Rassismus gegen Sinti und Roma

Tief verwurzelt auch in der Forschung

34:55 Minuten
Robert Ritter, Leiter der sognannten „Rassehygienischen Forschungsstelle“, circa 1938 bei der Befragung einer Roma-Frau
„Wissenschaft hat der Vernichtung zugearbeitet“, sagt die Forscherin Jane Weiß, vor allem in Form der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ unter der Leitung Robert Ritters. © imago images/Reinhard Schultz
Von Christian Bernd |
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Rassismus gegen Sinti und Roma hat Tradition in Deutschland – auch in der Wissenschaft. Sie zeichnete bisher ein stereotypes Bild. Jetzt wollen Forschende, die der Minderheit angehören, ihre eigene Perspektive einbringen.
„Wir arbeiten alle dafür, dass wir das Bild von uns ändern. Wir haben ein Bild der Mehrheitsgesellschaft, leider oft sehr falsch. Und darum arbeiten wir. Wir haben noch einen Workshop, wo man viel mehr sich damit austauschen kann, viel mehr Antiziganismus erkennen kann, diese spezifische Form von Rassismus, und wo man vor allem lernen kann, wie man sich selbst, aber auch andere stärken kann.“
Ajriz Bekirovski stellt das Programm des Bundesjugendtreffens von Roma und Sinti in Düsseldorf 2021 vor. Er ist Bundesvorsitzender von Amaro Drom, der Jugendselbstorganisation von Roma und Nicht-Roma. Auf dem Bundesjugendtreffen gab es auch einen Workshop zu Sprache und Geschichte der Roma, geleitet vom Sprachwissenschaftler an der Universität Katowice, Hristo Kyuchukov.
„Ich muss über mich sagen: In der Schule habe ich mich geschämt, dass ich ein Zigeuner bin. Als Kind in Bulgarien, wenn ich versucht habe, Romanes zu sprechen, meine Lehrerinnen haben immer zu mir gesagt: ‚Sprich nicht diese schmutzige Sprache‘. Die Vorstellung der Gesellschaft über Roma immer war und ist bis heute, dass die Roma schmutzig sind, die Sprache ist schmutzig, alles, was die Roma machen, ist schmutzig. Warum ist das so? Weil die Menschen nicht so viel über unsere Geschichte wissen.“ … obwohl Roma seit mindestens 600 Jahren in Deutschland leben.

Jugendliche erfragen eigene Geschichte

Zum Bundesjugendtreffen sind Roma-Jugendliche gekommen, die etwas über die Geschichte der Roma erfahren möchten.
„Also meine Eltern haben nicht viel erzählt, ich habe mehr über Internet gelesen. – Und Du? – Ich habe das auch nur… irgendwann fragt man sich, wo kommt man her, wo ist eigentlich unser Ursprung? Man googelt das, woher kommen Sinti und Roma, aber man weiß nicht so richtig, bin ich das überhaupt?“
Und alle Jugendlichen im Workshop kennen die Angst, als Roma erkannt zu werden.
„Auch während der Schulzeit, während der Ausbildungszeit, Freundeskreis, selbst wenn ich neue Leute kennenlerne, ich sage denen nicht, dass ich Roma bin. Erst nachdem ich die wirklich kennengelernt habe, vertraue ich denen das an. Wenn die mich wirklich als neue Person kennenlernen und ich sage, ich bin ein Roma, denke ich, dass ich von Anfang an niedrig gehalten werde. Und das möchte ich vermeiden.“

Diskriminierung auch in der Wissenschaft

Die Diskriminierung von Sinti und Roma ist aber nicht nur eine, die im Alltag erlebt wird. Bis heute gibt es auch in der Wissenschaft Tendenzen, der Minderheit pauschalisierend kulturelle Eigenheiten zuzuordnen, die ihre Integration in die Gesellschaft erschweren würden. Nicht die Diskriminierung von Sinti und Roma ist nach dieser Lesart das Problem, sondern eine ihnen vermeintlich eigene Kultur.
„Der eine Punkt ist, dass wir tradierte Bilder haben, die eine große Beharrungskraft haben, weil sie über Jahrhunderte hindurch kaum hinterfragt wurden“, so die Bildungsforscherin an der Berliner Humboldt-Universität, Jane Weiß.
Und ein anderer Punkt ist, meint die Rassismusforscherin und Gründerin des feministischen Romani Phen Archivs, Isidora Randjelovic: „99 Prozent der Wissensproduktion über Romnja ist nicht von Romnja gemacht worden.“
Zur Stigmatisierung von Sinti und Roma hat ausgerechnet die deutsche Wissenschaft entscheidend beigetragen. Im 18. Jahrhundert begann die Forschung, sich für Sinti und Roma zu interessieren. Die Herkunft der Minderheit aus Indien wurde entdeckt, von wo aus Roma ab dem vierten Jahrhundert ausgewandert waren - erst nach Persien, dann weiter ins Byzantinische Reich und mit der Expansion des Osmanischen Reiches im 14. Jahrhundert nach Europa.

