"In Trappeto bin ich durch Zufall gelandet. Ein Dorf, direkt am Meer, schön zum Baden, ruhig, wenig Tourismus, ganz nett, dachte ich. Bis ich durch die Gassen schlenderte und ständig auf Deutsch angesprochen wurde. Schnell stellte sich heraus, dass ganz viele Einwohner Trappetos mal in Solingen gearbeitet haben und viele Trappetesi heute noch dort leben. Eine ganz ungewöhnliche Städtefreundschaft, dachte ich und wollte mehr wissen. "
Trappeto-Solingen-Trappeto … und zurück
Viele Italiener, die nach Solingen eingewandert sind, stammen aus dem kleinen Ort Trappeto bei Palermo. Das Fischerdorf wurde mitten nach Solingen exportiert, mitsamt der Sprache, Kultur und Tradition.
In Solingen produzierten die Trappetesi Scheren, Messer und Klingen und waren bald voll integriert. Früher als halbseiden gefürchtet, sind die Sizilianer heute die Botschafter des "Dolce Vita". Viele Trappetesi sind nach Italien zurückgekehrt und haben ihre Erinnerungen an Deutschland mitgebracht. Andere machen sich gerade zum zweiten Mal auf nach Solingen - die Krise in Italien ist schuld daran.
Das Manuskript zur Sendung:
Filippo Bologna kommt einfach nicht voran. Er geht ein paar Schritte, stoppt, reckt den Kopf und zeigt mit dem Finger auf ein schmuckloses Wohnhaus. Hier, das war die erste Wohnung, die sie bezogen, damals, 1962, als er mit den Eltern und dem kleinen Bruder Federico nach Deutschland kam. Nach Solingen. Ein Zimmer, fünf mal drei Meter, Bett, Schrank, Kohleofen, ein Tisch, zwei Stühle. Im Stadtteil Ohligs. Weiter kommt er nicht. Mitten im Erzählen wird er unterbrochen.
"Das ist der Militello, darf ich mal vorstellen. Sein Vater war einer von den ersten Trappetesi, die hergekommen sind und er war auch schon in Trappeto, obwohl er ein Deutscher ist."
Gleich um die Ecke trifft Filippo Bologna den nächsten Landsmann und bleibt auf ein Schwätzchen stehen. Aber was heißt schon Landsmann. Filippo Bologna ist Italiener, genauer Sizilianer, noch genauer Trappetese, aus dem Dorf Trappeto also, und das liegt in der Nähe von Palermo. Und die Leute, die er zuhauf in den Straßen von Solingen-Ohligs trifft, kommen auch alle aus Trappeto.
Als Deutschland vor 60 Jahren ein Anwerbeabkommen mit Italien abschließt, verlassen viele Sizilianer ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit. Auch die Eltern von Filippo Bologna. Und so wie Familie Bologna machen es immer mehr. Irgendwann leben in Trappeto nur noch die Kinder und die Alten - und später die Rückkehrer. In Solingen-Ohligs hingegen formt sich die Dorfgemeinschaft neu.
Auf nach Solingen
1962 - Filippo war elf Jahre alt, sein kleiner Bruder zehn Jahre jünger - entscheidet der Vater, mit der Familie zum Arbeiten nach Deutschland zu gehen. Filippo hatte in Sizilien die Grundschule noch nicht beendet, als er in Solingen eingeschult wurde.
"Durch meinen Bruder konnte ich nicht jeden Tag die Schule besuchen, war ja nicht Pflicht. Dass die Ausländer in die Schule gehen, war ja freiwillig. Wo mein Vater und meine Mutter dieselbe Schicht gearbeitet haben. Mein Vater hatte drei Schichten, meine Mutter zwei Schichten. Da muss ich, wo die Frühschicht haben, auf meinen Bruder aufpassen, wo die Spätschicht habe ich auf meinen Bruder aufgepasst. Da waren drei Wochen, wo ich nicht in die Schule gehen konnte. Irgendwann haben die gesagt entweder kommste oder kommste gar nicht mehr."
