Diskriminierung zwingt zur Flucht
Unsere Sicht auf Sinti und Roma ist oft von Klischees geprägt. Die Filmemacherin Lidija Mirkovic dagegen hat mit einigen von ihnen unter einer Brücke in Belgrad gelebt. Es sei vor allem der gesellschaftliche Druck, der viele zum Auswandern bewegt, sagt sie.
Liane von Billerbeck: Beim Wort "Zigeuner" kommen fast nur Klischees, negative von den Dieben und Betrügern, und, falls positive, von deren herzschmerz-romantischer Musik. Dass die Wirklichkeit des Lebens der Sinti und Roma anders aussieht, hat die Filmemacherin Lidija Mirkovic gesehen und am eigenen Leib erfahren. Sie hat Wurzeln in Serbien, kam als Kind nach Deutschland, lebt und arbeitet hier, und hat für einen Film neun Monate mit Sinti und Roma unter einer Brücke in Belgrad zusammengelebt, den Ärmsten der Armen also, jenen Menschen, deren massenhafte Einwanderung mancher hierzulande jetzt fürchtet, denn seit gestern dürfen auch Rumänen und Bulgaren in den anderen Ländern der Europäischen Union arbeiten.
Lidija Mirkovic ist jetzt aus Düsseldorf zugeschaltet. Einen schönen guten Tag!
Lidija Mirkovic: Ja, guten Tag!
von Billerbeck: Wenn ich Sie Zigeunerin nenne, dann bin ich politisch inkorrekt, Sie indes fühlen sich nicht diskriminiert, sondern nennen sich auch so. Warum nicht?
Mirkovic: Hm, ja, also es gibt ethymologisch, soweit ich weiß, überhaupt keine Rechtfertigung, das Wort "Zigeuner" schlecht zu interpretieren. Ich würde auch niemanden Zigeuner nennen, der nicht Zigeuner genannt werden möchte. Für mich ist das Wort eine Art Heimat, also das ist das Wort, womit ich aufgewachsen bin und was für mich immer schon positiv besetzt war.
von Billerbeck: Wenige Tage, bevor das Recht auf Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren, dass sie sich jetzt auch in anderen Ländern um Arbeit bemühen können, in Kraft trat, da kam hierzulande von der CSU eine Debatte über eine befürchtete Armutszuwanderung und man lancierte ein Papier in die Öffentlichkeit unter dem Titel "Wer betrügt, der fliegt", und die Rede war darin vor allem von den Roma. Teilen Sie diese Befürchtungen?
Mirkovic: Also ich möchte Sie bitten, zu verstehen, dass ich so was nicht direkt kommentieren kann. Ich glaube, dass da die verschiedenen Institutionen und Organisationen wie der Zentralrat sicherlich mehr befugt sind, etwas dazu zu sagen.
von Billerbeck: Aber wie erleben Sie diese Debatte?
Sinti und Roma aus Spanien und Portugal denken nicht ans Auswandern
Mirkovic: Ich würde gerne einfach drauf hinweisen, dass Navi Pillay, die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, bereits schon in ihrem Bericht von 2011 darauf hingewiesen hat, dass in 17 europäischen Ländern Zigeuner verfolgt oder diskriminiert werden, und das ist ... diese Berichte, solche Berichte in der Art gibt es schon seit dem Mauerfall, die die Menschenrechtssituation in den verschiedenen Ländern dokumentieren.
Ich würde gerne zu bedenken geben, dass etwa Zigeuner aus Spanien und Portugal, die ja schon länger zur EU gehören und die unter ähnlichen ärmlichen Verhältnissen leben wie die Zigeuner in Osteuropa, dass diese beispielsweise nicht aus ihren Herkunftsländern auswandern. Und da muss man sich einfach fragen, warum das so ist.
von Billerbeck: Was ist da anders?
Mirkovic: Also ich denke, dass zu der schlechten ökonomischen Situation, in der Zigeuner oft leben, auch politische Spannungen hinzukommen müssen, damit die Menschen bereit sind, das Land zu verlassen. Ich glaube nicht, dass es alleine die ökonomischen Gründe sind, die die Menschen dazu bewegen, woanders eine neue Heimat zu suchen.
von Billerbeck: Meistens werden Roma ja als sehr arm wahrgenommen, als Menschen, die sich mit vielen Familienangehörigen in viel zu kleinen Wohnungen drängen. Was ist dran an diesem Eindruck?
Mirkovic: Also ich glaube, dass die Menschen, die der Gruppe der Zigeuner angehören, genauso vielfältig Leben wie Angehörige der Gruppe der Nicht-Zigeuner. Nur ist die Wahrnehmung in der Gesellschaft solche, dass der Fokus halt eben immer auf die sichtbaren Zigeuner gerichtet wird. Es hängt, glaube ich, auch damit zusammen hauptsächlich, dass Zigeuner keine eigenen Repräsentationsmedien haben wie Fernsehen, Zeitung oder Radio, um ein anderes, vielleicht ein vielfältigeres Bild von sich zu zeichnen, sodass das, was meistens in den Gesellschaften transportiert wird, ja von Nicht-Zigeunern formuliert wird.
von Billerbeck: Das heißt, wir nehmen Zigeuner oder Sinti und Roma nicht wahr, die ganz normal und bürgerlich leben, sondern nur die, die wir als Problemfälle empfinden?
Mirkovic: Ja, also es gibt wenig Berichte in Zeitungen oder im Fernsehen oder im Radio auch über Zigeuner, die als normaler Bestandteil, also integriert in der Gesellschaft, leben. Und wenn es solche gibt, dann ist das meistens in der Art des Gutgemeinten, so ähnlich wie in den 80er-Jahren irgendwie, diese Kampagne von der Gewerkschaft zum Thema "Fass meinen Kumpel nicht an", also wird halt eben ein netter Zigeuner dargestellt, der irgendwie auch einigermaßen sauber ist und Sachen sagt, die von ihm erwartet werden. Aber so eine Gemeinschaft zu zeigen, in der tatsächliches Zigeunerleben stattfindet, ohne Vorurteile, mit Kenntnissen dessen, was sich da abspielt – ich glaube, ich habe so was sehr selten gesehen.
von Billerbeck: Nun haben Sie monatelang mit Roma in einem Slum unter einer Brücke in Belgrad gelebt, haben dann auch einen Film gedreht. Wie haben Sie diese Monate erlebt? Das ist ja eine extreme Situation, in die Sie sich da begeben haben.
Mirkovic: Okay, welchen Aspekt möchten Sie denn gerne ansprechen? Also neun Monate ist eine lange Zeit, es ist sehr viel passiert.
von Billerbeck: Was isst man, wie verbringt man die Nacht beispielsweise?
Geheizt wird mit Plastikabfällen - mit gesundheitlichen Folgen
Mirkovic: Ja, also das war ein Slum, so wie man Slums aus der Dritten Welt kennt, das waren Hütten aus Abfällen, die die Menschen in den Containern der Stadt gefunden haben und sich daraus eine Behausung gebaut haben. Geschlafen hat man auf Matratzen oder auf irgendwelchen Betten, die man auf dem Sperrmüll gefunden hat. Geheizt wurde mit offenem Feuer in selbstgebauten Öfen. Da wurde natürlich auch drauf gekocht. Wasser gab es nicht, fließendes Wasser gab es nicht, das musste immer in Fünf-Liter-Kanistern von wo auch immer her hingetragen werden. Und geheizt wurde meistens mit Plastikabfällen oder Abfällen auch aus diesen Containern, was oft Kleidung, Schuhe und halt eben Kunststoff beinhaltete, was natürlich auch gesundheitliche Folgen für die Bewohner hat.
von Billerbeck: Nun kann man ja nicht einfach unter eine Brücke gehen und sagen, ich möchte jetzt hier mit euch leben und dann vielleicht einen Film drehen. Wie waren die Reaktionen auf Sie?
Mirkovic: Ich habe es so ähnlich gemacht, ja. Also ich bin wirklich da hingegangen, habe gesagt, guten Tag - allerdings kannte ich eine Dame schon seit zehn Jahren, die in diesem Slum wohnte, und habe dann die ersten sechs Monate mit der Dame auf dem Flohmarkt gearbeitet und bei ihr gelebt. Allerdings habe ich ... Also Ihre Information ist nicht ganz richtig, ich war zwölf Monate in einem Slum.
von Billerbeck: Noch länger?
Mirkovic: Ja, ja, insgesamt dann, ja, bis das Slum abgerissen worden ist.
von Billerbeck: Wie wurde dann auf Sie reagiert?
Mirkovic: Na ja, also die Tatsache, dass ich Zigeunerin bin, war wenig hilfreich, also weil ich von außen kam, zudem bin ich auch noch weißer als die anderen und mein Romanes ist außerordentlich beschränkt, sodass ich ungefähr dieses halbe Jahr gebraucht habe, um einigermaßen mich dort so bewegen zu können, dass ich auch filmen kann. Das war sehr, sehr schwierig, weil das Misstrauen gegenüber Außenstehenden, vor allen Dingen Menschen, die mit einer Kamera kommen, sehr groß ist.
