Skandalisierung von politischen Ereignissen

Narrative des Niedergangs

11:01 Minuten
Merkel geht über die Bühne und hebt winkend den rechten Arm. Neben ihr Tobias Loose, Landesvorsitzender JU Schleswig-Holstein, und Paul Ziemiak, Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschland (JU).
Ein letzter Gruß vor dem endgültigen Abtritt Merkels – oder einfach nur ein Winken auf der Bühne? "Die Rede von der Kanzler-Dämmerung ist gleichsam die Begleitmusik der Kanzlerschaft", sagt Bernhards Pörksen. © dpa/Carsten Rehder
Bernhard Pörksen im Gespräch mit Jenny Genzmer und Tim Wiese |
Audio herunterladen
Schon wieder ein Skandal. Absturz, Ende, "ausgemerkelt". Wenn es nach den Medien geht, befindet sich Deutschlands Politik-Elite in einer Dauerkrise. Welche Mechanismen stecken dahinter?
Tim Wiese: Auf Angela Merkel wurden schon viele Abgesänge gesungen – bislang ohne Wirkung. Auch andere Politikerinnen und Politiker kennen das Phänomen. Warum singen Medien dieses Lied?
Bernhard Pörksen: Das gibt es seit dem Bestehen der Bundesrepublik. Auch auf Konrad Adenauer gab nach fantastischen Wahlergebnissen, zum Beispiel 1957, erste Abgesänge. Es gab Abgesänge auf Ludwig Erhard, natürlich auf Willy Brandt, dann auf Helmut Schmidt und ganz besonders über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg auf Helmut Kohl. Wenn wir die "Spiegel"-Titel der 16 Jahre Kanzler-Regentschaft noch einmal durchblättern, dann sehen wir "Kohl kaputt", "Ist Kohl noch zu retten?", "Der Minus Kanzler", "Was nun, Herr Kohl?", "Kohl soll weg – aber wie?" oder "Kohls Macht zerfällt".
Die Rede von der Kanzler-Dämmerung, die ist gleichsam die Begleitmusik der Kanzlerschaft, so kann man sagen. Deswegen würde ich ganz hart in die Welt hinein behaupten: Im Grunde genommen ist diese Rede von der Kanzler-Dämmerung oder aktuell der Merkel-Dämmerung analytisch gesprochen ziemlich wertloses Gerede. Das ist eigentlich eine Selbstauskunft der Opposition, die natürlich attackiert. Und es ist auch eine Selbstauskunft der Medien, die hin- und herschwanken zwischen Beschreibung, Gegenwartsinterpretation und dem Wunschdenken "es möge doch etwas passieren" und man könne eine Art Abschieds- und Ablösungskrimi schreiben.
Jenny Genzmer: Steht diese Skandalisierung im Fall Merkel bzw. der Regierungskoalition im Verhältnis zu den tatsächlichen Verfehlungen?
Bernhard Pörksen: Die Affäre um Hans-Georg Maaßen war ganz gewiss eine Art Lehrstück zur Beförderung von Politikverdrossenheit. Das kann man nicht schönreden. Es gibt einen massiven Streit in der Großen Koalition. Sowohl Teile der SPD wie auch Teile der CSU, insbesondere Horst Seehofer, agieren, als seien sie gleichsam Opposition, obwohl sie Teil der Regierung sind. Sie agieren zumindest teilweise in hohem Maße illoyal.
Es scheint mir wie ein Symptom der Erklärungshysterie. Man weiß nicht, was kommt und dann behauptet man die "Merkel-Dämmerung", den "Abschied", "es ist Zeit" und "es ist vorbei". Ohnehin, als Journalist hat man da ja gewisse Vorteile: Niemand kann einen auf diese apokalyptische Zukunftsprognose festlegen. Übermorgen werden neue Prognosen formuliert.
Bernhard Pörksen
"Wenn die Medien Politik nur als Kampf um Machterhalt beschreiben, dann ist das eine Einübung des zynischen Blicks", sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.© Bild: Peter-Andreas Hassiepen
Tim Wiese: Das ist nämlich genau meine Frage an dieser Stelle: Wenn wir mal auf die Halbwertszeit dieser Prognosen schauen. Ein Abgesang kommt wie ein Skandal, mit so einer Wucht, verebbt dann aber schnell wieder und niemand kümmert sich mehr darum. Das heißt, man wird eben nicht an dieser Prognose gemessen. Ist das Teil des Problems?
Bernhard Pörksen: Ja, ich würde sagen, das ist Teil des Problems und natürlich kann es sinnvoll sein, mal einen Abgesang zu formulieren im Sinne einer Stimmungsverdichtung. Aber hier, diese Form der Beschreibung, diese Form der Attacke, die zieht sich eigentlich durch. Ich glaube, es ist eine Form, auf aggressive Art und Weise mit Unsicherheit umzugehen und Scheingewissheiten zu postulieren, um dieses Deutungs- und Interpretationsvakuum: "Was geschieht im Moment? Was ist mit dem Aufstieg der AfD? Ist sie auf dem Weg zur Volkspartei?" Es gibt eine unklare europäische Perspektive, eine Wiederkehr des Nationalismus in vielen Ländern, eine Wiederkehr des Protektionismus der Regierung Trump – diese Unklarheit und dieses diffuse Gefühl "Man weiß noch nicht genau was los ist", das füllt man mit Scheingewissheiten.