Kurzum: Filippo Bologna macht in Solingen-Ohligs keinen Schulabschluss, er wird ihn später nachholen. In Sizilien.
Das Café Italia 90 liegt zentral am Ende der Fußgängerzone von Solingen-Ohligs, rechts ein Wohnblock aus den 70er-Jahren, gegenüber Blechgaragen, oben drauf ein grün-weiß-rot angemaltes Boot, Werbung für einen Pizza-Lieferservice, der nicht mehr existiert. Hier liegt der Treffpunkt der Italiener. Drinnen sitzen lauter Männer. Alte, die abgeschafft aussehen und am Tresen einen Espresso trinken, junge in Arbeitsklamotten und solche, die nichts zu tun haben und gerne arbeiten würden. Hinten spielen einige Karten und von dort plärrt auch der Fernseher, zu dem keiner hinguckt. Filippo Bologna kennt den Inhaber, aber oft kommt er nicht her. Dafür reicht seine Rente nicht.
Filippo Bologna hat fast sein Leben lang als Arbeiter in einer Solinger Fabrik gearbeitet. Und zwischendurch auch immer wieder als Landwirt in Trappeto, in Sizilien. Seine Frau und seine drei erwachsenen Töchter sind - genau wie er - sowohl hier als auch dort zuhause. In Trappeto hat die Familie ein kleines Häuschen, in Solingen-Ohligs eine Mietwohnung. So gesehen hat Filippo Bologna einiges erreicht im Leben.
Wer auf die Klingelschilder in Ohligs schaut, findet unter den Namen Krause, Schmitz und Weber die Namen Perlongo, Russo oder Gaetano. Die Autowerkstatt betreibt ein Italiener, der Gartenbauer ist Trappetese - selbstverständlich. Italienische Wortfetzen im Drogeriemarkt, im Supermarkt auf der Straße.
Filippo Bologna, geboren in Trappeto, 64 Jahre alt, weißes Haar, braucht lange, wenn er zum Einkaufen geht. Er kennt jeden hier und jeder kennt ihn. Er ist so etwas wie die Schaltzentrale zwischen dem sizilianischen Dorf Trappeto und den Solinger Trappetesi. Was immer in seinem Geburtsort passiert, Filippo Bologna ist informiert. Andiamo, sagt er, weiter geht's, er steuert auf die Pizzeria am Markt von Ohligs zu.
In der Pizzeria bestellt Filippo Bologna Arancini, Reisbällchen, die so heißen, weil ihre Form an eine Orange, arancia, erinnert. Eine Spezialität aus Sizilien. Gefüllt mit Käse, Spinat, Lachs oder Auberginen und goldgelb gebacken. Und weil Arancini Besteck als Beleidigung empfinden, wie der Pizzabäcker behauptet, gibt's weder Messer noch Gabel. Er serviert sie und verschwindet sofort in die Backstube, wo er mit weißen Handschuhen seine Reisbällchen formt, oben mit einer Spitze, dann erst sind sie schön. Gut gelaunt trotz des langen Arbeitstages.
Italienischer Abend im Industriemuseum
Einige Stunden später: Beim Italienischen Abend im Industriemuseum ist Filippo Bologna mit Händeschütteln beschäftigt. Es sind ganz viele gekommen, die er kennt, Italiener aus dem Stadtrat und dem Zuwanderer- und Integrationsrat und solche, die in der italienischen katholischen Mission eine Rolle spielen. Die Männer aus dem Café Italia 90, die Arbeiter und Rentner und alle, die er auf der Straße trifft, lassen sich nicht blicken. Eine andere Gesellschaft. Der Ohligser Musikverein spielt italienische Kammermusik.
Das Industriemuseum war früher eine Fabrik. Die Hendrichs Scherenschlägerei und Gesenkschmiede, gegründet 1886. Eine von vielen Fabriken in der Geschichte Solingens, der sogenannten Klingenstadt: Maschinenmesser und Mähwerke wurden hier produziert, die Küchenwaagen von Krups, der Taschenschirm Knirps und der Servierwagen Dinett und natürlich Messer, Scheren, Klingen.
