Gejagt, entwurzelt, rassistisch erfasst
Erst 1982 erkannte die Bundesrepublik offiziell den nationalsozialistischen Massenmord an den Sinti und Roma an. Dieser Schritt musste erkämpft werden von einer kleinen, politisch aktiven Gruppe: Der Sinti und Roma-Bürgerrechtsbewegung.
"Zutritt für Landfahrer verboten!" Wen Ladenbesitzer und Campingclub-Chefs mit solchen Schildern meinten, war in den 60er und 70er-Jahren klar: Sinti sollten draußen bleiben.
"Und es wurden bis in die 80er-Jahre 14 Sinti erschossen bei Polizeikontrollen."
Razzien, die diese Minderheit regelmäßig ohne Anlass trafen, so Herbert Heuß, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Dessen Vorläufer-Organisationen protestierte dagegen, dass die im Nationalsozialismus verfolgten Sinti weiter kriminalisiert wurden.
Vinzenz Rose war gemeinsam mit seinem Bruder Oskar dem nationalsozialistischen Völkermord entkommen und gehörte zu den Aktivisten der ersten Stunde. Daniela Gress von der Forschungsstelle Antiziganismus der Uni Heidelberg erzählt über den Onkel und den Vater des späteren Zentralrats-Präsidenten Romani Rose:
"Die beiden haben schon Ende der vierziger Jahre versucht, staatsanwaltschaftliche Verfahren gegen NS-Täter anzustreben, aber diese Verfahren wurden schnell wieder eingestellt, und auch die Gründung eines ersten Vereins fand kaum öffentliches Gehör."
Mit Romani Rose ändert sich das. 1973 initiiert der damals 27-Jährige den Schweigemarsch zum Gedenken an den Heidelberger Sinto Anton Lehmann, der bei einer Polizei-Razzia erschossen worden war. Auf dem Campingplatz Großwelzheim bei Aschaffenburg besprüht Rose ein "Landfahrer"-Verbotsschild mit schwarzer Farbe. Im Oktober desselben Jahres führt der junge Aktivist die Kundgebung in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen mit an: "In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt", so das bittere Motto.
Das Lebensgefühl von Sinti und Roma in Deutschland beschreibt Rose auf der Gedenkkundgebung im ehemaligen KZ Dachau ein halbes Jahr später so:
"Gedemütigt, erniedrigt, verfolgt, diskriminiert. Wir sind Repressalien ausgesetzt von Behörden und von der Polizei. Und wir wurden nach '45 weiter offiziell bis 1970 rassistisch erfasst."
Die nationalsozialistische "Zigeunerpolizeistelle" München war 1951 schlicht in "Landfahrerzentrale" umbenannt worden. Dieser sollten laut LKA-Anweisung alle Polizeidienststellen Fingerabdrücke, Fotos und "Zigeunernamen" von Sinti übergeben, um – wie es hieß – das "Straßengesinde", wahlweise die "Zigeunerplage" zu bekämpfen. Die NS-Vergangenheit wurde nicht aufgearbeitet: Sinti hatten kaum eine Chance, für Ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten finanziell entschädigt zu werden. Was auch daran lag, dass die Gutachten für die Entschädigungsverfahren teilweise von ehemaligen Nazi-Funktionären verfasst wurden. Beamte, so Herbert Heuß,
"… die vorher im Reichssicherheitshauptamt die Deportation von Sinti und Roma organisiert hatten, in derselben Position, wie sie Eichmann für die Juden organisiert hat. Man stelle sich vor, Eichmann hätte nach 1945 in einer deutschen Polizeibehörde Gutachten abgeben können, warum er Juden deportiert hat. Unvorstellbar. Bei Sinti und Roma war das die Normalität."
Ein Hungersteik gegen Diskriminierung
Unter den zwölf Sinti, die im April 1980 gegen die weitere Diskriminierung auf der Grundlage der "rassediagnostischen" NS-Gutachten in den Hungerstreik treten, sind drei in Auschwitz Gefolterte und ein Zwangssterilisierter, außerdem der 1946 geborene Romani Rose. Unterstützt werden sie von einer Münchner Sozialarbeiterin. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern überlässt den Hungerstreikenden Räumlichkeiten in der Versöhnungskirche auf dem Gedenkstättengelände.
"Es wurde gefordert, die Akten des Reichssicherheitshauptamtes rauszugeben und auch für die Entschädigungsarbeit zur Verfügung zu stellen"
... erläutert Herbert Heuß. Außerdem verlangten die Sinti und Roma:
"Die Anerkennung des Völkermords, endlich die fortgesetzte Kriminalisierung durch die Polizeibehörden einzustellen, insbesondere in Bayern."
Bindeglied zwischen der Sinti-Minderheit und der vorurteilsbehafteten Mehrheitsgesellschaft war damals die Münchener Sozialarbeiterin Uta Horstmann. 1974 hatte sie angefangen, mit Sinti und Roma zu arbeiten, erzählt sie am Rande der Ausstellung im Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum. Dass die Sinti als "Landfahrer" bezeichnet wurden, keiner auf Augenhöhe mit ihnen redete und deshalb auch keiner etwas über sie erfuhr und wusste, war Mitte der 70er-Jahre normal im Münchner Sozialreferat, stellt Horstmann fest:
"Dass das eine ethnische Minderheit ist, das war überhaupt nicht im Bewusstsein."
Deren fortwährende Diskriminierung bekannt zu machen, dazu trug der spektakuläre Hungerstreik bei. Zum offiziellen Abschluss kam der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel von der SPD in die Versöhnungskirche und sagte den Sinti und Roma seine Unterstützung zu.
"Dann bekam das auch eine Öffentlichkeit, und mit der Gründung des Zentralrats und einem Empfang bei Helmut Schmidt damals als Bundeskanzler wurde dieser Völkermord auch anerkannt."
... so Herbert Heuß. Das war 1982. Im selben Jahr beschloss die Innenministerkonferenz trotz der Proteste, die Sondererfassung von Sinti und Roma beizubehalten, unter dem Kürzel "Zigeunername", später "HWAO" – häufig wechselnder Aufenthaltsort.
"Wir haben Fernschreiben von der Polizei vorliegen gehabt, wo es hieß, der Herr Soundso hat den und den PKW gefahren in den letzten zehn Jahren, er hat eben diese KZ-Nummer, 'Weiteres liegt nicht vor'. Das heißt, ein Mensch, der völlig unbescholten ist, wird von der Polizei regelmäßig kontrolliert als 'Zigeuner', und diese Form der Sondererfassung hat eine wirklich lang dauernde Form der Kriminalisierung verursacht, die in der Öffentlichkeit, in den Medien immer wieder reproduziert worden ist und mit der die Minderheit bis heute zu kämpfen hat."
Erst im vergangenen Jahr entschuldigte sich die Präsidentin des Bundesgerichtshofs für dessen rassistisches Grundsatzurteil 60 Jahre zuvor. Herbert Heuß vom Zentralrat blickt zurück:
"1956 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die Deportation von Sinti und Roma nach Polen von 1940 an nicht aus rassischen Gründen erfolgt sei, sondern aus Gründen der Kriminalprävention, weil Zigeunern ein 'Okkupationstrieb' eigen sei."
"Ungehemmter Ausbreitungsdrang" – selbst Schuld an der Verfolgung – kein Anspruch auf Entschädigung, so der Tenor des Grundsatzurteils. Es bewirkte, dass die soziale Lage der Gejagten und Entwurzelten auf Jahrzehnte prekär blieb. Die Wiederaufnahmeverfahren und die jüngste Entschuldigung für die Rechtsprechung im Geist der NS-Rasse-Ideologie – für viele deutsche Sinti und Roma kamen sie zu spät.