Sitzenbleiben ist eine "sinnlose Maßnahme"

Klaus-Jürgen Tillmann im Gespräch mit Gabi Wuttke |
Der Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann befürwortet die Absicht der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen, das Sitzenbleiben in Schulen abzuschaffen. Statt zu Bestrafen sollten Schulen schwache Schüler fördern.
Gabi Wuttke: Was ist eine Abitur-Vollkasko-Garantie? Wenn das Sitzenbleiben abgeschafft wird, sagt Josef Kraus, der Chef des Deutschen Lehrerverbandes, weil die neue rot-grüne Regierung in Niedersachsen genau das will, was in Hamburg bereits Praxis ist, und damit wieder mal die Konservativen auf die Palme treibt. Ganz klar gegen das Sitzenbleiben ist der Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann, der sich für die erste Pisa-Studie mit den Sitzenbleibern beschäftigt hat. Ich habe ihm den Vorwurf von Kraus entgegengehalten, er hätte ein idealisiertes Bild von Schülern.

Klaus-Jürgen Tillmann: Also das mit der Vollkaskoversicherung ist reine Polemik. Es geht um die Frage, wie man Schüler hin zu verschiedenen Abschlussprüfungen bringt, aber nicht um die Frage, Abschlussprüfungen auszusetzen. Das ist das eine, das Zweite, in Deutschland ist ein Verständnis von Schule, bei dem Tafel, Kreide, Zensuren und Sitzenbleiben sozusagen unverbrüchlich zusammengehören. Das haben auch viele Generationen so erlebt. Wenn man mal einen kleinen Blick nach außen nimmt, dann gibt es ganz, ganz viele Länder, in denen das Sitzenbleiben völlig unbekannt ist, und die mit der Schule hervorragend zurechtkommen, bestens bei Pisa abschneiden.

Wuttke: Also auch wieder die skandinavischen Länder?

Tillmann: Nicht nur, Kanada gehört dazu, Japan gehört dazu, nur eine Minderheit hat diese Regelform des Sitzenbleibens, wo die Schule sagt, du kommst nicht weiter.

Wuttke: Kraus sagt auch, 11,4 Millionen Schüler haben wir, 170.000 Sitzenbleiber gibt es, das sind 1,5 Prozent, und er fragt sich, warum die Aufregung. Ich frage Sie, wen trifft es denn in Deutschland vor allem?

Tillmann: Ja, man muss aber sich klarmachen, dass jeder Schüler ja jedes Jahr neu die Chance hat sitzenzubleiben, sodass man die Frage, wie viele Sitzenbleiber, oder wie viele sind denn davon betroffen, erst stellen kann am Ende der Sekundarstufe eins, meinetwegen in der 9. oder 10. Klasse. Und bei der Pisa-Studie, bei der ich ja auch mitgewirkt habe, haben wir festgestellt, dass dann die Zahlen bei ungefähr 20 bis 24 Prozent liegen.

Wuttke: Das ist allerdings eine Diskrepanz.

Tillmann: Ja, 20 bis 24 Prozent aller Schüler sind im Laufe ihrer Schullaufbahn mindestens einmal sitzengeblieben. In den letzten Jahren sind die Anteile gesunken – also aufs Jahr bezogen liegt das dann immer so zwischen 1,5 und 3 Prozent, und die Zahl, die der Herr Kraus nennt, die ist auch ein Stück geschönt. Wir haben zum Beispiel in Realschulen eine Sitzenbleiber-Quote von fünf Prozent pro Jahr. Also das ist von Bundesland und Schulform her auch immer noch unterschiedlich, und wir haben Schulformen und Gegenden, da geht es noch recht harsch zu.

Wuttke: Welche?

Tillmann: Wir haben relativ hohe Sitzenbleiber-Quoten in Schleswig-Holstein und Bayern, und die Realschule führt in allen Bundesländern das Feld an mit dem Anteil von Sitzenbleibern.

Wuttke: Was Sie auch festgestellt haben bei Ihrer Arbeit: Ein Viertel aller Sitzenbleiber sind 15-Jährige, also mitten in der Pubertät, der schwersten Zeit im Leben, die man sich zumindest bis dahin vorstellen kann. Ist es da, Herr Tillmann, nicht sowieso irgendwie unprofessionell, überhaupt die Leistungsstärke zu beurteilen, wenn die Jugendlichen da jenseits von Gut und Böse sind, um sich zu finden?

Tillmann: Richtig ist, dass wir massiv steigende Sitzenbleiber-Quoten in den Jahrgängen sechs, sieben und acht haben. Wir können ja auch mit allen empirischen Untersuchungen nachweisen, dass das Sitzenbleiben genau die Effekte, die es vorgibt, überhaupt nicht hat. Die Leistungen derer, die sitzenbleiben, werden nicht besser, die sozialen Bezüge für die Jugendlichen werden schwieriger, und das ganze kostet eine unglaubliche Menge Geld. Also es ist eine schlicht sinnlose Maßnahme, und das ist nicht nur meine Meinung, da können Sie quer durch die Erziehungswissenschaft gehen, es hat vor einem Jahr ein Gutachten der Bertelsmann-Stiftung gegeben, vom …

Wuttke: Eine Milliarde Euro pro Jahr.