Die Sizilianer sind in den 60er-Jahren nach Solingen gekommen, um zu arbeiten. Es war die Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders. Auch die Solinger Industrie schien sich unersättlich Arbeitskräfte einzuverleiben. Der erste aus Trappeto, der nach Solingen kam, war ein ehemaliger Zwangsarbeiter. Er hat in Gang gesetzt, was Historiker "Kettenwanderung" nennen. "Komm nach Deutschland, hier gibt es Arbeit." Ihm folgten der Schwager, der Bruder, die Schwester, der Neffe. Trappeto hat sich nach und nach geleert. Einer nach dem anderen tauschte den Ort am Meer für die Stadt im Bergischen.
"Arbeit gab es hier ohne Ende", erzählen die Sizilianer. "Die haben uns mit dem Lasso auf der Straße eingefangen." Und wer einen Arbeiter vermittelte, dem wurden 100 Mark in die Hand gedrückt. Die Wirtschaft brummte, hofierte die Arbeiter aus Italien und warb sie ab, nach dem Motto: "Was verdienen Sie? Ich zahle mehr." Obwohl anfangs keiner Deutsch sprach. Bleiben wollte keiner, erzählt Filippo Bologna.
"Alle waren so, nicht nur meine Eltern. Jeder, der nach Deutschland gekommen ist, machen wir zwei, drei Jahre, bisschen Geld sparen, die Wohnung fertigmachen, renovieren und mehr Land kaufen. Weil die waren alle Landwirte, die im Land gearbeitet haben. Die haben nur im Kopf gehabt, Land zu kaufen, damit sie Zitronen pflanzen können, Tomaten, Auberginen."
Heute ist die Industrie in Solingen fast verschwunden und die Landwirtschaft in Trappeto unrentabel. Filippo Bologna setzt sich auf eine Bank und hört dem italienischen Sänger Domenico Severino zu.
Geld verdienen, ein Haus in Sizilien bauen, Land kaufen - darum ging es den Trappetesi, die nach Solingen kamen. Hatten sie genügend Geld gespart, kehrten viele wieder zurück ins Dorf. So auch Familie Bologna. Filippo ist 14 Jahre alt, da stirbt die Großmutter und der Großvater vererbt sein Land. Filippos Vater zieht mit Frau und Kindern wieder nach Trappeto, übernimmt das Land und baut ein Haus. Filippo holt die Schule nach, lernt Werkzeugmacher und Elektroschweißer. Doch ein Leben in Sizilien, für immer, bleibt ein Traum, der einfach nicht in Erfüllung gehen will. Weil das Land die Familie nicht ernährt, ziehen die Eltern drei Jahre später wieder nach Solingen. Filippo macht die Ausbildung fertig und kommt hinterher. Jetzt ist er 18.
Arbeit in Solingen, Urlaub in Trappeto
"Weil da unten mit der Landwirtschaft nicht weitergekommen ist. Das ist klar, irgendwann hast du eine Grenze. Du kannst nicht leben auf einer Nuss, dann ist die Nuss weg. Das ist das Gleiche wie jetzt, die Landwirtschaft ist ganz kaputt in Sizilien. Wenn du auf einer Nuss läufst, irgendwann rutscht du weg. cammina sopra la noce."
Filippo Bologna lebt den Traum seiner Eltern weiter. Trappeto bleibt Sehnsuchtsort. Er arbeitet hart in der Fabrik, seinen Urlaub verbringt er in Trappeto. Wann immer es geht. 24 Stunden hinter dem Steuer reichen aus, dann ist er da. 1985 wird er krank, die Wechselschicht und die Nachtarbeit haben ihn mürbe gemacht, da versucht er es. Er will endgültig in Sizilien bleiben. Seine Töchter sind neun, vier und ein Jahr alt.