Einwanderung ins spätmittelalterliche Europa

Der Sprachwissenschaftler Johann Rüdiger erkannte Romanes als eigene Sprache mit Verwandtschaft zum Sanskrit und gab 1782 die erste Grammatik der Roma-Sprache heraus. Die Einwanderung der Roma ins spätmittelalterliche Europa geschah in einer Umbruchs- und Krisenzeit.
Sie waren nicht willkommen, wie 1424 ein Chronist aus Regensburg schrieb: „Dieses Volk schlug seine Zelte auf den Feldern auf, denn es war ihm nicht erlaubt, in den Städten zu wohnen. Und man sagt, es sei ausgewandert zur Erinnerung an die Flucht des Herrn nach Ägypten. Im Volk wurde jedoch gesagt, dass sie heimliche Kundschafter seien.“
Roma wurde immer wieder das Aufenthaltsrecht verwehrt, so entstand das Bild des fahrenden Volkes. Obwohl die Roma seit der Zeit im Byzantinischen Reich mehrheitlich Christen und vor der osmanischen Expansion in den Westen geflohen waren, hielt man sie für türkische Spione. Auf Reichstagen wurden sie für vogelfrei erklärt, Vertreibung und Hinrichtungen waren an der Tagesordnung.

Der Blick der Aufklärer auf Sinti und Roma

Zugleich aber gab es soziale Beziehungen zwischen Mehrheitsbevölkerung und Sinti – so nannten sich die Roma in Deutschland ab dem 18. Jahrhundert – und viele dienten im Militär und stiegen in Offiziersränge auf.
Im 18. Jahrhundert richteten die Aufklärer ihren Blick auf Sinti und Roma. Denn für sie stellte die Existenz ausgegrenzter Minderheiten ein gesellschaftliches Problem dar und sie entwickelten Konzepte, aus den Außenseitern „nützliche“ Bürger zu machen. Christian Wilhelm von Dohm veröffentlichte 1781 seine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“, die wegweisend für die jüdische Emanzipation wurde. Zwei Jahre später erschien Heinrich Moritz Gottlieb Grellmanns Abhandlung über Sinti und Roma, die ähnlich prägende Folgen haben sollte.
„Bei Grellmann ist es so, dass er im Geiste aufklärerischer Manier mit alten Vorurteilen aufräumt – also Brunnenvergiften, Kinderraub, Zauberei und solche Sachen. Und die aufklärerische Idee, die wir bei Grellmann finden, ist: Wir brauchen diese gesellschaftlichen Gruppen und sie sollen auch gebildet werden, sie sind auch der Bildung zugänglich. Und gleichzeitig schreibt er über Sinti und Roma mit solcher Abscheu, dass das im Endeffekt zur Grundlegung des Rassismus gegen Sinti und Roma wird.“
Obwohl Grellmann Sinti und Roma in die Gesellschaft integrieren wollte, bestätigte er die alten Vorurteile über parasitäre Wilde, deren Platz nur auf der untersten Stufe der Gesellschaft sein könne. Grellmanns Schrift wirkte fatal, denn sie prägte in den neuen, rassenbiologischen Diskursen des 19. Jahrhunderts, in denen Minderheiten wie Juden und Roma qua Abstammung zu Fremden erklärt wurden, das negative Bild der Gruppe. Aber anders als in der jüdischen Minderheit gab es innerhalb der deutschen Sinti und Roma kaum Stimmen des Widerspruchs.
„Der Unterschied ist, dass es zum Beispiel die jüdische Aufklärung gab, so etwas gab es in den Sinti-und-Roma-Communities nicht in der Form. Weil Sinti und Roma sehr lange Zeit ferngehalten wurden von Bildung, von der gesellschaftlichen Mitte, obwohl auch – da ist die Forschung noch ziemlich am Anfang – klar ist, dass es immer auch Inklusion und Integration gab in die Mehrheitsgesellschaft“, sagt Jane Weiß.

