohl er gar nicht rauchte. Mein Dade lamentierte, ich sei schon immer anders gewesen und jetzt habe mich jemand verzaubert, mich mit irgendeinem Fluch belegt. Hokuspokus Fidibus. Ich sei krank, sagte er.
Gianni Jovanovic
Gianni Jovanovic scheut in seiner Autobiografie "Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit" keine Auseinandersetzung – auch nicht die mit seiner eigenen Familie. "Deutschland, du kannst so wehtun. Hass, Hetze und Rassismus – dieses Land hat zu viel davon zu bieten." So lautet ein Schlüsselsatz aus dem Buch.
Sinti und Roma – und mit ihnen viele andere kleine Mehrheiten – gelten als Avantgarde, ihre Literaturen als Weckruf, als Gegenentwürfe zu einer noch immer vorherrschenden Welt der Intoleranz und der Ignoranz.
Literatur:
Ronald Lee: Verdammter Zigeuner. Beltz und Gelberg, 1978
Matéo Maximoff: Die Ursitory. Unionsverlag, 2001
Jovan Nikolić: Weißer Rabe, schwarzes Lamm. Drava Verlag, 2006
Ruždija Russo Sejdović: Der Eremit: Stille und Unruhe eines Rom. epubli Verlag, 2017
Philomena Franz: Zwischen Liebe und Hass. Books on demand, 2001
József Holdosi: Die gekrönten Schlangen. Innsbruck University Press, 2014
Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.