"Mein Vater hat natürlich Land gehabt und gesagt pass auf. Da arbeiten wir zusammen. Wenn die Jahre gut sind, kannst du fünf Familien ernähren, wenn das Jahr schlecht ist, lebt nicht mal die Familie davon. Und das erste Jahr ging gut und die zweite Jahr sehr schlecht. Dann hat mein Vater gesagt, für zwei ist das zu wenig. Und dann habe ich verschiedene Arbeiten gemacht, Zitronen pflücken oder anderen Leute zu helfen, Oliven pflücken, Weinlese hab ich auch gemacht."
Jede Arbeit hat er angenommen, um seine Familie zu ernähren. Doch mal gab es Arbeit, mal keine. Nach fünf Jahren gibt er auf, tauscht Trappeto wieder für Solingen ein und fängt wieder bei der alten Firma an. Die Jahre, die er in Italien gearbeitet hat, fehlen ihm bei der Rente. Heute muss er mit 829 Euro im Monat auskommen.
Umso schlimmer, dass er erst vor kurzem das gesamte Schlaf- und Wohnzimmer in seiner Wohnung in Trappeto auf den Müll werfen musste. Verschimmelt. Schöne Möbel waren das, teure Möbel. Ganz anders als die alltagstauglichen in seiner Solinger Mietwohnung. Auf die schönen hatte er lange gespart, um irgendwann zu genießen, wofür er geschuftet hat.
Es will einfach nicht aufgehen, das Leben als Pendler zwischen den Welten.
Umso schlimmer, dass er erst vor kurzem das gesamte Schlaf- und Wohnzimmer in seiner Wohnung in Trappeto auf den Müll werfen musste. Verschimmelt. Schöne Möbel waren das, teure Möbel. Ganz anders als die alltagstauglichen in seiner Solinger Mietwohnung. Auf die schönen hatte er lange gespart, um irgendwann zu genießen, wofür er geschuftet hat.
Es will einfach nicht aufgehen, das Leben als Pendler zwischen den Welten.
Die Hoffnung, in der Fremde Geld zu verdienen, um in der Heimat ein gutes Leben zu führen - irgendwann - ist verlockend. Damals wie heute.
Heute wie damals: keine Arbeit
Mariella Monticciolo ist erst vor kurzem mit ihrem Mann und den beiden Kindern von Trappeto nach Solingen ausgewandert. Der Grund ist heute derselbe wie vor 60 Jahren: Es gibt in Sizilien keine Arbeit. Jetzt sitzt die Frau mit dem blonden, kinnlangen Haar bei Epasa, einer Beratungsstelle für Italiener in Solingen, und schiebt die vielen Papiere und Formulare in ihre Tasche. Wenn sie erzählt, wechselt ihre Mimik zwischen Ernst und einem breiten Lächeln voller Zuversicht. Die ersten Schritte sind getan. Die Kinder gehen in die Schule und den Kindergarten, sie selbst besucht einen Sprachkurs. Arbeit haben sie und ihr Mann auch gefunden, in einer Besteckfabrik, Jobs für Ungelernte, so wie es Generationen von Trappetesi vor ihnen auch erging.
"Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich viel geweint. Nein, glücklich bin ich nicht. Ich kann die Sprache nicht, ich kenne die Straßen noch nicht, ich habe Angst, weil das Land so ganz anders ist als meins. Dann habe ich gesehen, dass der Deutsche jemand ist, der sich selbstbewusst gibt. Selbstbewusst und perfekt. Aber nein. Wir alle sind selbstsicher, wenn es Arbeit gibt und Gesundheit, wenn Geld da ist. Dann hast du alles. Dann bist du stark."
Das wahre Trappeto, sagt Mariella Monticciolo, das ist doch ohnehin hier in Solingen-Ohligs. Und dann lacht sie voller Optimismus.
Filippo Bologna ist gerade sonnengebräunt aus Trappeto zurückgekommen. Nichts tut ihm mehr weh, nicht der Rücken, nicht der Magen. Alles ist gut.