Romantisierendes Bild ab dem 18. Jahrhundert

Grellmann galt als Gründervater der sogenannten Tsiganologie - der Sinti-und-Roma-Forschung - und prägte das Bild von den ‚letzten Wilden Europas‘.
Im 18. Jahrhundert entstand auch das romantisierte Bild von Sinti und Roma als einem freiheitsliebenden, fahrenden Volk. Operetten verklärten sie zu kreativen Anarchisten, die sich der gesellschaftlichen Integration mittels ihres Reisetriebs entziehen - obwohl viele Sinti und Roma in dieser Zeit sesshaft und in den Mittelstand aufgestiegen waren.
Schon 1812 hieß es im Bericht eines württembergischen Landvoigts über Sinti: „Ihre Familien wurden schon vor sehr vielen Jahren geduldet und erhielten zum Teil Schutzbriefe, zum Teil auch Anstellungen. Zum Teil dienten sie unter dem württembergischen Militär. Durch diese verschiedenen Duldungen erhielten sie ein Recht auf Land.“
Schon im 19. Jahrhundert ergaben Erhebungen etwa in Österreich-Ungarn, dass nur ein winziger Teil der Sinti und Roma nicht-sesshaft war. Trotzdem blieb auch im Kaiserreich nach 1871 die gesetzliche Diskriminierung nicht nur bestehen, jetzt wurde die Kriminalisierung der Minderheit durch eine zentrale polizeiliche Erfassung noch forciert.
Handlungsanleitend dafür wurden auch wissenschaftliche Gutachten, die der Minderheit einen angeborenen Hang zur Gesetzlosigkeit bescheinigten. Diese Praxis setzte sich in der Weimarer Republik in Form von Sondergesetzen fort - etwa der Einweisung von Sinti und Roma in Arbeitshäuser - und gipfelte schließlich im Völkermord der NS-Zeit.

Fatalste Wirkung der Forschung in NS-Zeit

Und hier zeigte die Forschung ihre fatalste Wirkung: „Wissenschaft hat der Vernichtung zugearbeitet“, sagt Jane Weiß, vor allem in Form der „Rassehygienischen Forschungsstelle“ unter der Leitung Robert Ritters. Er galt als Experte für Sinti und Roma und sah seine Arbeit als wissenschaftliche Vorarbeit für die NS-Politik gegenüber der Minderheit. Sein Institut erhob Daten über Sinti und Roma, die von Mitarbeiterinnen wie Eva Justin systematisch befragt wurden:
„Alle Roma haben Eva Justin geliebt“, erzählt Hristo Kyuchukov. „Sie war so nett und so lieb zu den Kindern, sie hat immer in diesen schlechten Zeiten Schokolade mitgebracht und Bonbons. Und niemand wusste, was macht Eva Justin eigentlich hier? Aber sie hat alle Orte identifiziert, sie wusste Stadt bei Stadt, Dorf bei Dorf, wie viele Roma und Sinti in Deutschland waren.“
Abschiebung von Sinti und Roma Eva Justin vom Rassenhygiene Forschungszentrum des Reichsgesundheitsa
Kinder, die Eva Justin befragte, wurden nach Beendigung der Interviews direkt nach Auschwitz deportiert.© imago/Reinhard Schultz
Informationen, die zur Erfassung für die Deportationen in die Vernichtungslager dienten. Kinder, die Justin befragte, wurden nach Beendigung der Interviews direkt nach Auschwitz deportiert. Und gerade bei Eva Justin zeigte sich, dass Sinti und Roma nicht - wie später von Wissenschaftlern behauptet - aufgrund einer angeblich kriminellen Lebensweise, sondern aus rassenbiologischen Gründen verfolgt wurden.
Sie empfahl die Sterilisation einer jungen Sinti mit der Begründung: „Eine Nachkommenschaft dieser Erbträger muss als besonders unerwünscht abgelehnt werden. Gerade weil Gertrud phänotypisch angepasst und unauffällig ist, wird sie leicht einen Mann aus guter Familie gewinnen können und dessen Nachkommen verderben.“