"Negativismus ist die übergeordnete Nachrichtenideologie"

In einer Analyse von 1992 heißt es über Helmut Kohl: "Auch Helmut Kohl scheint nichts mehr und will nichts mehr gelingen. Was die Nation derzeit in Bonn erlebt, ist keine der üblichen politischen Krisen. Es ist eine Art Kanzlerdämmerung." Das wirkt doch so, als ob irgendwo in den Redaktionen eine Art Automat steht und da füttert man ein paar Symptome ein und es kommt immer "Untergang", "Kanzlerdämmerung" heraus. Man sieht eben auch: Negativismus ist so etwas wie die übergeordnete Nachrichtenideologie. Natürlich gibt es eine große Unruhe in der Gesellschaft, es gibt eine hektische Suche nach Schuldigen, es gibt eine Interpretationsunklarheit, aber die nun durch die Attacke auf Personen zu füllen, scheint mit Verlaub eine etwas infantile Form der politischen Berichterstattung zu sein.
Jenny Genzmer: Sie sagen, dass das viel damit zu tun hat, wie man versucht Wirklichkeit zu deuten. Wir hatten uns aber auch gefragt: Wie ist denn dieses Spannungsverhältnis eigentlich – haben die Abgesänge mit der tatsächlichen Politik von Akteuren zu tun? Oder hängen Sie doch eher zusammen mit Kommunikationsdynamiken in den Medien?
Bernhard Pörksen: Ich glaube, beides kommt vor. Wir haben das Übergewicht einer Kommunikationsdynamik in den Medien. Das ist aus meiner Sicht im Moment zu beobachten. Stichwort Erklärungshysterie. Und wir haben natürlich dann doch die realistische Einschätzung, es gehe nun womöglich sehr schnell zu Ende mit einer bestimmten parteipolitischen Konstellation. Ich will mal ein Beispiel nennen für einen vorschnellen Abgesang: Es gab einen Titel eines großen Nachrichtenmagazins zum Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft aus der WM.
Da wurde dann getitelt: "Es war einmal ein starkes Land" und das war ein Abgesang auf Deutschland, weil hier die deutsche Nationalmannschaft ein paarmal den Pfosten und nicht das Tor getroffen hat und man irgendwie früh ausscheiden musste. Die Rede war davon, dass Deutschland politisch, wirtschaftlich und fußballerisch gleichsam am Ende sei. Zitat: " Es wird dunkel bleiben erst einmal". Da sehen sie so eine Lust am apokalyptischen Denken, so eine Inszenierung des Untergangs und wir müssen natürlich konstatieren: Untergang verkauft sich gut.
Tim Wiese: Und dann ist es wahrscheinlich auch noch die Lust, Helden fallen zu sehen. Und damit sprechen Sie dann ökonomische Faktoren an. Die spielen anscheinend auch eine starke Rolle.
Bernhard Pörksen: Natürlich ist es nach wie vor ein mediendramaturgisch äußerst bedeutsames Kriterium, wie tief jemand fällt. Man kann über das Ausrufen eines Sturzes, über die Produktion von Skandalgeschrei natürlich um Aufmerksamkeit werben. Eine Wechselstimmung vielleicht auch herbeischreiben, die eine Geschichte interessanter macht. Mal ein historisches Beispiel: Als ein gewisser Oswald Spengler sein viele Pfund schweres Manuskript bei seinem Lektor einreichte, da hieß dieses Manuskript "Morphologie der Kulturen in Europa". Was machte dieser pfiffige Lektor? Der machte aus diesem sperrigen, unendlich faden Titel einen mit Weltwirkung: "Den Untergang des Abendlandes".