"Ich habe sechs Wochen in Sizilien gelebt, da habe ich mich wohl gefühlt. Nur hier haste Depressionen, weil das Wetter nicht mitmacht. Aber ob ich hier bin oder in Italien. Für mich ist das kein Unterschied."
Ganz stimmt das nicht. Filippo Bologna würde liebend gern für immer dort leben, aber seine Frau hängt an den Töchtern und die Töchter an Deutschland. Sie hat ja Recht, sagt er. Arztbesuche, Behördengänge, all das ist in Solingen viel einfacher als in Trappeto. Und ein bisschen Heimat ist ja auch in Solingen. Ganz besonders an Karfreitag.
Seit 30 Jahren: Der Kreuzweg in Solingen
Schon Tage zuvor überlegt Filippo Bologna, von welchen Plätzen aus er am besten die Prozession fotografieren kann. Der Karfreitag ist der Höhepunkt des Osterfestes für gläubige Sizilianer in Solingen. Dann veranstaltet die italienische katholische Mission die Via Crucis, den lebendigen Kreuzweg. Die Trappetesi inszenieren den Leidensweg mit Laiendarstellern, und einer schlüpft in die Rolle des Jesus. Egal bei welchem Wetter, es kann regnen oder hageln. Die Via Crucis fällt nie aus.
"Liebe Mitchristen, herzlich willkommen bei unserer Via Crucis. Wir weisen noch mal darauf hin, dass es heute nicht um ein Theaterstück geht. Wir begleiten unseren Herrn Jesus Christus. und versuchen uns so aufzustellen, dass möglichst viele die Möglichkeit haben, viel zu sehen."
Los geht es auf der Jahnkampfbahn, einem Sportplatz in Solingen. Die römischen Soldaten tragen über der Tunika eine dunkle Schürze, die mit einer Kordel festgebunden ist. Ihre Füße stecken in halb von Gamaschen verdeckten Sportschuhen, manchmal tun es auch Flipflops, auf dem Kopf ein Helm, in der Hand die Peitsche. Die Kostüme sind allesamt selbstgemacht. So kommt das Volk in Lumpen daher und die Wächter verschleiern sich mit roten und weißen Gewändern, die bis zum Boden reichen. Über dem Kopf eine Kapuze mit Sehschlitzen.
Hunderte von Menschen schauen der Prozession zu, inbrünstig-betend oder mit Skepsis im Blick, darunter auch Deutsche. Die deutschen Solinger kennen es nicht anders, als dass die Sizilianer zu Karfreitag durch die Straßen ziehen. Das tun sie seit 30 Jahren.
Die Via Crucis endet vor der Kirche, mitten auf dem Parkplatz eines Discounters. In Trappeto kann der Kreuzweg schon lange nicht mehr jedes Jahr stattfinden. Aus einem einfachen Grund: Es fehlen Darsteller. Offiziell leben 3200 Einwohner in dem Dorf, aber das glaubt keiner. Weil sich die Zahl kaum ändert, obwohl ab den 60er-Jahren zwei Drittel der Trappetesi ausgewandert sind. Im Solinger Stadtteil Ohligs leben allein 2000 Italiener. Da finden sich immer welche, die an Karfreitag gerne beim Kreuzweg mitspielen. Filippo Bologna schwenkt die Kamera, er fotografiert alles, er filmt und anschließend postet er die wichtigsten Szenen bei Facebook. So wissen die Trappetesi in Trappeto auch Bescheid.
Filippo Bologna ist Hobbyfotograf, er speichert unzählige Fotos auf seinem Rechner und die Super-8-Filme, die er früher gemacht hat, lagern irgendwo in Schachteln, Schränken und Schubladen. Vermutlich in Trappeto. Zum Sortieren hat er einfach keine Zeit.
Jetzt packt er den Fotoapparat weg und überquert die viel befahrene Weyerstraße, Zeit für einen Espresso bei Angela und Pietro. Die beiden haben die Kreuzigung Jesu durch das Fenster ihres Restaurants beobachtet. Mit einem Kopfschütteln wischt Angela Leto die Stehtische vor der Theke sauber. Nie im Leben würde sie jemand dazu bringen, bei der Prozession mitzulaufen. An Gott zu glauben, das geht auch ohne die italienische katholische Mission, findet sie.