500.000 ermordete Sinti und Roma

Von den rund 20.000 deutschen Sinti und Roma wurden wahrscheinlich 70 Prozent ermordet, in ganz Europa circa 500.000. Aber nach dem 2. Weltkrieg wurde der Völkermord geleugnet.
Der Bildungsforscher Merfin Demir: „Diese Ignoranz hat ja auch dazu geführt, dass beispielsweise ein deutsches Gericht, der Bundesgerichtshof, ein Urteil tatsächlich gefällt und erklärt hat, man sei ja nicht aus rassistisch motivierten Gründen in die Konzentrationslager interniert worden etc. Das ist also eine Realität, mit der Sintize und Romnja in einer post-nationalsozialistischen Gesellschaft leben mussten und zum Teil noch müssen.“
Der BGH erkannte 1953 eine rassistische Verfolgung von Sinti und Roma erst mit den Deportationen nach Auschwitz ab 1942 an. Dabei hatten die Massenmorde an Angehörigen der Minderheit bereits 1939 begonnen. In der Urteilsbegründung des BGH hieß es, Sinti und Roma seien von den Nazis verfolgt worden, weil ihr Lebensstil vorbeugende Maßnahmen erfordert hätte:
Zitat:„Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“
Zwar korrigierte sich das Gericht 1963, aber Forderungen nach Entschädigungszahlungen an Sinti und Roma wurden weiterhin fast durchgängig abgelehnt. Für Entschädigungsverfahren wurden als Gutachter oft ausgerechnet Wissenschaftlerinnen wie Ruth Kellermann eingesetzt, die für Robert Ritters Rassenhygienische Forschungsstelle Untersuchungen an Sinti und Roma durchgeführt hatte.

Repressionen statt Aufarbeitung des Völkermords

Statt einer Aufarbeitung des Völkermords setzte sich die Repressionspolitik gegen die Minderheit mit tatkräftiger Hilfe von Wissenschaftlern, die aufgrund ihrer Forschungen in der NS-Zeit als Experten für Sinti und Roma galten, nach 1945 nahtlos fort – man spricht sogar von der 2. Verfolgung.
Nicht nur erhielten Sinti und Roma oftmals die in der NS-Zeit entzogene Staatsbürgerschaft nicht zurück: „Es gibt Familien, die haben bis in die Achtzigerjahre keine deutsche Staatsbürgerschaft gehabt“, sagt Merfin Demir.
Auch die Enteignungen wurden nicht rückgängig gemacht. Vielfach konnten Sinti und Roma nicht in ihre früheren Wohnungen zurückkehren, sondern wurden jahrzehntelang in frühere Zwangslager gesteckt. Die wirtschaftliche Situation von Sinti und Roma war über Jahrzehnte schlechter als im Kaiserreich. Ihre polizeiliche Sondererfassung wurde fortgesetzt, dafür nutzte die Polizei die Expertise von früheren NS-Forschern und deren Akten aus der NS-Zeit. Sogar die in Auschwitz eintätowierten Häftlingsnummern wurden zur Erkennung verwendet.
Auch Eva Justin wurde als Gutachterin für Entschädigungsverfahren von Sinti und Roma eingesetzt: „Es ist schwer, gegen Frau Dr. Eva Justin für uns Zigeuner anzukämpfen, weil Frau Dr. Eva Justin noch sehr viel Gleichgesinnte hat“, erklärte 1963 der Roma-Aktivist Walter Strauß, der laut damaligem Fernsehbericht den Fall öffentlich gemacht hatte.
Der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer ließ den Fall daraufhin prüfen, aber das Verfahren gegen Justin wurde eingestellt. Und die Tsiganologie wurde von Wissenschaftlern wie Hermann Arnold weitergeführt, die direkt an NS-Forschungen anknüpften. Arnold bezeichnete den NS-Forscher Robert Ritter als Vorbild.

Anknüpfung an NS-Forschungen

In einem Buch von 1965, das als Standardwerk galt, schrieb Arnold über Sinti und Roma: „Auch einen aufrichtigen Freund können sie gelegentlich durch ihre Unzuverlässigkeit und ihre manchmal peinliche Unfähigkeit zu objektivem Denken und rationalem Handeln schier zur Verzweiflung bringen. Ihr Denken ist eben anders als unseres.“
Auch Arnold argumentierte, die Verfolgung von Sinti und Roma sei in der NS-Zeit nicht aus rassischen Gründen, sondern zur Disziplinierung der Minderheit erfolgt. Er forderte noch 1973 den Entzug von Grundrechten und Sterilisationen von Sinti und Roma, bis in die Sechzigerjahre war er im Bundesfamilienministerium als Sachverständiger für die Minderheit zuständig.
Ab den Siebzigerjahren trat zwar eine neue Generation von Wissenschaftlern an, die sich von rassenbiologischen Kategorien distanzierten, die aber nun eine kulturelle Stigmatisierung betrieben.
Einflussreich wirkte das Projekt Tsiganologie an der Universität Gießen. Dort kritisierten Forscher wie Reimer Gronemeyer Sozialprogramme für Sinti und Roma, weil sie deren Freiheitsdrang widersprächen, Zitat: „Freilich ist die Beschäftigung mit dem Thema so reizvoll, weil am Eigensinn der Zigeuner die sozialpolitischen Ordnungsversuche immer wieder scheitern. Mit einer überraschenden Vitalität gelingt es dieser Gruppe, die Verschmelzung von Hilfe und Disziplinierung aufzubrechen und stets Orte aufzusuchen, in denen beharrlich Alternativen zum bürgerlichen Alltag realisiert werden.“
Sinti und Roma wurden damit zu antibürgerlichen Aussteigern stilisiert, die freiwillig das prekäre Leben am Rand der Gesellschaft suchen würden. Vertreter der Gießener Tsiganologie sahen auch die NS-Verfolgung nicht rassistisch, sondern ordnungspolitisch motiviert.