"Rückkehr des dystopischen Denkens"

Im Moment scheint mir die Situation so zu sein: Wir verstehen womöglich nicht genau, wie sich Geschichte im Moment entwickelt und wir haben eine Rückkehr des dystopischen Denkens. Wenn wir uns anschauen, wie wird über Demokratie nachgedacht: In den 90er Jahren war Demokratie der finale Triumph, das Ende der Geschichte wurde ausgerufen. Heute reden wir über den Zerfall der Demokratie, das Verschwinden der Demokratie, den Niedergang der Demokratie. Also eine Rückkehr des dystopischen Denkens als Reaktion auf ein "Ich weiß noch nicht".
Tim Wiese: Wie ist denn eigentlich die Wirkung auf das Publikum? Wenn wir davon ausgehen, dass nicht immer ein real existierendes Problem beschrieben wird – wir sprechen ja auch in anderen Zusammenhängen oft über Framing – wird da möglicherweise erst ein Problem geschaffen?
Bernhard Pörksen: Ja, das kann durchaus sein. Das lässt sich auch beobachten, Stichwort dystopisches Denken, dass Narrative des Niedergangs zunehmend in breitere Kreise diffundieren. Wenn wir täglich die Bild-Zeitung lesen, dann lesen wir ein Organ, das uns immer wieder mit der Stimmung des Kontrollverlusts versucht zu ängstigen. Als seien die Stadt Berlin oder auch Teile des Landes geprägt von wütenden Araber-Clans, von Ausländerkriminalität und ähnlichem mehr. Wenn wir dann die Zahlen anschauen: Wir haben die niedrigste Kriminalitätsrate seit 1992, ein Viertel der Flüchtlinge, die 2015 kamen, sind in Lohn und Brot. Dann sehen wir die Stimmung, die geschürt wird, und die Situation, so wie sie sich in den Zahlen ausdrückt, die passen eigentlich nicht zusammen.
Was macht es mit dem Publikum? Es lässt das Publikum resigniert, zum Teil wütend zurück. Es befördert aber auch Politikverdrossenheit. Das sehe ich als ein großes Problem. Insbesondere dann, wenn es um die Attacke auf "die Politiker" geht. Wenn sie Politik nur beschreiben als taktisches Spiel, als strategisches Vorgehen, als Kampf um Machterhalt, als Kampagne, persönlich motiviert, dann ist das im Grunde genommen eine Art Trainingsprogramm, eine Einübung des zynischen Blicks. Wir haben schon 1997 Studien gehabt in den USA, die das Ganze verhandelt haben unter dem Stichwort "Spiral of cynicism" – Zynismusspirale. Ich glaube, das ist tatsächlich eine Gefahr. Eine Einübung des Zynismus, indem man Politik nur als Machtspiel und als raffiniert strategische Kampagnen-Inszenierung und nicht auch als Ringen auch um die Sache darstellt und begreift.
Mehr zum Thema