Wenn Sie sich anschauen, was im Fernsehen, im Internet über Zigeuner gezeigt wird, dann ist das halt eben sehr schwierig, den Menschen glaubhaft zu versichern, dass man halt eben was anderes machen möchte und nicht wieder in diese Schublade sie reinstecken möchte, die sie alle ja schon kennen. Obwohl es ein Slum war, hatten wir natürlich Strom, ...
von Billerbeck: Natürlich sagen Sie, wieso?
Mirkovic: Ja, und die hatten alle einen Fernseher. Na ja, über uns verliefen die Schienen und es gab eine Straßenbeleuchtung, und da ...
von Billerbeck: Die wurde angezapft.
Mirkovic: Natürlich, klar, weil Sie können ja nicht den ganzen Tag im Dunkeln sitzen, also vor allen Dingen unter der Brücke ist es auch immer dunkel gewesen und Sie brauchten auch tagsüber Licht, um etwas zu sehen. Und abends ist es natürlich sehr langweilig. Und wir hatten, ich glaube, fast jede Hütte hat einen Fernseher gehabt.
von Billerbeck: Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es so einfach war, dann auch einen Film zu drehen, also glaubhaft zu machen, ich bin eine von den Guten, ich will euch zeigen, wie ihr wirklich lebt.
Mirkovic: Das war es ...
von Billerbeck: Wie ist Ihnen das gelungen?
Mirkovic: Das war es auch nicht, also wir hatten enorme Schwierigkeiten, also jeder Tag war Jagd auf Bilder, jeder Tag war auch, irgendwas zu stehlen, also wir haben nie ohne das Einverständnis der Leute gefilmt, aber wir mussten halt eben oft, besonders am Anfang, mit denen argumentieren, warum wir jetzt da sind. Wir wurden manchmal auch eingeladen, wenn es irgendwie ein Fest gab oder wenn jemand gestorben war zur Trauerzeremonie, aber es gab auch Situationen, die wir filmen wollten und wo die Leute dann dachten, hm, weiß ich nicht, will ich nicht, hm, vielleicht. Und da war halt eben fast jeden Tag dieses Abringen. Das wurde natürlich mit dem Ende immer weniger, da hieß es, ja, komm, also da wurden wir teilweise auch gar nicht wahrgenommen, aber am Anfang, also die ersten drei Monate aktiven Filmens, das war wirklich sehr, sehr schwierig, also außerordentlich schwierig.
Anstieg der politischen Rechten bedroht Sinti und Roma
von Billerbeck: Nun haben Sie erlebt, wie das Leben in so einem Slum ist, Sie haben erlebt, wie Roma da leben in Belgrad. Wenn Sie darüber nachdenken, was sich ändern muss – Sie sagten ja, Portugal, Spanien ist die politische Situation nicht so, dass Roma ihr Land verlassen müssen –, was muss sich denn ändern in der Europäischen Union, damit dieses Volk eben nicht mehr flüchtet und verfolgt wird in 17 Ländern?
Mirkovic: Also ich glaube, wenn ich da eine Lösung hätte, ...
von Billerbeck: ... hätten Sie wahrscheinlich den Nobelpreis.
Mirkovic: Ja, wollte ich gerade sagen, dann hätte ich wahrscheinlich den einen oder den anderen Preis einheimsen können. Ich sehe derzeit keine Lösung. Wir haben auf der einen Seite seit dem Mauerfall, da wirkt ein politischer Druck auf die Zigeunergemeinschaften in Osteuropa, was dazu führt, dass sehr viele Zigeuner auswandern oder in Europa herumwandern, mit der Folge, dass die traditionellen Bindungen innerhalb der Familie sich verändern. Die Menschen, die gemeinschaften lösen sich auf, Traditionen und Sitten verändern sich, ohne dass diese Menschen von der Mehrheitsgesellschaft und ihrem System aufgefangen werden können, sodass wir innerhalb der Zigeunergemeinschaften starke Veränderungen haben auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite haben wir einen für mich beängstigenden Anstieg der politischen Rechten, auch in Osteuropa, aber nicht nur. Und ich denke, auf lange Sicht ist der Antiziganismus der Nenner, auf den sich die politische Rechte mit der Mehrheitsgesellschaft irgendwann mal einigen könnte. Und das sind Perspektiven, die ich für mich persönlich und auch für meine Familie nicht besonders erfreulich finde, um es ganz charmant zu formulieren.
von Billerbeck: Beunruhigende Aussichten sozusagen durch die Filmemacherin Lidija Mirkovic, vielen Dank für das Gespräch!
Mirkovic: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.