Sehr späte Aufarbeitung des Genozids

Erst sehr spät begann eine wirkliche Aufarbeitung des Genozids, die aber – so Jane Weiß – nicht aus der Forschung kam: „An dem Punkt muss man ganz deutlich sagen, aus der Wissenschaft selber kamen keine oder kaum kritische Ansätze in dieser Zeit, also in den Siebzigern. Da war das wirklich die Bürgerrechtsbewegung. Die haben ganz massiv kritisiert, wurden dafür auch massivst angegriffen von den Forschenden.“   
Die Bürgerrechtsbewegung der Roma entstand nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen der Sechzigerjahre. Schon 1956 hatte der Holocaust-Überlebende Vinzenz Rose den „Verband rassisch Verfolgter nichtjüdischen Glaubens“ gegründet. Es waren Bürgerrechtler, die immer wieder die Kontinuität der Forschung zur NS-Zeit anprangerten.
1980 traten Sinti in der KZ-Gedenkstätte Dachau in Hungerstreik, um unter anderem gegen die Gutachter-Tätigkeit früherer NS-Rassenforscher zu protestieren - und gegen die polizeiliche Verwendung von NS-Akten, die man immer noch zur Sondererfassung von Sinti und Roma nutzte.
Sichtlich geschwächt liegen einige der 12 Sinti, die sich im Hungerstreik befinden, am 10.4.1980 auf dem Gelände des ehemaligen Konzerntrationslagers Dachau auf Liegestühlen.
Sichtlich geschwächt: 1980 traten Sinti in der KZ-Gedenkstätte Dachau in Hungerstreik, um unter anderem gegen die Gutachter-Tätigkeit früherer NS-Rassenforscher zu protestieren.© picture-alliance / dpa / Frank Leonhardt
Der Sprecher der Hungerstreikenden, Romani Rose, erklärte damals: „Ich möchte, dass wenigstens meine Kinder, dass denen nicht rassistische Akten aus dem Dritten Reich später mal vorgehalten werden. Und dass wenigstens meinen Kindern in der Bundesrepublik Heimatrecht zugebilligt wird und nicht, wie es uns geschieht, geduldetes Gastrecht.“
1981 besetzten Aktivisten das Tübinger Universitätsarchiv, um die Freigabe der Akten der Rassenhygienischen Forschungsstelle aus der NS-Zeit zu erzwingen. Denn die NS-Forschungen wurden, zum Beispiel in den Sozialwissenschaften, der Kriminalistik und der Ethnologie als Forschungsmaterial zu Sinti und Roma weiter genutzt Erst in den Neunzigerjahren setzte ein echter Wandel in der Wissenschaft ein.
„Die historischen Forschungen zum Genozid würde ich auch als die bezeichnen, die erstmalig andere Perspektiven eröffnet haben, die tatsächlich eher positiv für die Minderheit waren ab den Neunzigern. Die haben die rassistische Grundlegung des Genozids gezeigt, die lange umstritten war, die haben diese Schuldumkehr abgewehrt, die betrieben wurde. Es hieß ja lange, Sinti und Roma waren selbst schuld an ihrer Verfolgung, das konnte durch historische Arbeiten gut widerlegt werden“, sagt Jane Weiß.

