Sklaven aus Europa

Rezensiert von Ulrich Baron |
Das Schicksal der Sklaverei konnte im 18. Jahrhundert auch Europäer treffen, die auf See in die Gewalt von Piraten gerieten. In "Weißes Gold" hat Giles Milton die Geschichte eines Schiffsjungen erzählt.
In der zweiten Julihälfte des Jahres 1625 erlebte die Südwestküste Englands eine schreckliche Heimsuchung. "Hässliche unmenschliche Gestalten" mit kahl geschorenen Köpfen und nackten Armen überfielen Fischerboote und Dörfer und verschleppten Männer, Frauen und Kinder sogar aus einer Pfarrkirche an der Mount's Bay im Süden Cornwalls heraus.

Großbritannien, das ein Vierteljahrhundert zuvor mit der Gründung der East India Company einen Grundstein für sein künftiges Kolonialreich gelegt hatte, war noch einmal selbst ins Visier einer fremden Macht geraten. An den Masten einer Armada von mehr als 20 schnellen Segelschiffen wehten die dunkelgrünen Totenkopfflaggen der muslimischen Korsaren aus dem Maghreb.

Der Fluch des Mittelmeers hatte sich aus den Piratennestern Nordafrikas in den Atlantik vorgewagt. Wertvollste Beute an den armen und kaum befestigten Küstenregionen waren deren Bewohner, doch die meisten Europäer fielen den Piraten auf hoher See zum Opfer. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden Hunderttausende als "Weißes Gold" auf die Sklavenmärkte Nordafrikas getrieben, brutal misshandelt und gefügig gemacht.

Wenigen gelang es, so wie Daniel Defoes Romanhelden Robinson Crusoe, aus eigener Kraft zu fliehen. Viele durften sich glücklich schätzen, wenn sie nach jahrelangen Leiden freigekauft wurden. Einer von ihnen hieß Thomas Pellow. Er fiel 1715 in die Hände der Korsaren. Erst nach 23 Jahre währender Sklaverei hat er in seiner Heimat niederschreiben können, was er am Hofe des Sultans von Meknes, Mulai Ismail, erlebt hat.

Der britische Journalist und Sachbuchautor Giles Milton hat Pellows erstmals 1740 gedruckten Bericht mit einer Fülle anderer zeitgenössischer Quellen zu einer Geschichte weißer Sklaven in Afrika verknüpft, die weit über das Einzelschicksal seines Gewährsmanns hinausgeht. Boten Pellows Innenansichten von den Sklavenpferchen und Palästen des tyrannischen Sultans seinen Zeitgenossen exotischen Nervenkitzel, so akzentuiert Miltons Buch zwei Aspekte, die im Rückblick auf die imperiale Erfolgsgeschichte Europas oft übersehen werden.

Zum einen konnten die aufstrebenden Mächte des Westens sich ihres Sieges lange gar nicht sicher sein. Zum anderen waren schon viele Europäer als Sklaven zugrunde gegangen, bevor sich Westeuropa dem arabomuslimischen Sklavenhandel mit Afrikanern anschloss.

Giles Milton leitet seine Darstellung mit einer Szene ein, die das Bild eines die Meere beherrschenden Britanniens in sein Gegenteil verkehrt. An einem Sommertag des Jahres 1716 werden Mulai Ismail "52 barfüßige, erschöpfte Engländer" präsentiert, die man vom Hafen Salé bis nach Meknes durch die Hitze Nordafrikas getrieben hat:

"Ihre Geschichte und die Berichte über das Schicksal vieler weiterer Leidensgenossen lösten in ihrem Heimatland Empörung und Entsetzen aus, und ihr Schicksal zeigte, dass die britische Regierung und ihre Kriegsmarine in diesem Konflikt vollkommen machtlos waren. Die Verschleppung dieser Männer war alles andere als ein ungewöhnliches Ereignis: Seit mehr als einem Jahrhundert zerstörten der Menschenraub und der florierende Handel mit Sklaven aus Europa und den nordamerikanischen Kolonien Familien und kosteten Unschuldige das Leben."

Diese Empörung hat Europas Mächte nicht gehindert, selbst Millionen versklavter Afrikaner über den Atlantik zu schicken, doch Verbrechen lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen, ohne den Opfern weiteres Unrecht zuzufügen.

Der Mann, der am 15. Oktober 1738 in der Abenddämmerung von den Einwohnern seines Geburtsortes Penryn willkommen geheißen wurde, hatte nach Jahrzehnten des Leidens und der Demütigungen am Ende Glück gehabt, doch er war ein anderer geworden. Giles Milton macht spürbar, was bloße Chroniken nicht zu fassen vermögen – wie lang nämlich 23 Jahre in Gefangenschaft sind:

"Und dann stand Thomas Pellow endlich seinen Eltern gegenüber, die mittlerweile fünfzig waren. Sie erkannten ihren Sohn zunächst nicht. Die Jahre in der Berberei hatten ihn vollkommen verändert, und er hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Jungen, den sie im Jahr 1715 zum letzten Mal gesehen hatten."

Dem späten Wiedersehen sollte eine noch spätere Revanche folgen. Im Jahre 1816 schossen 18 britische Kriegsschiffe die Festung Algier sturmreif und befreiten die 1642 Sklaven, die damals noch in der Stadt lebten.

Das Kommando führte der Vizeadmiral der britischen Mittelmeerflotte Lord Exmouth, den seine Freunde und Verwandten in Cornwall als Sir Edward Pellew kannten. Er war ein entfernter Verwandter jenes Thomas Pellow, dessen Geschichte gezeigt hat, was diese Befreiung bedeutete.


Giles Milton: Weißes Gold
aus dem Englischen von Stefan Gebauer,
Theiss Verlag, Stuttgart 2010