Angela Leto hat sich schon schick gemacht für den Abend, wenn sie das Restaurant öffnet: kurzer Lederrock, Stiefel, T-Shirt mit Ausschnitt. Sie bedient die Gäste, ihr Mann Pietro Russo steht in der Küche, kocht die selbst gemachten Nudeln und schmeckt die Soße ab.
Vom Meer in die Fabrik
Die zwei haben sich in Trappeto kennengelernt. Er, ein gelernter Schiffsmechaniker, hatte Urlaub vom Militär und sie - damals 17 - verbrachte die Zeit am Meer, mit Nichtstun und mit ihren Freundinnen. Denn ihre Eltern hatten gerade beschlossen, es doch noch mal mit dem Leben in Sizilien zu probieren. Aber weder die Eltern, noch die beiden jung Verliebten fanden eine Arbeit, von der sie leben konnten. Also ging es zurück nach Solingen, dorthin, wo Angela Leto fast ihre gesamte Kindheit und Jugend verbracht hat. 18 Jahre hat ihr Mann Pietro hier in der Fabrik gearbeitet, oft zwölf Stunden am Tag und Doppelschichten. Das war wie Gefängnis, sagt er. Vorher auf dem Meer unterwegs, jetzt in die Fabrik.
"Aber drin war wie Gefängnis, 18 Jahre Gefängnis und ich war ein freier Mensch da unten, ich habe so viel Sonnenuntergänge gesehen, oben geguckt, direkt mit der Natur, hier in einer Fabrik versteckt, 18 Jahre, 12 Stunden am Tag gearbeitet, war richtig krass."
Heute gehört den beiden das Restaurant "Pasta fresca". Es läuft gut. Sie haben es geschafft. Aber Pietro Russo und Angela Leto sind Ausnahmen. Es waren meist erfahrene Gastronomen aus Italien, die Restaurants in Deutschland eröffnen konnten, und Eiskonditoren aus dem Veneto, die eine Gelateria aufmachten.
An den Wänden des Restaurants hängen zwischen kunstvoll drapierten Weinflaschen gerahmte Fotos von dem Trappeto, wie es früher einmal war. "Das mögen die deutschen Gäste", sagt Angela Leto. Sie macht gern Urlaub in Trappeto, liebt das Dorf und die Leute, aber für immer leben will sie dort nicht. Ihre Heimat ist Solingen UND Trappeto.
Ganz anders ihr Mann. Er nimmt ein Foto von der Wand. Hier, das war der Hafen, wie er früher war, als noch keiner Zement auf die Bootsanlegestellen geschüttet hatte. Wenn er sich an seine Kindheit in Trappeto erinnert, dann dreht er sich weg, damit keiner seine Tränen sieht.
"Gänsehaut. Wir haben gespielt, mit anderen Kindern gespielt, Wasser, im Sand, Steine alles, kleine Fische, kleine Krebse gefangen. Es war schön andere Zeit, war arme Zeit, Geld ist nicht da, aber Liebe."
Pietro Russo, schlank, helle Augen, dunkle, kurze Haare ist ein Italiener, wie ihn die Deutschen mögen: charmant, fröhlich und zuvorkommend. Den weiblichen Gästen macht er Komplimente, wenn er sich zu ihnen an den Tisch setzt.
Heute gelten Italiener als die guten Ausländer. Das war nicht immer so. Noch in den 50er- und 60er-Jahren wurden sie als Messerstecher und Frauenhelden stigmatisiert. Manch ein Gastwirt ließ Italiener gar nicht erst rein und manch ein Vermieter hieß zwar Haustiere willkommen, nicht aber Italiener. Das hat sich erst geändert, als sich die italienische Gastronomie in Deutschland ausgebreitet hat und Deutsche die Strände von Rimini, Jesolo und Riccione belagert haben. Dem Italiener wurde nun das Etikett des charmanten Ausländers verpasst, lebensfroh und temperamentvoll. Der Mythos vom Dolce Vita, vom süßen Leben. Doch mit dem Leben der italienischen Arbeitsmigranten hat das nichts zu tun. Sie sind als Arbeiter gekommen und sind Arbeiter geblieben. Wie Filippo Bologna. Mit einer tiefen Sehnsucht nach der Heimat. Nach Trappeto.