Begriff der Antiziganismus-Forschung umstritten

In den Neunzigerjahren begann die Zeit der Antiziganismus-Forschung. Der Begriff wurde in den 1920er-Jahren in der Sowjetunion entwickelt, als erstmals Sprache und Kultur der Roma gefördert wurden und Bücher und Zeitschriften in Romanes erscheinen konnten. Die Antiziganismus-Forschung untersucht gesellschaftliche Vorurteile und Rassismus gegen Sinti und Roma.
Aber es gibt auch Kritiker dieser Wissenschaftsrichtung wie die Rassismus-Forscherin Isidora Randjelovic: „Es gibt sehr, sehr viele gute Arbeiten, gerade die historischen finde ich bemerkenswert, und die haben gesellschaftlich auch sehr, sehr viel gemacht. Also dieser verleugnete Völkermord, da ist ein großer Verdienst neben der Bürgerrechtlerinnen-Bewegung. Aber jetzt sind wir an einem Punkt, denke ich, wo auch die Antiziganismus-Forschung sich über ihre Begrifflichkeiten wirklich ernsthaft Gedanken machen kann, aber – noch viel, viel wichtiger - über das Konzept von Rassismus.“
Der Begriff Antiziganismus ist umstritten, weil in ihm das diskriminierende Wort für Sinti und Roma steckt. Dieser Begriff war - seit Roma in das Byzantinische Reich eingewandert waren – als abwertende Fremdbezeichnung benutzt worden:
„Die Griechen haben diesen Namen den indischen Menschen gegeben, der Name war Aziganoi. Dieses Wort haben wir in verschiedenen Sprachen, Zigan, Zigeuner, Zingari. Die Bedeutung dieses Wortes war ‚schmutziger Mann‘“, erklärt Hristo Kyuchukov.

Forscher halten an abwertender Bezeichnung fest

Obwohl in Europa die Selbstbezeichnung von Sinti und Roma seit Jahrhunderten bekannt war, wurde der abwertende Begriff als Mittel der Ausgrenzung weiter benutzt. Deshalb halten Forscher auch heute an dem Wort Antiziganismus fest:
„Da ist die Argumentation der Antiziganismus-Forschung, dass die Verfolgung unter diesem rassistischen Begriff gelaufen ist und er deshalb genauer wäre, denn in den Quellen steht ja meistens nicht Sintize und Romnja, sondern eben der rassistische Begriff“, sagt Isidora Randjelovic. „Aber das N-Wort ist ja auch in Quellen benutzt worden, aber Sie würden niemals eine Wissenschaft Anti-N-Wissenschaft…, also das wäre der Wahnsinn, zum Glück.“
„Als der Begriff aufkam, war das tatsächlich eine sehr neue Perspektive. Auf einmal gab es ein Wort, das den spezifischen Rassismus gegen Sinti und Roma benennen kann, das in dieser zunächst wahrgenommenen Parallelität zu Antisemitismus einen gewissen Erklärungsaspekt hatte. Das hat mich schon fasziniert“, sagt Jane Weiß.
Heute verwendet Jane Weiß den Begriff allerdings nicht mehr.

Fokussierung auf Dominanzgesellschaft

Aber ein anderer Aspekt der Antiziganismus-Forschung ist für die Wissenschaftlerinnen viel problematischer: „Es gibt ja aus sehr prominenten Werken den Ausspruch: Die Antiziganismus-Forschung bedarf keiner Roma, weil es geht ja um die Dominanzgesellschaft. Das heißt, es geht um die eigenen Projektionen und Konstruktionen der anderen. Aber das ist meines Erachtens ein völlig falscher Zugang zu Rassismus, weil es ja tatsächlich historisch bis heute immer wieder Interventionen von den Menschen gibt, die rassifiziert wurden“, sagt Isidora Randjelovic.
„Ich meine, wir hätten als Kollektiv nicht überlebt – das waren Verfolgungen von Vogelfreiheit über Nationalsozialismus bis zu den Vertreibungen heute. Das auszulassen ist ein großer Fehler. Und diese Exklusion ist das Problem, das wiederum ist eine Tradition.“
Die Fixierung auf die Vorurteile der Mehrheit ist auch deshalb problematisch, meint Jane Weiß, weil damit indirekt Stereotype erneuert würden. Das zeige sich auch an gut gemeinten wissenschaftlichen Studien, die zur Verbesserung der prekären Lebenssituation von Sinti und Roma in Europa erstellt werden.

