"Ein cooles, schmutziges Geheimnis"
Als Skunk Anansie in den 90er-Jahren den Durchbruch schafften, unterschieden sie sich völlig vom herrschenden Britpop-Hype ihrer Heimat England. Noch immer ignorieren Frontfrau Skin und ihre Band mit hartem Sound und politischen Texten den musikalischen Zeitgeist.
"Zum ersten Mal starten wir ein Album mit einem reinen Elektro-Song, 'Love Somebody Else'. Wir haben damit immer schon herumgespielt, zu allererst bei 'Charlie Big Potatoe', der mit einem Drum-&-Bass-Groove anfängt, aber auf diesem Album ist es sehr viel deutlicher , da hast Du zum Beispiel auch Songs wie "Death to the Lovers"- sehr elektronisch."
Elektro, das ist die neue Zutat zum Skunk Anansie Sound. Der pure Rocksound ist dahin - Keine 90erNostalgie bei Sängerin Skin, Gitarrist Ace, Schlagzeuger Mark Richardson und Bassist Cass. Wichtiger ist es, am Puls der Zeit zu bleiben erzählt Ace.
"Jedes Mal, wenn wir eine neue Platte machen geht es um das Hier und Jetzt, frische Klänge, modern zu sein und es auch wirklich zu fühlen."
Anarchytecture wird möglicherweise als das Dance-Album von Skunk Anansie in die Popgeschichte eingehen. Elektronische Beats und Sphären sorgen bei etwa der Hälfte der Songs für einen poppigeren, clubigeren Klang. Sie peilen nicht mehr die Indie-Rock-Disco an, sondern Clubs. Allerdings die von der Sorte, in der zu düsteren Sounds getanzt wird. Erstmals haben die vier ein Album nicht selbst oder mitproduziert, sondern in die Hände von Produzent Tom Dalgety gelegt. Sie wollten einen Blick von außen erzählt Ace.
"Er bringt eine Menge Jugendlichkeit rein, Tom hat mit Royal Blood gearbeitet, die explodieren gerade, also mit wirklich jungen Leuten. Ich brauch das manchmal, ich mach das schon so lange und frage mich, bin ich noch in Berührung mit dem was angesagt ist. Es ist gut mit jemanden zusammen zu arbeiten, der sagt was cool ist und was nicht, jemand der mit jungen Bands zu tun hat."
Das Chaos steht vor der Tür
Einfach nicht im eigenen Saft schmoren und nicht stehen bleiben wollen, das sind die zwei Triebfedern von "Anarchytecture". Ihr furioses Punk-Appeal haben sie sich darauf bewahrt. Auch die typischen SkunkAnansie Spannungswechsel von eruptiver Klangwucht zu sehr intimen, hochemotionalen Passagen in den Songs sind geblieben. Trotz Skins meisterhaftem Falsettgesang fehlt aber das ehemals Schrille, das unbedingt Unangepasste – weniger komplex und verstörend ist die Musik.
Aber der sozialkritische und politische Blick ist noch so scharf wie eh und je, wie schon der Albumtitel andeutet. Das Gegensatzpaar von chaotischer Anarchie und klar strukturierter Architektur sind darin verschmolzen. Das Wortspiel beschreibe perfekt den Zustand in einer eigentlich geordneten Welt zu leben, die aber jederzeit, zum Beispiel im Privaten durch eine Trennung oder im Öffentlichen Raum durch Terror in sich zusammenfallen kann, so empfindet es Sängerin Skin.
"Wenn Du Pläne machst, kann jederzeit irgendetwas passieren und das lässt alles platzen. Und in vielerlei Hinsicht fühlt sich das an, wie gerade in Europa unterwegs zu sein, in Paris in London. Du musst zur Schule gehen, zur Arbeit, du musst einkaufen, du nimmst den Bus, die U-Bahn. Und jetzt gibt es diese Spannung, dass jederzeit Chaos ausbrechen kann und es fühlt sich sehr real an."
Die Wut darüber, dass der Westen, die USA und England mit ihrer kriegerischen Außenpolitik den Nährboden für den Extremismus gelegt haben, der uns heute bedroht, entlädt sich im militärisch angehauchten Song "We are The Flames".
Englands Problem mit Rockmusik
"Wir kämpfen gegen eine Ideologie nicht gegen ein Land. Diese extremistische Ideologie, diese Leute sind überall. Bomben werfen hat auch beim ersten Mal nichts gebracht, es hat nicht geholfen und wir lernen nichts, das ist zum Verzweifeln!"
Skunk Anansie bringen auf Anarchytecture das aktuelle europäische Lebensgefühl auf den Punkt. Auch ohne Hits, die einen schlagartig in den Bann ziehen, ist es ein überzeugendes Rock-Album. Wer den Songs Zeit lässt sich zu entfalten, entdeckt in den zuerst etwas schlichter scheinenden und geradeheraus rockenden Songs viele musikalisch interessant ausgearbeitete Untiefen. In der britischen Heimat war die Reaktion darauf bisher allerdings mäßig. Skunk Anansie falle heute durch das Raster der Hype-Machinerie, die immer das frisches Blut junger Bands brauche, sagt Skin. Und England habe ein Problem mit richtiger Rockmusik.
"Wir bekommen überhaupt keine Resonanz im Radio, in den Mainstream-Medien in England. Dort sind wir ein cooles, schmutziges Geheimnis."