Der Sehnsuchtsort
Und da liegt es: ein Fischerdorf am Meer, blauer Himmel, Piazza, Madonna-Figur, Bänke vor dem Haus. Alte Männer schlendern zum Hafen und vertreiben sich die Zeit, bis wieder einer der wenigen Fischer anlegt.
Den umringen sie sofort, stecken die Köpfe zusammen und kommentieren seinen Fang. Oben im Ort verkaufen Bauern Eier, Honig, Ricotta aus dem offenen Kofferraum heraus, schaufeln schwarze Oliven in Tüten, wiegen kugelrunde lilafarbene Auberginen und zählen stachelige Kaktusfeigen. Das ist Trappeto, der Sehnsuchtsort.
"Seid ihr aus Deutschland? Ah, Solingen? Sono nato io. Sono nato a Lukasklinik a Ohligs."
"Solingen? Da bin ich geboren, in der St. Lukas-Klinik", der Fischverkäufer lacht, dass der dicke Bauch wackelt.
Nahezu jeder hat in Solingen gearbeitet, bei Olbo, Bremshey oder Kronprinz, und will ein paar Worte auf Deutsch loswerden. Gut verdient haben sie, erzählen die Sizilianer, "alles Solingen-Geld", sagt einer und schlenkert seinen Arm durch die Luft - die ganze Häuserzeile wurde gebaut mit dem Geld, das die Trappetesi in den Solinger Fabriken verdienten.
Gegen Abend ziehen Gerüche von Fisch und Fleisch durch die Straßen. Gegrillt wird draußen vor der Tür, man sitzt auf niedrigen Klappstühlchen, schaut, redet, wartet. Was von außen wie eine Garage wirkt, entpuppt sich als Wohnraum mit Kühlschrank, Bettsofa und Esstisch. Gekocht wird draußen.
"Ich liebe dieses Dorf"
Das Schild vor dem Restaurant am Meer ist gelb mit schwarzer Schrift, sieht genauso aus wie ein Ortsschild in Deutschland und darauf steht: Solingen Stadtteil Trappeto. Hier sitzt Rosalba Lo Duca am liebsten. Den Rücken zum Restaurant, die Augen aufs Meer. Rosalba Lo Duca, schlank, groß, lange glatte Haare, Sommersprossen, kommt nicht los von Trappeto.
Als junge Frau wollte sie nur eins: Hauptsache weg. Weg aus der Enge, weg von der Kontrolle. Sie studiert in Palermo Sprachen, zieht später nach Köln und lebt heute in England als italienischer Sprachcoach für Opernsänger. Doch kaum ist sie mit einem Auftrag fertig, nimmt sie den nächsten Flieger. Ihre gesamte freie Zeit verbringt sie in Trappeto.
"Es ist noch, wie die Leute hier leben, hat keine große touristische Fassade, es ist wirklich ein authentisches kleines sizilianisches Dorf an der Küste. Ich liebe dieses Dorf, das ist vielleicht meine Tragödie, es ist eine Sucht, dieser Golf hier, wenn ich hier sitze und mit Giovanni ein paar Wörter spreche, das ist für mich alles."
Für die Solinger Trappetesi ist Trappeto ein Sehnsuchtsort. Für die wenigen Einwohner, die dauerhaft hier sind, ist das Überleben damals und heute schwer. Über Solingen-Ohligs spricht im Zusammenhang mit Sehnsucht niemand. Das ist zum Arbeiten und Wohnen da. Aber dennoch kommen heute mehr Nachfahren der Trappetesi in Deutschland zur Welt als in Trappeto in Sizilien.