2005: EU-Kommission ruft Roma-Dekade aus

2005 rief die EU-Kommission eine Roma-Dekade aus und gab eine groß angelegte Studie zur Situation der Minderheit in Europa heraus. Dort heißt es unter anderem: „Roma-Frauen müssen sowohl im Kontext ihrer Geschlechterrolle wie auch als Mitglied ihrer Gesellschaft verstanden werden. Gemäß den traditionellen Strukturen der Roma-Familien geschieht die Geburt des ersten Kindes bei Roma-Frauen zu einem früheren Alter als bei deutschen Frauen.“
Die Studie schreibt der Minderheit pauschal eine kulturelle Eigenheit zu, die als das eigentliche Problem der Situation von Sinti und Roma diagnostiziert wird. Und nicht in erster Linie die katastrophale Entrechtung, die Roma in Teilen Europas bis heute erleben.
„Da haben wir das Motiv der Ethnisierung und Kulturalisierung von Problematiken, die oftmals überhöht dargestellt werden, was sich statistisch oder repräsentativ überhaupt nicht abbilden lässt“, erklärt Jane Weiß. „Wir finden ganz oft dieses Stereotyp der Frühverheiratung. Solche Argumentationslinien, die Problematiken in der Kultur selber festschreiben und damit die Kultur als unbeweglich und feststehend zum Beispiel begreifen.“
Dabei zeigt eine Studie der Agentur für Grundrechte der Europäischen Union von 2013, dass die Verheiratung von Minderjährigen nur bei zwei Prozent der Sinti und Roma in Europa praktiziert wird. Ähnlich sieht es beim Thema Analphabetismus aus.
„Es gipfelt in solchen Aussagen wie: Alle Roma-Frauen sind Analphabetinnen. Das ist tatsächlich ein Zitat, das Sie in der Studie von 2005 finden“, weiß Jane Weiß.
Während in der Studie der Agentur für Grundrechte eine Alphabetisierungsrate bei Roma-Frauen unter 24 Jahren von 89 Prozent festgestellt wurde.

EU-Initiative beförderte alte Vorurteile

Die EU-Initiative von 2005 mit der Verkündung einer Roma-Dekade zeigte zwar Anteilnahme, beförderte zugleich aber alte Vorurteile – etwa in Bezug auf eingewanderte Roma.
„Es gab plötzlich Schuldistanz, Schulabstinenz als Hauptthema in Bezug auf Romnja. Gleichzeitig wurde aber übersehen, dass die Kinder, über die gesprochen wird, keinen Aufenthalt haben, auf Duldung leben, im Heim leben. Also die Lebensbedingungen der Menschen wurden nicht in Betracht gezogen, aber die ganzen Vorurteile über Nichtbeschulbarkeit usw., die haben dann einen riesigen Raum bekommen“, sagt Isidora Randjelovic.
Statt vordringlich über eine Verbesserung der Lebensbedingungen nachzudenken – so Randjelovic - schickte man Roma-Eltern in Kindererziehungskurse.
Eine Veränderung brachte 2011 die von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ geförderte Studie, sagt Jane Weiß: „Diese Bildungsstudie von 2011, also Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma, ist erstmals einen anderen Weg gegangen. In den Sinti-und-Roma-Communities bezüglich Wissenschaft können wir im Grunde von einem Trauma sprechen.“    
Die Erfahrungen mit Wissenschaftlern aus der NS-Zeit, die mit vermeintlich guten Absichten Befragungen unter Sinti und Roma durchführten, in Wirklichkeit aber der Vernichtung zuarbeiteten, wirken bis heute
„Das ist kollektivgeschichtlich eingeschrieben“, sagt Jane Weiß.

Bildungsstudie 2011: Sinti befragen Sinti

Die Bildungsstudie von 2011 wurde auch deshalb von der Roma-Selbstorganisation RomnoKehr, einem Kulturzentrum in Mannheim, initiiert und geleitet. „Und es gab die Methode der Peer-to-Peer-Befragung, also Sinti haben Sinti befragt oder Roma. Es war klar, dass die Daten geschützt sind, dass niemand Zugang hat“, so Jane Weiß.
Die Garantie, die Daten anonym zu erfassen, war besonders deshalb wichtig, weil bis in die Neunzigerjahre Sinti und Roma in Deutschland polizeilich sondererfasst wurden. Und auch mit den Schulen verbinden sich für viele Familien bis heute traumatische Erfahrungen.
„Es gibt in den Familien die Erfahrung, dass die Kinder aus den Schulen in die Konzentrationslager deportiert wurden“, so Weiß weiter.
Einer ganzen Generation blieb der Schulbesuch in der NS-Zeit oftmals verwehrt. Und in der Nachkriegszeit wurden Kinder von Sinti und Roma überdurchschnittlich oft auf Sonderschulen geschickt. Auch diese Aspekte, so Jane Weiß, würden ignoriert, wenn über das Problem der überdurchschnittlich hohen Quote von Sinti und Roma ohne Schulabschluss gesprochen wird. Ebenso wie die Tatsache, dass viele Jugendliche aus der Minderheit in den Schulen immer wieder Rassismus erlebten.

Kaum Sinti und Roma unter Forschenden

Unter den Forschenden in der Wissenschaft ist der Anteil von Sinti und Roma bis heute marginal: „Es gibt sehr wenige Wissenschaftler*innen, die Sintize oder Romnja sind, das ist einfach Fakt“, sagt auch Isidora Randjelovic. „Wir haben bundesweit zwei bekannte Professorinnen, das sind Elizabeta Jonuz in Hannover und Jane Weiß hier in Berlin. Und dann gibt es noch einige wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und Lehrbeauftragte. Was wir haben, sind dann so manche Studien und Forschungsprojekte, wo Menschen involviert werden, aber nie in wirklich professioneller Hinsicht.“
„Es gibt aber durchaus eine kritische Wissensproduktion durch professionalisierte Autodidakten, die da schon etwas beitragen“, sagt Jane Weiß.
Als Autodidakt bezeichnet sich auch Merfin Demir. Er ist als Interviewer an Studien beteiligt und gibt Fortbildungen für junge Roma zu Themen wie Rassismus und Empowerment: „Tatsächlich ist es so, dass Sintize und Romnja weiterhin in einer Situation sind, in der sie eben nicht offen mit ihrer Identität umgehen können.“
Für Merfin Demir ist es deshalb wichtig, in der pädagogischen Arbeit Biografien von Sinti und Roma aus Kultur, Geschichte und Politik sichtbar zu machen – bis hin zu unbekannten Phänomen der Popkultur:
„Es gibt ganz viele Materialien zum Thema Comics. Marvel und DC, und zwar dort auch Sinti- und Roma-Charaktere. Eines der berühmtesten Beispiele ist tatsächlich Magneto, also der Mutant Magneto, der in der Verfilmung als jüdisch markiert ist. Aber wenn man sich die ursprünglichen Comics anschaut, er war tatsächlich ein Sinto.“

Archiv zur Kunst und Kultur von Sinti und Roma

Demir ist auch stellvertretender Vorsitzender des RomArchives, das online Materialien zu Kunst und Kultur von Sinti und Roma sammelt.
Allerdings geht es Demir um die Stärkung von Jugendlichen und nicht um Bekenntnisse zu einer bestimmten Kultur. Schulischen Romanes-Unterricht zum Beispiel, wie er in einer Hamburger Schule angeboten wird, lehnt er ab – denn er könnte für Schüler ein Zwangsouting als Roma zur Folge haben. Trotz der immer noch weit verbreiteten Angst, sich als Angehörige der Minderheit erkennen zu geben, hat sich etwas verändert, meint Jane Weiß - vor allem durch die Zuwanderung von Roma aus Osteuropa seit den Neunzigerjahren:
„Da hat sich schon die Community insgesamt verändert, ist diverser und lauter, finde ich, und machtvoller geworden.“
Anders als noch vor zehn Jahren, meint Jane Weiß, gibt es in der Forschung inzwischen einige Stimmen aus der Minderheit. Allerdings, so Isidora Randjelovic, sei die Bildungsbenachteiligung von Minderheiten - nicht nur von Sinti und Roma – immer noch so massiv, dass man kaum von einem Fortschritt sprechen könne. 
„Es hat sich schon geändert, aber eben nicht, weil es einen wirklichen Diskurs gegeben hat und es problematisiert wurde, sondern weil einzelne Menschen sich individuell diesen Platz erkämpft haben. Also nur, weil ich vielleicht einen Zugang habe, heißt das überhaupt nicht, dass sich irgendwas für Romnja ändert.“
Über Jahrzehnte waren es Angehörige der Minderheit selbst, die mit ihren kritischen Interventionen einen Wandel in der Forschung mitbewirkt haben und dazu beitrugen, den verschwiegenen Völkermord ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auch deshalb fordert Randjelovic nicht nur eine Verbesserung der Bildungszugänge für Minderheiten. Für notwendig hält sie auch die stärkere Einbeziehung von Bürgerrechtlern und Sozialarbeiterinnen in die universitäre Forschung.
„Das sind Menschen, die ein enormes Wissen haben, das auch zeitlich gewachsen ist. Und deshalb denke ich, dass wir einerseits mehr Qualifizierungszugänge schaffen müssen in die Akademie hinein, aber andererseits dieses marginalisierte Wissen wertschätzen müssen.“

Redakteurin: Jana Wuttke    
Regie: Friederike Wigger
Sprecherin: Annika Mauer
Ton: Andreas Stoffels

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