Tillmann: Ja, es kostet eine Milliarde Euro pro Jahr, das macht man sich immer nicht klar, weil man geht so naiv davon aus, na, wenn einer sitzen bleibt, dann geht er eben in die Klasse drunter, da ist ja sowieso ein Lehrer und Klassenräume und Heizung ist auch da, das kostet nichts. Aber das ist falsch – den Schulen werden die Lehrer entsprechend der Zahl der Schüler zugewiesen, und wenn ein Schüler sitzen bleibt, dann bleibt er ein Jahr länger Schüler. Und wenn man das mal auf eine dreizügige Realschule mit einer Sitzenbleiber-Quote von vier Prozent hochrechnet, dann hat diese Schule 25 Schüler mehr, als sie hätte, wenn sie keinen Sitzenbleiber hätte. Und 25 Schüler mehr sind anderthalb Lehrerstellen.

Wuttke: Wie viel würde es denn kosten, Schüler so zu fördern, dass sie mithalten können, ohne von ihren Mitschülern verspottet zu werden?

Tillmann: Also ich plädiere ja seit längerem dafür, nicht, wenn man jetzt das Sitzenbleiben abschafft, wie die Niedersachsen es machen wollen, das Geld, das an Lehrerstellen frei wird, das jetzt nicht einzusparen, sondern es umzuwidmen in spezifische Fördermaßnahmen, dass man dann, wenn die sogenannten Blauen Briefe kommen, die wir alle kennen, zum Schulhalbjahr, dass man sagt, diese Schüler haben Probleme in den Hauptfächern, für die brauchen wir einen Förderplan, die brauchen spezifische Unterstützung, da gibt es möglicherweise für drei, vier Schüler einen Lehrer, der Nachmittagshilfen gibt. Es gibt auch Schulen, die an solchen Stellen mit Ferienkursen operieren, also da ist der Kreativität der Schulen keine Grenzen gesetzt, wenn man ihnen die Lehrerstundenzahlen lässt.

Wuttke: Warum glauben Sie, Herr Tillmann, dass wir das Sitzenbleiben in Deutschland überhaupt noch haben?

Tillmann: Erstens sind wir alle sehr dran gewohnt. Zweitens findet man ja, dass Leistung belohnt und schlechte Leistung bestraft werden muss, und man darf es auch nicht vergessen, das ist ein Instrument für Lehrer und Lehrerinnen, sich Schülern, mit denen sie Probleme haben, zu entledigen. Das muss man immer sehr vorsichtig sagen, aber es ist ein Teil einer selektiven Pädagogik. Das ist für Lehrer eine bestimmte Form von Instrument, mit der sie auch ganz gerne arbeiten.

Wuttke: Nun muss man aber zwei Sachen dazu sagen. Zum einen, die Lehrer führen nur das aus, was es in Deutschland gibt, und zum anderen hat ein Lehrer, der so denkt, kein Korrektiv.

Tillmann: Um Gottes willen, es sind lange nicht alle, es gibt viele, viele Lehrer, die sich auch engagiert gegen das Sitzenbleiben aussprechen. Da gibt es auch Forschungen drüber, also insbesondere Grundschullehrer, Grundschullehrerinnen halten überwiegend überhaupt nichts davon. Im Sekundarbereich sieht es ein Stück anders aus, es gibt, glaube ich, in vielen Lehrerkollegien relativ kontroverse Debatten über den Sinn und den Unsinn des Sitzenbleibens, und die erziehungswissenschaftlichen Analysen, die dann auch noch aufweisen, dass die Schüler, die sitzenbleiben, eben wenig dazu lernen, diese Analysen sind nicht in allen Lehrerzimmern sehr bekannt.

Wuttke: Wie kommt das?

Tillmann: Na ja, die erziehungswissenschaftliche Forschung dann auch nicht erwarten, dass alles immer rezipiert wird, aber wenn man jetzt eine offene politische Diskussion führt, dann muss man schon auch sagen, wen man untersucht, ob Schüler mit schwachen Leistungen, die man sitzen lässt, ob die zu besseren Ergebnissen kommen als Schüler mit schwachen Leistungen, die man trotzdem mitnimmt. Dann haben wir da mehrere internationale auch Untersuchungen, die eindeutig aufweisen: Wenn man Schüler trotz schwacher Leistungen mitnimmt, lernen sie in den Fächern, in denen sie bisher Probleme hatten, mehr, als wenn man sie sitzen lässt.

Wuttke: Sagt der Bildungsforscher Professor Klaus-Jürgen Tillmann im Deutschlandradio Kultur. Besten Dank dafür!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema