Sprecher*innen: Tonio Arango, Marian Funk, Birgit Paul, Maike Albath
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Dorothea Westphal
Geschichte als Inszenierung der Macht
29:32 Minuten
Die Mafia machte er in seinen Krimis zum Thema – erstmals in der italienischen Literatur. Und er ging der Ermordung des Politikers Aldo Moro nach. Doch Leonardo Sciascia schrieb auch wunderbare Romane über seine sizilianische Heimat.
"Sciascia war ein rätselhafter Mensch. Sehr pessimistisch, wortkarg, er sprach nur wenig", sagt Marco Carapezza, Professor für Sprachphilosophie an der Universität von Palermo. "Sciascia war im Wortsinn provinziell. Er ging gern in den circolo, den Dorf-Club, das amüsierte ihn, er hatte auch etwas für Tratsch übrig. Er war ein Mann vom Land. Aber im Unterschied zu einem gewöhnlichen Dorfbewohner besaß er diese ungeheure Intelligenz und die Fähigkeit, den Tratsch in eine Tiefenbohrung zu verwandeln."
Wortkarg und schüchtern
Sciascia, seit den 1960er-Jahren einer der einflussreichsten Schriftsteller Italiens, hat seine Herkunft nie vergessen. Marco Carapezza kannte ihn seit seiner Kindheit, denn Sciascia war ein enger Freund seines Vaters. Er erinnert sich:
"Er hatte einen starken sizilianischen Akzent und war furchtbar schüchtern. Wenn jemand Fremdes hinzukam, verstummte er. Aber er war auch voller Lebenslust."
Blick in die Untiefen der sizilianischen Provinz
Leonardo Sciascia aß gern und mochte Mahlzeiten in Gesellschaft. Doch er legte Wert auf angemessene Gespräche. Die typische palermitanische Geselligkeit, bei der alle durcheinander reden, war nichts für ihn. Sciascia kam eben aus dem Inneren der Insel, wo die Menschen verschlossener sind.
Racalmuto – so heißt der Ort, in dem er am 8. Januar 1921 geboren wurde. Seine Mutter stammte aus einer Handwerkerfamilie. Der Vater arbeitete als Angestellter in einer der Schwefelgruben. Sciascia kehrte immer wieder hierher zurück. Auf einem Grundstück seines Großvaters baute er eine Landarbeiterhütte zu einem Wohnhaus um. "La Noce" nannte er es.
Jeden Sommer schrieb Sciascia hier eines seiner Bücher. 1961 gelang ihm ein Coup. "Der Tag der Eule" heißt der Roman – ein Spiel mit dem Krimi-Genre.
Die Mafia im Roman
Marco Carapezza erklärt, was das Besondere daran war: "In den Büchern 'Der Tag der Eule' und 'Jedem das Seine' kommt die Mafia, so wie wir sie heute verstehen, zum ersten Mal in der italienischen Literatur vor. Das hat sofort etwas Zwingendes, denn sie erscheint gleichermaßen als anthropologisches Modell und als kriminelle Aktivität. Diese Form der Kriminalität wird hervorragend beschrieben."
Sciascia zeigt, wie Politik und organisierte Kriminalität ineinandergreifen. Damals bestritten sowohl die sizilianische Regierung als auch die Kirche die Existenz der Mafia. Das Buch stieß auf enorme Resonanz, machte ihn in ganz Italien berühmt, wurde verfilmt und in viele Sprachen übersetzt.
Die Palmenlinie
Über die Eigenarten Siziliens heißt es in dem Roman: "Vielleicht verwandelt sich ganz Italien allmählich in Sizilien … Die Wissenschaftler behaupten, die Palmengrenze, das heißt das für die Vegetation der Palme günstige Klima, rücke nach Norden vor. Soweit ich mich erinnere, jährlich fünfhundert Meter. Die Palmengrenze - ich würde eher sagen, die Kaffeegrenze, die Grenze des starken Kaffees, des schwarzen Kaffees. Sie klettert herauf wie die Quecksilbersäule eines Thermometers, diese Palmengrenze, diese Grenze des schwarzen Kaffees und der Skandale. Immer weiter herauf durch ganz Italien. Schon ist sie weit über Rom hinaus ..."
Sizilien als ein Modell für Klientelismus, schwache Institutionen, den Mangel an Rechtssicherheit. Von heute aus betrachtet, wirkt die Rede von der sich langsam ausdehnenden Palmengrenze prophetisch, denn die mafiöse Mentalität unterwandert längst ganze Staaten. Und obwohl Sciascia nach ein paar Jahren mit dem Roman "Der Tag der Eule" eher auf Kriegsfuß stand, weil er nicht als Mafiaexperte abgestempelt werden wollte, legte er weitere spitzfindige Varianten des Kriminalromans vor. Gleichzeitig arbeitete er an Essays und historischen Stoffen.
Geschichte als Betrug
Marco Carapezza sagt: "Sciascia betreibt Aufklärung, indem er auf Entlarvung zielt. Aber er besitzt nicht den Optimismus der französischen Aufklärer. Sciascia ging dann ja in die Politik, und auch da richtete er sich nach abstrakten Prinzipien, er arbeitete in der Kommission Aldo Moro mit, um die Wahrheit herauszufinden, aber er macht keine Verwaltungspolitik oder konkrete Vorschläge. Sondern er verteidigt die Legalität als einen universellen Wert." Unbestechlichkeit war für Sciascia das höchste Gut.
Einen seiner schönsten Romane siedelte Sciaschia in der Zeit zwischen 1782 und 1795 an. "Das ägyptische Konzil" erschien 1963. Alles, was er erzählt, ist tatsächlich geschehen. Es geht um einen genialen Fälscher, den Geistlichen Don Giuseppe Vella, der eine wertlose arabische Handschrift zu einem kostbaren Codex erklärt. Der zweite Held, ein Jurist namens Di Blasi, zettelt eine Rebellion an. Beide versuchen auf ihre Weise, den Zeitläuften eine andere Wendung zu geben.
Marco Carapezza erläutert: "In seinen Büchern 'Der Tod des Inquisitors' und 'Das ägyptische Konzil' erscheint die Geschichte als ein Betrug. Dahinter steht der Gedanke, dass die Geschichte nichts anderes als eine Inszenierung der Macht sei."
Der Fall Aldo Moro
Was die Absprachen zwischen den Parteien und den Einfluss des Geheimdienstes betraf, hatte Sciascia die richtige Intuition. Schließlich kannte er die Verhältnisse mittlerweile auch von innen: 1977 kam er als Parteiloser in den Stadtrat von Palermo, zwei Jahre später ins italienische Parlament. Terrorismus von rechts und von links erschütterte das Land. Am 16. März 1978 wurde der Christdemokrat Aldo Moro, der den historischen Kompromiss, die Zusammenarbeit mit dem PC, anstrebte, von den Roten Brigaden entführt. Noch bevor der parlamentarische Untersuchungsausschuss, dem Sciascia dann angehörte, den bis heute nicht endgültig geklärten Fall Moro neu bewertete, veröffentlichte der Schriftsteller den Band "Die Affäre Moro".
Sciascia zeigt, wie die Christdemokraten ihren Vorsitzenden im Stich ließen – eine Befreiung durch die Ordnungskräfte sei zu keiner Zeit angestrebt worden. Die Reaktionen waren ungeheuerlich, man beschuldigte ihn des "verbalen Terrorismus". Die Palmenlinie hatte sich längst bis nach Rom ausgedehnt.
Bis zu seinem Tod im Herbst 1989 blieb Sciascia ein nachdenklicher Zeuge der Gegenwart, ein Mann mit Prinzipien, der die Palmenlinie überall aufspürte. In einem Interview sagte er:
"Ich bin überzeugt davon, dass die Zivilisation nur aus der Unterdrückung entsteht. Damit meine ich nicht unbedingt politische Unterdrückung."
(DW)